Geesthacht. Knapp 100.000 Euro kosten die rund 900 Tests. Bleibt die Frage: Ist der ganze Aufwand gerechtfertigt? Ein Ortsbesuch.
Der Ort, an dem sich die Zukunft der Hamburger Fußballclubs HSV und FC St. Pauli mitentscheidet, liegt 44 Kilometer vom Volksparkstadion und 37 vom Millerntor entfernt. Die Lauenburger Straße, eine Nebenstraße der viel befahrenen Berliner Straße in Geesthacht, südöstlich von Hamburg. Hier, gegenüber von Edeka Lippert, sitzt der Laborverband LADR. In der etwas sperrigen Langform: Die Laborärztliche Arbeitsgemeinschaft für Diagnostik und Rationalisierung.
Hinter der Hausnummer 67, einem Zweckbau, der mehrfach in den vergangenen Jahren erweitert wurde, wird seit Donnerstag in die Praxis umgesetzt, was die Deutsche Fußball-Liga (DFL) zehn Tage zuvor nur theoretisch zu Papier gebracht hatte: Das 41 Seiten starke Dokument („Taskforce Sportmedizin/Sonderspielbetrieb im Profifußball“), das detailliert darlegt, wie der deutsche Fußball die Coronakrise meistern will. In einem Wort (durch): Testungen. In zwei Wörtern (durch): viele Testungen. „Die Laboruntersuchungen sind nur ein Teil des unter der Leitung von Herrn Dr. Tim Meyer erstellten medizinischen Konzeptes für die DFL“, sagt Prof. Jan Kramer.
Der 45 Jahre alte Geschäftsführer des Familienbetriebs sitzt in seinem Büro am großen Besprechungstisch, bietet einen Kaffee an und nimmt seine Schutzmaske vorsichtig ab. „Wir urteilen als medizinische Labore nicht darüber, ob es richtig oder falsch ist, diese Testungen zu veranlassen“, sagt er. „Das ist eine politische Entscheidung.“
Wie der HSV seine Spieler auf Corona testet
Diese Testungen, so hatte es die DFL auf Empfehlung von DFB-Chefmediziner Prof. Tim Meyer entschieden, werden seit diesem Donnerstag in ganz Deutschland für alle 36 Proficlubs von fünf Laborverbünden durchgeführt: Die Regionallabore Synlab in Leverkusen, Dr. Wisplinghoff in Köln, das Labor Berlin sowie die beiden Lavorverbünde Sonic Healthcare und eben das LADR in Hamburg/Geesthacht. Welche Clubs ihre Spieler von welchen Laboren testen, will die DFL auf Nachfrage nicht beantworten. Allerdings hatte das Abendblatt erfahren, dass HSV und St. Pauli ihre Proben ins LADR schicken.
Der Anfang wurde am Donnerstagnachmittag und am Freitag gemacht. Die Mannschaftsärzte von beiden Vereinen machten bei sämtlichen Spielern und Betreuern einen Abstrich, der anschließend mit dem zertifizierten Fahrdienst Intermed ins Labor gebracht wurde. Das gesamte Prozedere dauerte mehrere Stunden, weil die Spieler einzeln zum Mannschaftsarzt gebeten wurden. „Der tiefe Rachenhinterwandabstrich muss fachlich gut durchgeführt sein, sonst ist der Test wertlos“, erklärt Prof. Kramer.
Genug Corona-Tests für HSV vorhanden
Der Facharzt für Innere Medizin und für Laboratoriumsmedizin ist Fußballfan. Vor allem aber ist er: Mediziner. „Eines ist mir ganz wichtig: Zu jeder Zeit müssen für uns als Fachärzte andere medizinische Untersuchungen, wie zum Beispiel Proben für Patienten oder von Mitgliedern des medizinischen Gesundheitssystems priorisiert werden können“, sagt der Geesthachter.
Kramer kennt natürlich die Diskussionen an den virtuellen Stammtischen: Wie kann es sein, dass sich die Milliardenbranche Fußball diese Testungen erkauft? Dass es in Deutschland aber nicht genügend Tests für Krankenhäuser und Kitas gibt? Der zweifache Familienvater schüttelt den Kopf. „Es soll und wird keine Verschlechterung der medizinischen Versorgungslage eintreten“, sagt er. „Die Kapazitäten sind aktuell ausreichend.“
40 Corona-Tests an einem Tag beim HSV
Im Schrank steht ein Foto von Laborgründer Siegfried Kramer, Jan Kramers Großvater. Am 31. Mai 1945 hatte Opa Kramer das Familienunternehmen gegründet, das in diesem Jahr 75-jähriges Bestehen feiert und mittlerweile mehr als 3200 Beschäftigte hat. Neben dem Schwarz-Weiß-Bild steht ein gerahmtes Foto von Jan Kramers Sohn im Deutschland-Trikot. „Momentan skatet er aber eher“, sagt der Professor und reicht eine der zahlreichen Statistiken, die auf seinem Besprechungstisch liegen.
Zu sehen ist die wöchentliche Entwicklung der Testanforderungen und der Kapazitäten seit Beginn der Coronakrise in Deutschland. Deutlich wird, dass – nach einem Engpass vor vier Wochen – in der vergangenen Woche gerade einmal auf die Hälfte der Testkapazitäten zurückgegriffen werden musste. Vergangene Woche wurden im LADR 8000 Analysen durchgeführt, die aktuelle Kapazität liege bei 17.000 Tests in der Woche. „Wir sind ständig dabei, die Kapazität zu erweitern“, sagt Kramer. „In der Hochzeit der Pandemie haben wir allein in einem unserer LADR-Labore rund 11.000 Tests in der Woche gemacht.“ Deutschlandweit sei man bei mehr als 100.000 Analysen angekommen – pro Tag.
Die Zahl der Testungen der Fußballclubs scheint dagegen übersichtlich. Sowohl vom HSV als auch vom FC St. Pauli wurden am Donnerstag und Freitag jeweils zwischen 40 und 50 Abstriche gemacht. Montag und Dienstag wird noch mal getestet. Der Hintergrund ist, dass alle Spieler und Betreuer nicht nur regelmäßig überprüft werden sollen, sobald der Spielbetrieb wieder erlaubt wird, sondern auch vor der Rückkehr ins Mannschaftstraining soll und muss nach den neuen DFL-Hygieneregularien getestet werden.
Das Problem: Die Fußballclubs hatten gehofft, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am Donnerstag bekannt geben würde, dass die Mannschaften von Montag an wieder „normal“ trainieren dürften. Dürfen sie aber nicht. Noch nicht. „Für den 6. Mai erhoffen wir uns eine positive Entscheidung für die Fortsetzung des Spielbetriebs. Die positiven Signale der Sportministerkonferenz und, nach einigen Anpassungen unseres Konzepts, auch des Bundesarbeitsministeriums geben uns dafür Hoffnung“, sagt St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann dem Abendblatt.
Drei Coronafälle beim 1. FC Köln
Ob sich diese Hoffnung bereits am Freitagabend zerstörte, bleibt abzuwarten. Kurz nachdem RB Leipzig bekannt gab, ab Dienstag wieder mit dem Mannschaftstraining beginnen zu wollen, sorgte der 1. FC Köln für einen Paukenschlag. Zwei Spieler und ein Physiotherapeut wurden bei den Analysen durch das Labor Dr. Wisplinghoff positiv getestet. Dies bestätigte der FC in einer Pressemitteilung – ohne dabei aber Namen zu nennen.
Die drei Betroffenen, die keine Symptome zeigten, müssten nun in eine 14-tägige Quarantäne. Der Kölner Trainingsbetrieb könne aber weiter aufrechterhalten werden. Auch DFB-Arzt Meyer kommt in dem Kommuniqué zu Wort: „Wir sehen jetzt im Alltag, dass unser Konzept frühzeitig Risiken erkennt und reduziert“, sagt der Chefmediziner.
Hier hat das DFL-Konzept eine Schwäche
Dabei war die Kernidee von Meyers Konzept, dass sich durch die Hygienemaßnahmen und die Tests gar kein Spieler erst ansteckt. Die DFL hatte ihr Projekt nach Kritik des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) in der vergangenen Woche sogar weiter angepasst. Nun sollen auch Familienangehörige der Profis getestet werden.
Der größte Kritikpunkt konnte aber schon vor den Köln-Fällen nicht behoben werden. Denn noch immer ist nicht für alle Proficlubs gleichermaßen geklärt, ob nur der einzelne Spieler oder doch die ganze Mannschaft in Quarantäne muss, sollte es wie beim FC trotz aller Vorsichts- und Hygienemaßnahmen einen positiven Fall geben.
Sollte es beim HSV oder beim FC St. Pauli einen Coronafall geben, dürfte Prof. Kramer als Erster darüber erfahren. Er wäre dann derjenige, der parallel das Hamburger Gesundheitsamt und in Abstimmung mit den Clubs und den Spielern die Mannschaftsärzte informiert.
Der LADR-Chef bittet zum Rundgang durch das Labor, in dem in den kommenden Wochen voraussichtlich jeweils 900 HSV- und St.-Pauli-Proben untersucht werden. Vielleicht auch mehr. Rund 100 Euro soll jede Testung kosten, wobei nicht die Clubs, sondern die DFL die Rechnung begleichen wird.
Wie die Corona-Tests funktionieren
Die Augen von Prof. Kramer fangen an zu glänzen, wenn man ihn fragt, wie ein sogenannter PCR-Test funktioniert. Die trockenen Tupfer, die das Labor von den Clubs bekommen würde, müssten zunächst in eine Lösung überführt werden. „Wir nennen das einrühren“, erklärt er – und zeigt auf eine Mitarbeiterin, die genau diesen Arbeitsschritt durchführt. „In dieser Lösung löst sich der Viruspartikel, der vermeintlich in der Probe drin gewesen ist.
Anschließend wird das Ganze in die medizinische Molekularbiologie überführt. Dort wird das Virus, salopp formuliert, gesprengt. Ziel sei es, an das Erbgut des Virus ranzukommen. Kramer öffnet eine Tür und steht vor dem Cobas 8800. 650.000 Euro ist der Listenpreis dieser Maschine, die sich das Labor coronabedingt vor wenigen Wochen anschaffen musste. „Es folgt die Umschreibung in DNA und dann die Vervielfältigung virusspezifischer Genabschnitte zu deren Direktnachweis mittels der Polymerase Kettenreaktion, kurz: PCR“, sagt Kramer.
Das Verfahren würde zwischen vier und sechs Stunden dauern. „Jeder Befund wird noch einmal fachärztlich überprüft und kommentiert“, sagt der Ärztliche Leiter, der im Optimalfall aber keinen einzigen St.-Pauli- oder HSV-Befund kommentieren muss.
2,5 Millionen für 25.000 DFL-Tests
Der Aufwand wird aber auch ohne positive Befunde immens sein. Insgesamt sollen 25.000 DFL-Testungen durchgeführt werden. Die erwarteten Gesamtkosten: rund 2,5 Millionen Euro.
„Anders als man annehmen könnte, gehören wir nicht zu den Coronagewinnern“, sagt Prof. Kramer. Der Verdacht, dass die Labore durch die Krise nun in Geld schwimmen würden, sei falsch. „Durch die Coronapandemie sind Aufträge in der sonstigen medizinischen Analytik stark zurückgegangen.“
Um die Zukunft seines Familienunternehmens mache er sich aber trotz eines Rückgangs bis zu 70 Prozent und mehrerer Mitarbeiter in Kurzarbeit keine Sorgen. Und um die Zukunft des Fußballs? Die sei ja nicht in seinen Händen, sagt Prof. Kramer freundlich beim Abschied. Aber in seinen Reagenzgläsern.