Hamburg. HSV kehrt mit einem bislang einmaligen Konzept in den Trainingsalltag zurück. Der Versuch einer neuen Normalität des Fußballs.

Dieter Hecking grinste wie ein kleiner Junge, dem man seinen verloren geglaubten Ball zurückgegeben hatte. Es war 13.23 Uhr, als der Trainer des HSV am Donnerstag mit seiner Mannschaft in den Alltag zurückkehrte. Hecking war der Erste, der über den frisch gemähten Rasen des Trainingsplatzes im Volkspark lief und die rund 15 Medienvertreter begrüßte, die das Geschehen für 25 Minuten im Sicherheitsabstand beobachten durften.

„Tach zusammen“, rief Hecking. „Schön, dass alle gesund sind.“ Nachdem der Cheftrainer seine 23 Spieler zu einer Ansprache versammelt hatte, lief auch Michael Mutzel mit einem Lächeln im Gesicht zurück in sein Büro.

„Es fühlt sich wieder ein Stück nach Normalität an“, sagte der Sportdirektor und verschwand über die Stadiontreppe. Normalität. Man hat dieses Wort oft gehört in den vergangenen Wochen, wenn Trainer, Spieler oder Manager von einer möglichen Rückkehr der 36 deutschen Proficlubs in den Spiel- und Trainingsbetrieb gesprochen haben.

Das Experiment des HSV und des Fußballs

Seit Mittwoch steht nun fest, dass die Deutsche Fußball Liga (DFL) die aufgrund der Corona-Pandemie unterbrochene Saison der beiden Bundesligen noch bis Ende Juni beenden wird. Und seit Donnerstag dürfen sich dafür auch die Clubs wieder in der gesamten Mannschaftsstärke auf die Restsaison vorbereiten, die am Sonnabend in einer Woche mit dem 26. Spieltag fortgesetzt wird.

Wer am Donnerstag das erste Mannschaftstraining des HSV im Volkspark verfolgt hat, der merkte allerdings sehr schnell, dass der neue Alltag im deutschen Profifußball mit einer Normalität nicht viel zu tun hat. Das Trainingsgelände im Volkspark? Weitläufig abgesperrt. Die wenigen Fans, die einen Blick auf die Mannschaft werfen wollten? Von Ordnern abgewiesen. Die Spieler, die normalerweise nach den Einheiten von Autogrammjägern belagert werden? Isoliert.

Die Normalität, wie man sie im Fußball bislang kannte, wird es so schnell nicht mehr geben. Es ist ein bislang einmaliges Experiment, dass die Protagonisten des Profifußballs in den kommenden sechs Wochen erleben werden. Man könnte auch sagen: aushalten müssen. „Nichts ist so wie vorher“, sagte HSV-Trainer Hecking, als er nur wenige Minuten nach dem ersten richtigen Mannschaftstraining auf dem Podium des HSV-Presseraums saß. Allerdings ohne die Presse. Die war dem Trainer virtuell über den Onlinedienst Zoom zugeschaltet. Auch das gehört zur neuen Normalität des Profifußballs.

Gyamerah fällt mehrere Wochen aus

Zumindest die Fragen hatten wieder ein wenig mit dem Alltag eines Cheftrainers zu tun. So erklärte Hecking, dass er gleich zum Start der Restsaison auf Jan Gyamerah verzichten muss. Der Rechtsverteidiger hat sich bereits vor drei Tagen beim Kleingruppentraining eine Muskelverletzung am Hüftbeuger zugezogen und fällt für zwei bis drei Wochen aus.

Auch Verteidiger Timo Letschert und Stürmer Martin Harnik fehlten am Donnerstag mit muskulären Problemen. Sie sollen zum ersten Spiel nach der Pause am Sonntag in einer Woche bei Greu­ther Fürth (13.30 Uhr/live in der Konferenz bei Sky Sports News HD) wieder dabei sein. Es sind die ganz normalen Personalien, über die ein Trainer während einer Pressekonferenz eben so spricht.

Physio Zacharias Flore trägt eine Maske.
Physio Zacharias Flore trägt eine Maske. © Witters

Am Freitag wird Hecking und seinen Fußballern aber wieder die neue Normalität vor Augen geführt. Oder genauer gesagt: in den Rachen gedrückt. Dann müssen sich die HSV-Profis und ihre Betreuer, die im Trainingsalltag mit der Mannschaft arbeiten, erneut reihenweise auf das Coronavirus testen lassen. Es ist bereits der dritte Test, den die Mannschaftsärzte Götz Welsch und Wolfgang Schillings innerhalb weniger Tage mit dem Team durchführen. Und es wird nicht der letzte bleiben.

Zweimal pro Woche werden die Fußballer bis zum letzten Spieltag am 27./28. Juni noch auf Covid-19 untersucht. Und spätestens ab Montag muss sich der HSV komplett abschotten. Dann begibt sich der Club, so wie von der DFL vorgesehen, in ein siebentägiges Quarantäne-Trainingslager. Möglich, dass die Hamburger dafür ein Quartier außerhalb der Stadt beziehen.

Lesen Sie auch:

Generealabrechnung der HSV-Ultras

Es ist diese Art des Laborexperiments, die bei weiten Teilen der Gesellschaft auf große Ablehnung gestoßen ist. Politiker kritisieren die Sonderbehandlung des Fußballs, auch das Abendblatt erreichen fast täglich Zuschriften, in denen Leser ihr Unverständnis über den Neustart der Bundesliga zum Ausdruck bringen. Und die Fans, insbesondere die Ultragruppen, erneuern ihre Generalkritik an den Geisterspielen.

„Der allergrößte Teil unserer Gesellschaft handelt verantwortlich und schränkt sich selbst seit mehreren Wochen massiv ein, parallel dazu setzt der Profifußball in Form von DFB und DFL alles daran, den Geldfluss am Laufen zu halten und sich und sein offensichtlich krankes System am Leben zu halten“, schrieb die größte Ultragruppe des HSV, die Castaways, am Donnerstag auf ihrer Facebookseite.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Facebook, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

System bedarf einer dringenden Kurskorrektur

Dieter Hecking kann mit diesen Meinungen dagegen nicht viel anfangen. „Wie wir mit dieser Krise in Deutschland bislang umgegangen sind, ist außergewöhnlich. Es ist aber auch typisch deutsch, dass sich die kritischen Fragen jetzt schon wieder mehren“, sagte der HSV-Trainer über die ablehnende Haltung vieler Menschen gegenüber dem DFL-Konzept. 51 Seiten lang ist das Dokument der Taskforce Sportmedizin/Sonderspielbetrieb, das in den kommenden 53 Tagen bis zum 30. Juni den Alltag der 36 Proficlubs begleiten wird.

In diesem medizinischen Konzept ist zu lesen von „Zonierungen“, „Durchgriffsrechten“ oder „dynamischer Personal-Bedarfsplanung“. Begriffe, die in der Fachsprache des Fußballs bislang nicht gerade zum Alltag gehörten. Die aber sehr klangvoll dokumentieren, was in den kommenden Wochen das tägliche Leben der Sportler bestimmen wird. Und das alles, um ein System zu retten, das einer dringenden Kurskorrektur bedarf.

St. Paulis Präsident Oke Göttlich, gleichzeitig Mitglied im DFL-Präsidium, hatte bereits am Mittwoch eine zeitnahe Reform eingefordert. „Allen muss klar sein, dass dieser Re-Start auch der unbedingte Anstoß einer Debatte über die Neuausrichtung des systematisch aus dem Ruder gelaufenen Profifußballs sein muss“, sagte Göttlich. „Spiele ohne Fans bieten in allen Facetten ein gruseliges Bild, was wir alle im puren Marktglauben aus diesem Spiel gemacht haben.“

Den Verantwortlichen ist klar, dass auch nach dem jüngsten Videoskandal um Hertha-BSC-Stürmer Salomon Kalou in den kommenden Wochen nicht viel passieren darf, was das Experiment gefährdet. „Uns ist bewusst, dass wir unter Beobachtung stehen“, sagt HSV-Coach Hecking.

Und auch DFL-Geschäftsführer Christian Seifert sprach am Donnerstag ein Machtwort. „Jedem in der Liga muss klar sein, dass wir auf Bewährung spielen“, sagte der 50-Jährige am Nachmittag bei der Vorstellung des Konzepts für den Saison-Neustart. „Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er seiner Verantwortung gerecht wird. Die Umsetzung des Konzepts muss bei jedem Verein Chefsache sein.“

Hecking plant Geisterspiele schon im Training

Zuletzt hatte es auch Warnungen von Sportmedizinern gegeben, die zumindest zu denken geben sollten. „Ein Sportler sollte sich schon Gedanken darüber machen, dass eine Infektion das Karriereende sein kann“, sagte etwa Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) der ARD-„Sportschau“. Das klare Ziel der DFL mit ihrem Konzept und den häufigen Testungen ist es daher, die Spieler mit Infektionen noch vor dem Start des Quarantäne-Trainingslagers zu isolieren.

Eine weitere Herausforderung für die Clubs wird die hohe Belastung bis Ende Juni sein. Neun Spiele stehen für den HSV innerhalb von sechs Wochen auf dem Plan. Das letzte Saisonspiel gegen den SV Sandhausen ist auf den 28. Juni terminiert. Zwei Tage bevor das Geschäftsjahr endet und bei vielen Spielern die Verträge auslaufen. Ob diese dann bei einer möglichen Relegation dabei sein können, muss noch geklärt werden.

Kurze Vorbereitung eine Herausforderung für den HSV

Klar ist in jedem Fall, dass zwei Spieltage unter der Woche ausgetragen werden. Neun Tage haben die Hamburger jetzt noch Zeit, sich auf diesen Rhythmus vorzubereiten. „Natürlich wäre ein längere Phase der Vorbereitung wünschenswert. Aber die Spieler starten nicht bei null“, sagte Hecking, nachdem seine Spieler am Donnerstag das erste Mal wieder Trainingsübungen mit Zweikämpfen bestreiten konnten.

Schon am Sonnabend wird sich der HSV im Volksparkstadion auf die neue Normalität vorbereiten. Dann lässt Hecking mit seinem Kader ein „elf gegen elf“ spielen. Schließlich geht es auch darum, die Mannschaft auf die ungewohnte Atmosphäre vor leeren Tribünen einzustellen.

Auch für Hecking sind die Geisterspiele trotz seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Profifußball völlig neu. „Das kenne ich nur von meinen Söhnen aus der Kreisliga“, sagt Hecking und lacht. Der Trainer weiß, dass das Experiment für alle Beteiligten in den kommenden Wochen eine große Herausforderung ist.

Er weiß aber auch, dass dieser neue Alltag für eine lange Zeit die neue Normalität der Fußballwelt sein wird.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden