Hamburg. Zwei Trainer entlassen, zwei Vorstände gefeuert, Top-Spieler kaltgestellt, chaotische Transferpolitik, falsche Spieltaktik – und ein Jungprofi, der betrunken einen Unfall am Elbtunnel baut: Das Katastrophenjahr des HSV mündete im Abstieg aus der Bundesliga. Auf der Suche nach tieferen Gründen rekonstruieren Alexander Laux und Kai Schiller, was in den vergangenen zwölf Monaten vor und hinter den Kulissen des Clubs geschah. Das Abendblatt-Dossier.
Am Ende war es doch irgendwie immer gut gegangen. Der HSV ein Skandalclub? Ja. Ein Chaosclub? Natürlich! Aber auch ein Zweitligaclub? Nein, das war bis zuletzt unvorstellbar. 2014 reichte ein Tor in zwei Relegationsspielen gegen Fürth, um in der Fußball-Bundesliga zu bleiben. 2015 sicherte Last-Minute-Torschütze Marcelo Díaz den Klassenerhalt, weil er die unzähligen und schier unglaublichen Millionenfehler des später entlassenen Clubchefs Dietmar Beiersdorfers durch einen einzigen Freistoß ausbügelte. 2016 konnte die Klasse HSV-untypisch bereits am vorletzten Spieltag gehalten werden, ehe 2017 Luca Waldschmidt im letzten Saisonspiel kam, sah und traf.
Doch irgendwann ist jedes Glück aufgebraucht. Und dieses Irgendwann geschah am vergangenen Wochenende. „In dieser Saison haben all die Dinge, die in den vergangenen Jahren bereits für einen schleichenden Niedergang gesorgt hatten, für den endgültigen Untergang gesorgt“, sagt Bernd Hoffmann.
Bruchhagen, Todt, Gisdol, Hollerbach, Meier – alle weg
Der HSV-Aufsichtsratschef war nur einer von vielen Gesprächspartnern, mit denen das Abendblatt die schlimmste Saison der HSV-Geschichte noch einmal analysierte. Wir trafen uns mit dem beurlaubten Sportchef Jens Todt in dessen Haus in Potsdam, fuhren zum entlassenen Clubchef Heribert Bruchhagen ins nordrhein-westfälische Harsewinkel, sprachen mit dem letztverbliebenen Vorstand Frank Wettstein in einer Loge im Volksparkstadion, mit Ex-Präsident Jens Meier, mit Ex-Trainer Bernd Hollerbach und mit vielen mehr.
Nach und nach setzte sich das Puzzle der unzähligen Wieso-Weshalb-Warum-Fragen zusammen. So entstand am Ende das Bild des ersten HSV-Abstiegs nach fast 55 Jahren in der Bundesliga: Ein kompletter Club hat versagt.
Rettungsfeier und dann der Kater
Die schlimmsten zwölf Monate der HSV-Clubgeschichte beginnen mit einem der größten Jubel der Vereinshistorie. Sonnabend, 20. Mai 2017, 17.19 Uhr. Flanke Filip Kostic, Kopfball Luca Waldschmidt, Tor. „Von solch einem Moment habe ich seit meiner Kindheit geträumt, wahrscheinlich schon im Bauch meiner Mutter“, sagt der „HSV-Retter“, oben ohne, breites Grinsen, Schweißperlen auf der Stirn. Sein Treffer gegen den VfL Wolfsburg in der 88. Minute am letzten Spieltag der 54. Bundesligasaison sorgt dafür, dass sich die schon abgestiegen geglaubten Hamburger in buchstäblich fast letzter Minute noch retten. Wieder einmal.
Kaum ein fußballbegeisterter Hamburger hat vergessen, wie und wo er Waldschmidts Tor erlebte. Der spätere HSV-Trainer Bernd Hollerbach jubelt zu Hause auf dem Sofa in Würzburg, der spätere HSV-Präsident Bernd Hoffmann feiert in einer Sportsbar in Paguera auf Mallorca. „Der Sky-Reporter schrie ‚Tor in Hamburg‘, und die ganze Kneipe jubelte, noch bevor nach Hamburg geschaltet wurde“, sagt Hoffmann. „Als dann ein feiernder Luca Waldschmidt zu sehen war, explodierte die Stimmung.“
HSV-Investor Kühne schaut von Mallorca zu
Auch HSV-Investor Klaus-Michael Kühne sieht das Tor auf Mallorca: „In dem Moment war ich eher cool und wartete ab, ob der Schiedsrichter den Treffer anerkennt. Die Leidenszeit begann erst danach, das Warten auf den Schlusspfiff empfand ich als schlimm.“
Unvergessen sind auch die Szenen nach dem Abpfiff von Schiedsrichter Manuel Gräfe. Freudetrunkene Fans fluten den Innenraum des Stadions, aus dem Rasen werden wie nach einer Meisterschaft Erinnerungsstücke ausgebuddelt, ein Fan nimmt als Trophäe sogar einen Torpfosten in der S-Bahn mit. Trainer Markus Gisdol macht unkoordinierte Freudensprünge auf dem Rasen, Sportchef Jens Todt fällt Co-Trainer Frank Fröhling in die Arme, und Lewis Holtby klettert mit nacktem Oberkörper auf die Auswechselbank und lässt sich feiern. „Luca ist heute unser Partykapitän“, sagt Captain Gotoku Sakai im Bauch des Volksparkstadions.
Die Party nach der Rettung 2017 kostet 15.000 Euro
„Ich kann mich noch gut erinnern, dass nach dem Spiel ganz Hamburg und natürlich auch der ganze Club feiern war“, sagt Todt knapp ein Jahr später. Zunächst lassen es Trainerteam und Vorstand im Zwick am Mittelweg krachen. 4000 Euro stehen am Ende des Abends auf der Rechnung, die Clubchef Heribert Bruchhagen begleicht.
Ab 23.30 Uhr macht die zwischenzeitlich in der Saison schlechteste HSV-Mannschaft der Clubgeschichte im Gaga-Club auf der Reeperbahn die Nacht zum Tag. Und im Feiern sind die Profis längst auf Meisterkurs. 11.000 Euro kosten Longdrinks, Cocktails und Champagner. Die Rechnung wird den Profis später anteilig vom nächsten Gehalt abgezogen.
Nur einer ist an diesem Abend nicht in Partystimmung. „Mir war nicht danach, ausgiebig zu feiern. Ich war nicht in der Stimmung, Champagnerkorken knallen zu lassen“, sagt Todt. „Ich wollte einfach nur schlafen und mich ganz in Ruhe über den Klassenerhalt freuen.“
Der am 8. März 2018 beurlaubte Sportchef des HSV sitzt ein knappes Jahr nach der Rettung gegen Wolfsburg auf der Terrasse seines Hauses in Potsdam. Ein warmer Frühlingstag, rund um den Wannsee ist es voll von Sonntagsspaziergängern. Todt trinkt einen Kaffee, blinzelt in die Sonne. Er soll das Unerklärliche erklären: Was ist in dem einen Jahr zwischen Waldschmidts Tor zum Glück im Mai 2017 und dem Abstieg im Mai 2018 passiert? Wie konnte es zu diesem Unglück kommen?
„Ich bin von einer ruhigen Saison ausgegangen“, gibt Todt ein Jahr nach Waldschmidts Rettung in letzter Minute ehrlich zu, während Sohn Matti und ein Freund im Garten Fußball spielen. „Das war eine Fehleinschätzung.“
Was Trainer Markus Gisdol bewirkte
Rückblende: Die katastrophale Hinrunde der Saison 2016/17 mit nur 13 Punkten kostet Vorstandschef Dietmar Beiersdorfer den Job. Nachfolger Heribert Bruchhagen wird im Dezember 2016 mit der Maßgabe des damaligen Aufsichtsratschefs Karl Gernandt verpflichtet, nach dem wahrscheinlichen Abstieg das Projekt Wiederaufstieg zu dirigieren.
Doch dann holt Trainer Markus Gisdol 25 Punkte, macht den HSV zur siebtbesten Mannschaft der Rückrunde. „Auch ich habe geglaubt, dass diese Mannschaft eine normale Rolle zwischen Rang elf und 13 in der neuen Saison spielen kann“, blickt Heribert Bruchhagen auf den Sommer 2017 zurück. Als Treffpunkt hat der wie Todt im März beurlaubte Bruchhagen das Hotel Klosterpforte in seiner westfälischen Heimat Harsewinkel vorgeschlagen.
Wie früher bei Eintracht Frankfurt hat der 69-Jährige die Finanzen im Auge. Schon kurz nach seinem Amtsantritt hatte er den Aufsichtsräten vollmundig angekündigt, die Ausgaben in Einklang mit der sportlichen Leistung zu bringen: „Wenn der HSV im Ranking der TV-Einnahmen auf Rang 16 steht, muss ich die Gehälter entsprechend anpassen.“ Deshalb will er sich im Sommer von Top-Verdienern wie Lewis Holtby, Albin Ekdal, Aaron Hunt und Pierre-Michel Lasogga trennen, die allesamt inklusive Prämien eine Jahresgage von mehr als vier Millionen Euro einstreichen, um nach Jahren der Misswirtschaft endlich einmal wieder ein ausgeglichenes Geschäftsergebnis zu erzielen. Und vor allem strebt die Führung an, sich unabhängiger von Kühne zu machen.
Im Sommer heißt aber die Devise: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Doch die große HSV-Euphorie und Aufbruchstimmung nach dem überraschenden Klassenerhalt hält nicht lange. Zwei Tage nach dem umjubelten Waldschmidt-Tor gibt Torhüter René Adler bekannt, dass er seinen auslaufenden Vertrag nicht verlängert. Einen Tag später erklärt auch der ablösefreie Matthias Ostrzolek, dass er Hamburg verlässt.
Kurz darauf trifft sich Klaus-Michael Kühne kurz vor seinem 80. Geburtstag im Kaminzimmer des Hotels Elysée mit dem Abendblatt zum Interview. Kühne lässt durchblicken, dass er wenig bis gar nichts von der HSV-Führung hält, die den Fast-Abstieg seines Herzensclubs zu verantworten hat. „Heribert Bruchhagen ist eine Übergangslösung“, sagt Kühne, dem auch nicht viel Nettes zu Sportchef Todt einfällt. „Herrn Todt kenne ich nur flüchtig. Meistens kommuniziere ich mit dem Finanzchef Frank Wettstein.“
Ein Zehner und ein Innenverteidiger
Dem teilt der Milliardär auch wenige Tage nach dem Interview zu seinem Ehrentag („Geburtstagswunsch? Ich würde es gerne noch erleben, dass der HSV eine Trophäe gewinnt“) mit, dass er sich ein entschlosseneres Handeln der Club-Verantwortlichen im Hinblick auf die Planung der 55. HSV-Saison wünsche.
Dabei haben Todt, Bruchhagen und Gisdol längst besprochen, wie der Fast-Absteiger der Vorsaison im Sommer verstärkt werden soll: Geholt werden soll ein Zehner, der offensiv auch auf den Flügeln spielen kann. Abwehrchef Kyriakos Papadopoulos, bislang nur von Bayer Leverkusen ausgeliehen, will man unbedingt verpflichten.
Genauso wie noch einen weiteren Eins-a-Innenverteidiger und einen Abwehrersatzmann. Dann noch ein Torhüter, möglichst noch ein neuer Linksverteidiger für den von Gisdol wenig geschätzten Douglas Santos. Und im Idealfall noch ein defensiver Mittelfeldabräumer. So die Theorie.
Das war der Anfang vom Ende
Doch Theorie und Praxis sind in Hamburg bekanntermaßen zwei unterschiedliche Paar Schuhe. „Für mich und alle anderen, die im operativen Geschäft an den Transfers beteiligt waren, war es eine sehr komplizierte Gemengelage im Sommer“, erinnert sich Todt an die Tage, die man im Nachhinein als den Anfang vom Ende bezeichnen kann.
Was Todt meint: Gerade einmal eine Woche nach dem Kühne-Interview im Abendblatt ist es der Aufsichtsrat, der erstmals in dieser traurigen HSV-Saison unfreiwillig die Hauptrolle übernimmt. „HSV-Machtkampf um neue Spieler“, titelt die „Bild“-Zeitung am 6. Juni. Einen Tag später fragt die Boulevardzeitung in großen Buchstaben: „Zieht Kühne jetzt seine Kohle zurück?“ Dabei hat Kühne im Mai gerade für 20 Millionen Euro 312.500 Aktien gezeichnet und dem HSV Handlungsspielraum verschafft.
Die ach so unverschämte Forderung der Kontrolleure, die aber genau dem Kurs Bruchhagens entspricht: Der chronisch klamme HSV solle vor neuen Investitionen erst einmal Geld einnehmen.
Doch öffentlich wird der Ruf nach neuen Stars von Tag zu Tag lauter. Auch Kühne nimmt Sportchef Todt in die Pflicht. „Es ist ein bisschen spät, der HSV muss sich sehr am Riemen reißen“, schimpft der Investor bei Sat.1 und kritisiert, dass der Zusammenarbeit mit den Entscheidungsträgern „so ein bisschen die Dynamik“ fehle. „Da versuche ich immer etwas zu ermahnen, tut mal was, bewegt euch ein bisschen schneller.“
Kühne: Was im Handelsregister steht – und die Dramen um Hunt, Gregoritsch und Lasogga
Der Milliardär hat gesprochen, und der HSV bewegt sich, weicht in Rekordzeit vom Kurs ab, mithilfe neuer Kühne-Millionen. Im Handelsregister-Eintrag vom 21. August 2017 heißt es: Herr Klaus-Michael Kühne zeichnet und übernimmt hiermit 195.312 neue Aktien der HSV Fußball AG (….) zum Ausgabepreis von jeweils 64 Euro, also zu einem Gesamtausgabebetrag von 12.499.968 Euro. Die Bareinlage wird bis zum 30. Juni 2017 erbracht.“ In diese Zeit fallen die von Kühne geforderte Verlängerung Woods und die ebenfalls von ihm geforderte Verpflichtung André Hahns. Ein Jahr später haben Wood und Hahn zusammen nur fünf Saisontore erzielt, stehen nun zum Verkauf. Michael Gregoritsch übrigens, den Trainer Gisdol nicht mehr will und den der HSV für 5,5 Millionen Euro an den FC Augsburg verscherbelt, hat in dieser Saison 13 Treffer erzielt.
In Sachen Verkäufen tut sich – nichts. Zwar handelt Todt für Hunt einen unterschriftsreifen Vertrag mit Trabzonspor aus, doch der Spieler entscheidet sich gegen einen Wechsel in die Türkei. Weder Ekdal noch Holtby zeigen Interesse, überhaupt über einen Abgang zu sprechen. Lasogga kann erst kurz vor dem Ende der Transferperiode an den englischen Zweitligaclub Leeds United verliehen werden, wobei der HSV sogar noch zwei Millionen Euro vom Gehalt des Stürmers übernehmen muss.
Doch auch bei den Planungen für die HSV-Defensive hatten die Verantwortlichen – gelinde gesagt – kein gutes Händchen. Nachdem für die Fabelsumme von 6,5 Millionen Euro Gisdol-Wunschverteidiger Kyriakos Papadopoulos fest verpflichtet wurde, fehlt dem Club das Geld für den geforderten zweiten Eins-a-Abwehrmann. Todt verhandelt mit den internationalen Top-Verteidigern Germán Pezzella (Betis Sevilla) und Álvaro González vom FC Villareal. Geholt wird zunächst aber nur Drittligaverteidiger Bjarne Thoelke vom Karlsruher SC, der verletzungsgeplagt in der folgenden Saison nicht einmal zum Einsatz kommt.
Heimliche Gespräche mit Hradecky
Später justiert Todt nach, holt noch den zu dem Zeitpunkt gerade mal 18-jährigen Rick van Drongelen aus Rotterdam. Und selbst U-21-Europameister Julian Pollersbeck, den der HSV als Adler-Nachfolger verpflichtet, ist kein Wunschspieler. Gisdol hatte sich intern für Eintrachts Lukas Hradecky ausgesprochen. Todt traf sich mit dessen Vater heimlich in Finnland, anschließend mit dem Torhüter in Frankfurt. Das Ende vom Lied: Hradecky war den HSV-Chefs zu teuer, Pollersbeck kommt für 3,3 Millionen Euro aus Kaiserslautern.
Wenn man die gesamte HSV-Fehlplanung des Sommers in nur einer Personalie zusammenfassen will, sollte man sich den gescheiterten Versuch eines Wechsels auf der Position des Linksverteidigers in Erinnerung rufen. Tagelang werben die HSV-Chefs um Augsburgs Konstantinos Stafylidis, um im Gegenzug Douglas Santos zum PSV Eindhoven zu verkaufen. Anders als beim Offensivtausch Hahn/Gregoritsch scheitert der Stafylidis/Santos-Deal allerdings auf der Zielgeraden. Im Nachhinein zum Glück.
„Der HSV ist ein komischer Verein“, sagt Augsburgs Manager Stefan Reuter, der zehn Millionen Euro für den Griechen aufrief. Am Ende bleibt der ungewollte Santos beim HSV, wird bester und konstantester Spieler dieser Saison. Stafylidis wird dagegen für 600.000 Euro zu Stoke City verliehen, kommt in dieser Saison ganze fünfmal zum Einsatz.
Fazit des Transfersommers: Schlimmer geht’s nimmer
„Ich habe nicht umsetzen können, was ich mir vorgenommen hatte“, gibt Bruchhagen ein knappes Jahr später zu, dass er selbst nicht zufrieden mit der Bilanz des HSV-Transfersommers ist. Dazu passend misslingt dem HSV der Saisonstart: Es folgen erst das obligatorische Erstrundenaus im DFB-Pokal (1:3 beim Drittligisten VfL Osnabrück) und umgehend die ebenso obligatorische Schelte vom enttäuschten Anteilseigner Klaus-Michael Kühne. „Die HSV-Führung ist auf der falschen Chaussee unterwegs“, mault der Investor bei Sky und legt nur einen Tag später im „Spiegel“ nach: „Ich war einfach zu unkritisch“, sagt Kühne, um dann Frontalkritik zu üben: „Der HSV ist ein Phänomen, weil immer die Luschen hängen bleiben“, schimpft der Wahlschweizer. Ein gutes Beispiel sei Pierre-Michel Lasogga, den er als „Flop des Jahrhunderts“ tituliert.
Sei’s drum. Fußball wird beim HSV dann auch noch gespielt. Am selben Tag, an dem das Kühne-Gespräch im „Spiegel“ erscheint, gibt Trainer Gisdol dem Abendblatt ein Interview. Die überraschende Überschrift: „Ich habe richtig Bock auf die neue Saison.“ Eine Saison, deren Ende er nicht erleben wird.
Der Investor diktiert die Bedingungen
Milliardär Kühne gab nur Geld für Hahn, wenn Wood bleiben durfte. Ist so viel Einfluss noch regelkonform?
Als Bobby Wood 2016 für eine Ablöse von 3,5 Millionen Euro von Union Berlin zum HSV wechselt, kommt er mit der Empfehlung von 17 Toren in 31 Zweitligaspielen. In 28 Bundesligaspielen der Vorsaison erzielt er dann fünf Tore.
Am 25. Juni 2017 kommt die Meldung: Wood verlängert seinen bis 2020 laufenden Vertrag vorzeitig bis 2021. Das Gehalt des Stürmers verdoppelt sich auf drei Millionen Euro, dafür wird die Ausstiegsklausel, die es Wood erlaubt hätte, 2018 für 12 Millionen Euro Hamburg zu verlassen, auf 20 Millionen Euro angehoben.
Nur vier Tage später gibt der HSV die Verpflichtung von André Hahn bekannt. Sechs Millionen Euro beträgt die Ablöse an Mönchengladbach. Dort war der Offensivmann in der Saison 2016/17 zu 30 Einsätzen (zwölf Ein-, neun Auswechslungen) gekommen. Im Aufsichtsrat ist man nicht sonderlich begeistert von Hahn, doch der Transfer geht durch.
Dass diese Personalien miteinander verquickt sind, verrät Klaus-Michael Kühne. Sowohl im Sky- als auch im „Spiegel“-Interview erklärt der Investor, wie er die Verlängerung von Wood durchdrückte: „Ich habe dem Verein dafür kein Geld gegeben, aber ich habe ihm zu der Verlängerung geraten und gesagt, dass ich nur Hahn finanziere, wenn ihr Wood haltet.“
Kühne und der Berater
Das Problem: Wood und Hahn werden beide von Volker Struth vertreten, der offiziell zwar nicht mehr Kühnes Berater ist, inoffiziell aber noch immer besten Kontakt pflegt – genauso wie mit Trainer Gisdol. Ob das nicht eine Interessenverquickung ist? Kühnes missverständliche Antwort: „Nein, im Gegenteil. Ich weiß, wen Gisdol als Spieler haben will. Und er hat mich über Struth gebeten, mich zu engagieren.“
Dieser reagiert genervt: „Einen Interessenkonflikt zu konstruieren ist absurd. Wood und Hahn waren in diesem Sommer heiß begehrte Spieler, die auch bei anderen Vereinen hätten unterschreiben können“, sagt der Spieleragent. „Genauso absurd ist es, mich immer wieder mit der Transferpolitik vom HSV in Verbindung zu bringen.“ Kühne habe, so Struth, den Hahn-Transfer nicht an Bedingungen geknüpft: „Seine Aussagen waren der Emotionalität geschuldet.“
Dennoch fordert die Deutsche Fußball Liga eine Stellungnahme wegen des möglichen Verstoßes gegen die „50+1“-Regel, die verhindern soll, dass Investoren die Macht bei einem Club übernehmen. Der HSV-Vorstand plant, ein juristisches Gutachten erstellen zu lassen. Doch dazu kommt es am Ende nicht. Ex-Vorstandschef Heribert Bruchhagen hat heute eine klare Meinung zu der Konstellation: „Der Einfluss von Volker Struth auf den HSV ist zu groß.“
Ein Tag an der Tabellenspitze
Gisdols „Bock auf die neue Saison“ scheint zunächst begründet zu sein. Am ersten Spieltag gewinnt der krisengeschüttelte Traditionsclub glücklich mit 1:0 gegen Augsburg, am zweiten Spieltag verdient mit 3:1 in Köln. Für einen Tag übernimmt der HSV am 25. August die Tabellenspitze. „Spitzenreiter!“, titelt das Abendblatt. Was zu dem Zeitpunkt noch keiner weiß: In den darauffolgenden acht Spielen will dem HSV kein einziger Sieg mehr gelingen, in den ersten fünf davon nicht einmal ein Tor.
Sehr viel schlimmer als die fünf torlosen Spiele in Folge sind aber die Auswirkungen des ersten HSV-Tors der Saison. Nicht einmal acht Minuten sind beim Saisonauftakt gespielt, als Nicolai Müller den ersten Treffer erzielt – und sich ausgerechnet beim Jubel schwer verletzt. Die niederschmetternde Diagnose: Kreuzbandriss. Erst am vorletzten Spieltag kehrt Müller in Frankfurt wieder auf den Platz zurück. Zu spät, um wie schon 2015 in Karlsruhe die Rolle des Retters zu übernehmen.
Vorstand Frank Wettstein sitzt im Mai 2018 an einem langen Holztisch in einer Stadionloge. „Müller war ein ganz entscheidender Spieler für uns. Aber seine Verletzung darf auch keine Ausrede sein“, sagt der Rheinländer und schaut durch die Fensterscheibe auf den Rasen, wo sich Müller ein Dreivierteljahr zuvor das vordere Kreuzband des rechten Knies riss. „Man kann den Abstieg nicht an einer Personalie festmachen. Wir sitzen ja vor der Saison bei der Kaderplanung zusammen und versuchen jede Position doppelt zu besetzen. Das hat im Fall von Müller offenbar nicht gepasst.“
Der Aufsichtsrat lehnt eine Verlängerung mit Müller ab
Auch die interne Kommunikation nach der schlimmen Verletzung von Gisdols Schlüsselspieler sollte alles andere als passen. Ausgerechnet am Tag vor dem Kreuzbandriss einigen sich Todt und Müllers Berater Björn Bezemer auf eine Vertragsverlängerung um zwei Jahre – vorausgesetzt, der im Sommer einspruchsfreudige Aufsichtsrat stimmt zu.
Doch dieser stimmt nach der langwierigen Verletzung eben nicht zu, obwohl Todt und Bezemer den Vertrag des Pechvogels trotz des Kreuzbandrisses auch weiterhin verlängern wollen. Die Entscheidung der Kontrolleure scheint plausibel, für Todt ist sie der zweite Schlag ins Gesicht. Schlag Nummer drei soll später noch folgen ...
Zunächst einmal nimmt die Euphorie über den Saisonstart von Woche zu Woche und von Niederlage zu Niederlage spürbar ab. 0:2 gegen Leipzig, 0:2 in Hannover, 0:3 gegen Dortmund, 0:3 in Leverkusen. In Harsewinkel zieht Bruchhagen an einer Zigarette und spricht von „der Eigendynamik des Misserfolgs“.
Trainer Gisdol sieht das anders. Als nach Müller auch Filip Kostic wochenlang ausfällt, schlägt der Coach im Club Alarm. Verpflichtet wird aber nur der vertragslose Sejad Salihovic. Als Gisdol Mitte September noch einmal nach dem mutmaßlich zu kleinen Kader befragt wird, kontert der genervt: „Fragen Sie den Jens …“
Doch neben dem Jens (Todt) steht auch der Markus (Gisdol) schon jetzt unter massiver Beobachtung. Zwar proklamiert er schnelles Umschaltspiel, was sich aber in der Realität als kaum zu ertragender Rumpelfußball entpuppt, der an altmodischen 80er-Jahre-Kick-and-Rush erinnert.
13,4 Millionen Euro Minus im Geschäftsjahr 2016/17
Statt Gisdol oder Todt muss erst einmal Wettstein Antworten geben. Am 25. Oktober vermeldet der Finanzvorstand auf der HSV-Homepage: „Die HSV Fußball AG hat das Geschäftsjahr 2016/17 mit einem Jahresfehlbetrag von Euro 13,4 Millionen abgeschlossen.“ Es ist das siebte Millionendefizit in Folge. Das, so Wettstein, sei aber alles andere als dramatisch. So sei die Rückzahlung eines Großteils der Schulden an den Eintritt von sportlichen Bedingungen geknüpft, die – und das sagt er nicht – kaum eintreffen dürften. Und überhaupt: In Zukunft werde alles besser. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, in dieser Saison ein ausgeglichenes Ergebnis zu erwirtschaften“, sagt der von der „Bild“-Zeitung zum „Sanierer“ erklärte Vorstand.
Nun, recht hat Wettstein, dass die sportlichen Bedingungen für eine Rückzahlung auch in dieser Saison krachend verfehlt werden. Unrecht hat der „Sanierer“, dass nach sieben Jahren des Prassens die erste positive Geschäftsbilanz veröffentlicht werden kann. Schon jetzt steht fest: Der HSV wird auch in der Saison 2017/18 ein Minus in Höhe von rund drei Millionen Euro erwirtschaften.
Drei Tage nach der Veröffentlichung der wirtschaftlichen Horrorbilanz rückt aber ein weiteres Mal die sportliche Horrorserie in den Vordergrund. Der HSV verliert am 28. Oktober 1:2 gegen Berlin, das achte Spiel in Folge ohne Sieg. Der HSV hat sich mit nur sieben Punkten nach zehn Spielen auf Relegationsplatz 16 festgesetzt. Der glücklose Sechs-Millionen-Euro-Mann und Hobbyphilosoph André Hahn sagt nach der Partie: „Berlin macht aus wenig viel. Und wir machen aus wenig noch viel weniger.“
Fiete Arp: Auf ihm lasteten alle Träume und Hoffnungen
Doch dann kommt Jann-Fiete Arp – und ist im ICE-Tempo Hamburgs neuer Superheld.
Beim torlosen Nordderby gegen Werder Bremen hatte er am 30. September bereits sein Bundesliga-Debüt gegeben. Beim 1:2 in Berlin glückt ihm nach seiner Einwechslung sein erster Bundesligatreffer. Mit 17 Jahren und 295 Tagen ist er der jüngste Torschütze des HSV in der Bundesliga. Gegen Stuttgart steht er erstmals in der Startelf und erzielt das Tor zum 3:1-Endstand. Keiner verkörpert so die Träume und Hoffnungen der HSV-Fans wie der gebürtige Bad Segeberger: ein Talent, das es von der Jugend nach oben schafft, noch dazu Stürmer. Die Medien – auch das Abendblatt – feiern den Hoffnungsträger.
Als gegen Hoffenheim der nächste Heimsieg gelingt (3:0), scheinen die größten Sorgen gebannt, die Mannschaft scheint das von Gisdol gewünschte „hohe Pressing“, also frühes Attackieren des Gegners, endlich verinnerlicht zu haben. Niemand ahnt, dass der nächste Erfolg 15 Spiele auf sich warten lassen würde.
Investor Kühne droht, seine Unterstützung einzustellen
Die sportlichen Schlagzeilen sind zu diesem Zeitpunkt allerdings schon wieder in den Hintergrund gerückt. Am 7. November verschickt Milliardär Kühne eine Pressemitteilung, die es – wie immer – in sich hat: „Ich erkläre hiermit, dass ich der HSV Fußball AG zukünftig nur dann eine finanzielle Unterstützung gewähren werde, wenn sie über den von mir befürworteten unabhängigen und kompetenten Aufsichtsrat verfügt und es diesem gelingt, Persönlichkeiten für die Führung der HSV Fußball AG zu gewinnen, die über große Managementqualität und -erfahrung verfügen.“
Rums. 50 Wörter, mit denen Kühne Vereinspräsident Jens Meier, den AG-Vorstand um Bruchhagen und den Aufsichtsrat vernichtet – und den Club wieder in eine Führungskrise führt.
Fast paradox, dass sich genau an jenem 7. November rund 30 Führungskräfte aller HSV-Abteilungen auf Einladung von Finanzchef und Präsident Jens Meier zu einem dreitägigen internen Workshop im Stadion treffen, in dem es um innerbetriebliche Abläufe und um die Fragestellung geht, was die größten Schwachstellen der AG seien. Fragestellung des Workshops: „Was müssen wir gemeinsam tun, um aus dem HSV ein robustes Hochleistungsunternehmen zu machen, um mittelfristig in die obere Tabellenhälfte zu gelangen?“
Aufsichtsrat: Wer soll den HSV führen?
Durchgeführt wird der Workshop vom Malik-Institut, das für sein Syntegrationsverfahren bekannt ist, in dem es um Entscheidungsprozesse in komplexen Systemen geht. Diskutiert wird über zwölf Themenfelder: vom Sport über die HSV-Identität und Marke, Kommunikation, digitale Entwicklung bis zu Merchandising.
Auf mehr als 100 Seiten fasst Malik in einem Dossier einige Wochen später die Ergebnisse zusammen und weist auf gravierende Missstände hin, vor allem bei der Führung: Viele Elemente seien vorhanden, wichtige Teile fehlten jedoch. Spätestens jetzt ist Meier klar, dass er nach einer erfolgreichen Wiederwahl als Präsident mittelfristig Veränderungen im Vorstand vornehmen will. Und auch die Tage von Sportchef Todt, das ist Meier erst seit Maliks Abschlussbericht klar, wären gezählt.
Intensiv denkt man in der Aufsichtsratsspitze über die künftige Besetzung des Vorstandsvorsitzenden nach. Ein Name fällt dabei besonders häufig bei der Suche nach geeigneten Kandidaten: der des Lüneburgers Carsten Schmidt (54), Vorsitzender des Vorstands bei Sky Deutschland.
Bernd Hoffmann kehrt auf die HSV-Bühne zurück
Doch die Wiederwahl Meiers, das deutet sich bereits im November an, wird kein Selbstgänger. Denn am 13. November betritt ein alter Bekannter nach langer Zeit wieder die Bühne des HSV: Bernd Hoffmann. Der frühere Vorstandschef, der sich in letzter Zeit auffällig oft bei Veranstaltungen des Clubs hat sehen lassen, spricht mit dem Abendblatt über Kühne, den Aufsichtsrat und das Vereinspräsidium. Und obwohl er eine eigene Kandidatur auf Nachfrage ausschließt („Ich habe keine Ambitionen hinsichtlich einer Position. Weder in der AG noch im e. V.“), liegt eine andere Schlussfolgerung nahe: „Wie diese Zeitung erfahren hat, soll der frühere Vorstandschef sehr wohl in Erwägung ziehen, ob er nach dem Theater der vergangenen Woche nicht selbst das Ruder übernehmen sollte“, schreibt das Abendblatt.
Ein halbes Jahr später sitzt Hoffmann beim Frühstück im „Mutterland“, bestellt sich ein Fit-mit-Mutti-Frühstück und muss schmunzeln. Längst hat der Meier-Nachfolger nicht nur das Ruder, sondern auch die ganze Kommandobrücke der HSV-„Titanic“ übernommen.
Auf die Frage, wann er sich sicher war, an Bord zurückzukehren, zögert Hoffmann keinen Moment. „Beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt kurz vor Weihnachten habe ich mich für eine Kandidatur als HSV-Präsident entschieden“, sagt der vierfache Familienvater über die 1:2-Niederlage des HSV und bestellt einen Cappuccino. „Die ganzen Umstände dieses Spiels haben mich in dem Gedanken bekräftigt, dass sich hier etwas ändern muss. Ich war von dem ganzen Spiel einfach nur erschüttert: Es kamen gerade einmal knapp 41.000 Zuschauer, und alles war lieblos und trostlos. Wir hätten in der ersten Halbzeit sogar 1:4 oder 1:5 zurückliegen können, und das Spiel wurde dann auch noch schöngeredet. Da reifte dann endgültig der Gedanke, dass ich aktiv etwas ändern möchte.“
Postengeschacher bei den Kontrolleuren
Bis zum tatsächlichen Hoffmann-Comeback vergehen aber noch einmal zwei Monate. Zwei weitere Monate voller Pleiten, Pech und Pannen. Zunächst muss die für den 18. Dezember geplante Hauptversammlung (diese setzt sich aus den AG-Aktionären zusammen, der HSV e. V. hält 76,19 Prozent) auf das erste Quartal 2018 verschoben werden. Diese sollte den neuen sechsköpfigen Aufsichtsrat (der e.V.-Präsident ist automatisch Mitglied des Gremiums) einsetzen.
In Abwesenheit von Jens Meier, der beruflich in Südkorea weilt, gibt es nicht nur offene (Streit-)Fragen über die künftige Besetzung, sondern auch Auseinandersetzungen um die Größe des Aufsichtsrats. Diskutiert wird – um Kühne zu beruhigen – eine Vergrößerung auf bis zu neun Mitglieder. Man benötigt mehr Zeit – und muss sich vertagen. Die Aktivitäten von Kühne und seinem Vertrauten Gernandt, der übrigens wie Aufsichtsrat Felix Goedhart in St. Gallen studiert hat, sorgen auch im Führungszirkel für Verstimmung.
Zu diesem Zeitpunkt steht nur fest, dass Klitschko-Manager Bernd Bönte, Bau-Unternehmer Dieter Becken und eben Kühnes Vertrauter im Kontrollgremium, Karl Gernandt, den Aufsichtsrat verlassen. Als neue Kandidaten sind Jens Luther, Vorstandsvorsitzender der Hanseatischen Krankenkasse (HEK), und der frühere Profi Marcell Jansen im Gespräch. Der ebenfalls gehandelte Karl J. Pojer (Vorsitzender von Hapag-Lloyd-Cruises) hat bereits abgesagt.
Ende November kommt die nächste Absage für Meier: „Der HSV hat Gespräche mit mir geführt. Das Ergebnis ist, dass ich für einen Aufsichtsratsposten unter den gegebenen Umständen nicht zur Verfügung stehe“, sagt Luther, der neuer Kontrollchef werden sollte.
Bruchhagen verlängerte kurz vor Weihnachten
„Ich habe das Gefühl, dass der Verein ordentlich geführt wird“, sagt HSV-Chef Bruchhagen trotzig im Abendblatt-Interview, prognostiziert dem HSV aber einen mindestens fünf Jahre langen Existenzkampf – und verlängert vier Tage vor dem Heiligen Abend seinen Vertrag. Ja, ist denn heut’ schon Weihnachten? Was die Öffentlichkeit nicht erfährt: Bruchhagens Vertrag beinhaltet eine Kündigungs-Option für den HSV, der danach „nur“ drei Monatsgehälter an den Vorstandschef zahlen muss. Vereinbart ist zudem, dass Bruchhagen einen Nachfolger auch einarbeiten soll.
Auf dem Platz rumpelt der HSV im Dezember genauso dahin wie abseits des Rasens. Nach einem Sieg gegen Hoffenheim holen die Rothosen in den fünf verbleibenden Spielen bis zur Winterpause nur noch zwei Punkte und verlieren die letzten drei Partien. Der HSV belegt mit nur 15 Punkten den vorletzten Tabellenplatz 17. Und Gisdol gerät schwer unter Beschuss, weil der HSV Fußball zum Abgewöhnen zeigt. „Die Hamburger sollen doch den Antrag stellen, dass sie ohne Ball spielen“, lästert Matthias Sammer im Eurosport-Studio.
Kurz vor Silvester fasst Sportchef Todt das erste Halbjahr nach Waldschmidts Rettertor so zusammen: „Beim HSV wird es nicht langweilig.“
„Ihr seid wohl nicht ganz dicht ...!“
Beim HSV wird es nicht langweilig.“ Der Satz von Todt darf in den Tagen nach Silvester noch einmal dick und fett unterstrichen werden. Der Brasilianer Walace postet fleißig Bilder von sich am heimischen Strand, ist aber nicht ganz so bemüht, ins Trainingslager des HSV in Jerez de la Frontera einzufliegen. Erst drei Tage später reist der Südamerikaner mit Berater Rógerio Braun im Gepäck nach Andalusien nach. „Wir sind davon überzeugt, dass wir ihn wieder in die Gruppe integrieren können“, sagt Todt im sonnigen Jerez, als er noch nichts vom weiteren Verlauf der schier endlosen Walace-Telenovela wissen kann.
Schon im Barcelo Montecastillo Golf Resort diskutieren Bruchhagen und Todt über die Zukunft Gisdols mit der Fragestellung: Müssen wir nicht wechseln? Doch Bruchhagen glaubt, dass dem Trainer eine ähnlich gute Rückrunde wie in der Vorsaison gelingen kann.
Hinterher ist man immer schlauer. Der HSV knüpft nahtlos an die Hinrunde an. Dem 0:1 zum Auftakt in Augsburg folgt am 20. Januar das bittere 0:2 gegen den mit neun Punkten abgeschlagenen Tabellenletzten 1. FC Köln.
Nun ist auch Bruchhagen überzeugt, handeln zu müssen. Einen Tag später ist Gisdol gefeuert. Als er um 10.32 Uhr das Volksparkstadion verlassen will, ist sein Dienstwagen nach dem Öffnen der Schranke innerhalb von wenigen Sekunden von zwei Dutzend Kameramännern, Fotografen und Journalisten umstellt. Der sonst oft unnahbare Trainer bleibt gelassen, lässt die Scheibe runter und sagt: „Ich hätte gerne weitergemacht.“
Bernd Hollerbach ersetzt den gefeuerten Gisdol
Altaufsichtsrat Udo Bandow sieht die Chance gekommen, endlich den früheren HSV-Helden Felix Magath zurückzuholen. Doch sein Vorstoß blitzt ab – genauso wie ein zweiter Versuch Wochen später, den 83er-Torschützen als Sportverantwortlichen zu installieren. Statt des großen Magath kommt der kleine Magath: Bernd Hollerbach. Mit dem früheren Magath-Assistenten hatte sich Todt bereits vor dem Köln-Spiel getroffen. Und die Freude über den zurückkehrenden HSV-Sohn ist groß.
„Ich traue Bernd zu, dass er die Wende schafft“, sagt kein Geringerer als: Felix Magath. Notfalls will die Clubführung mit Hollerbach auch den Wiederaufstieg angehen, deshalb stattet sie den 48-Jährigen auch mit einem Vertrag bis Juni 2019 aus – ohne Klausel für den Fall des Abstiegs.
„Wir haben uns für Hollerbach entschieden, weil wir glaubten, nach der eher analytischen Arbeitsweise von Gisdol einen neuen Impuls zu brauchen, einen Trainer mit Begeisterungsfähigkeit, der als ehemaliger HSV-Spieler zudem die nötige Authentizität mitbringt“, sagt Bruchhagen. Dass Sportdirektor Bernhard Peters erst wenige Stunden vor der Präsentation Hollerbachs informiert wird, wird Peters erst einige Wochen später selbst sagen.
Bei Hollerbachs Verpflichtung Würzburg vergessen
Ebenfalls nicht informiert ist Peters, dass auch der frühere HSV-Trainer Thomas Doll, der bei Ferencváros Budapest erfolgreiche Arbeit leistet, als Kandidat gehandelt wird. Doch Todt und Bruchhagen schrecken ohnehin vor einer fälligen Ablösezahlung an die Ungarn zurück und wollen außerdem eine schnelle Lösung präsentieren. Den Gedanken an Ex-Coach Thorsten Fink verwerfen die beiden ebenso.
Doch auch ohne Fink und Doll geht es heiter weiter. Vier Tage nach seiner offiziellen Präsentation („Groß vorstellen muss ich mich ja nicht“) wird bekannt, dass Hollerbach noch immer vertraglich mit seinem ehemaligen Heimatclub Würzburger Kickers verbandelt ist.
„Der HSV hat es leider versäumt, den formal korrekten und in der Branche üblichen Weg einzuhalten, sich vor der Vertragsunterzeichnung mit Bernd Hollerbach um die Regelung, in dem Fall Auflösung des laufenden Vertragsverhältnisses zu bemühen“, sagt Würzburgs Vorstandschef Daniel Sauer empört.
Für Bruchhagen ist die Aufregung ein Witz. „Es war alles geklärt, hierbei handelt es sich um eine mediale Ente“, betont er rückblickend. Weil alle Medien auf die Äußerungen aufspringen, die sich wie eine Lawine verbreiten. Es passt ja auch so schön. Wieder der HSV, der sich erneut zur Lachnummer der Nation macht. Und auch der Aufsichtsrat zeigt sich irritiert.
Verstärkungen? Diese Namen werden gehandelt
Tatsache ist aber: Zwar hatte Hollerbach dem HSV-Vorstand erst am Morgen der Präsentation eröffnet, dass da noch ein Beratervertrag mit Würzburg in seiner Schublade liege, doch in einem Telefonat mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden Thorsten Fischer hatte Bruchhagen Einigkeit über die Modalitäten erzielt: Entweder der HSV tritt zu einem Freundschaftsspiel an, oder aber, falls es dazu nicht kommt, die Hamburger zahlen 100.000 Euro. „Da wollte sich nur einer aus dem Verein wichtig machen“, sagt Bruchhagen und schüttelt den Kopf.
Doch auch nachdem sich der Hollerbach-Wirbel als Sturm im Wasserglas entpuppt hat, kommt der HSV nicht zur Ruhe – auch nicht nach Hollerbachs achtbarem 1:1-Debüt bei RB Leipzig. „Ist der HSV so zu retten?“, fragt das Abendblatt, nachdem die Wintertransferperiode am 31. Januar ohne HSV-Verstärkung zu Ende gegangen ist, während es beispielsweise Konkurrent Stuttgart gelungen ist, Mario Gomez (aus Wolfsburg) zu verpflichten.
Stillstand also, obwohl sich Hollerbach intern dafür ausgesprochen hat, in der Abwehr und vor allem im Angriff nachzurüsten. Gern würde er über all das auch ein halbes Jahr später noch einmal reden. Doch der Franke schweigt. Er habe ja noch Vertrag, sagt Hollerbach entschuldigend am Telefon. Man müsse verstehen.
Man versteht. Oder auch nicht. Denn nachdem im Januar zunächst noch Leverkusens Admir Mehmedi und später Neapels Adam Ounas als Wunschverstärkungen ausgemacht sind, wird schnell deutlich, dass sich der HSV keinen von beiden leisten kann. Ende Januar haben sich die Hamburger auf zwei andere Stürmer festgelegt: Lukasz Teodorczyk, mit dem sich Manager Todt extra noch einmal in Anderlechts Trainingslager in Málaga trifft. Und Newcastles Aleksandar Mitrovic, der in der Hinrunde allerdings nur ein einziges Tor in der Premier League erzielen konnte. Todt präferiert Teodorczyk, doch Hollerbach spricht sich für Mitrovic aus.
Also Mitrovic. Die Ablöseforderung von Newcastle beläuft sich allerdings auf stolze 15 Millionen Euro. Wer soll das bezahlen? Auf diese Frage gab es beim HSV in den vergangenen Jahren immer ein und dieselbe Antwort: Kühne, Klaus-Michael. Und auch in diesem Winter gibt es keine Alternative zum 80 Jahre alten Wahlschweizer. Das einzige Problem an der Rechnung: Kühne mag nicht mehr.
Kühnes Portemonnaie bleibt zu
Am 30. Januar, also einen Tag vor dem Ende der Transferfrist, teilt Kühne Finanzvorstand Wettstein in einem persönlichen Gespräch mit, dass sein Portemonnaie in diesem Winter nicht geöffnet wird. Fast zeitgleich mit der Kühne-Absage jedoch erfährt Todt, dass Hollerbachs Wunschkandidat Mitrovic auch ausgeliehen werden kann.
„Ich musste zu jeder Zeit des Transferfensters davon ausgehen – und entsprechend handeln –, dass wir nur aus eigener Kraft einen Spieler holen können“, bestätigt Todt rückblickend, dass sich die Chance bot, auch ohne Kühne-Geld einen Stürmer zu verpflichten. Auf weitere Details will Todt nicht eingehen.
Nach Abendblatt-Recherchen sollte Mitrovic den HSV 2,5 Millionen Euro (Leihgebühr und Gehalt) kosten. Eine Summe, die der HSV stemmen könnte, da parallel dazu ein möglicher Transfer Luca Waldschmidts zum SC Freiburg für den Fall der Fälle ausverhandelt ist. Die vereinbarte Einnahme: drei Millionen Euro. Man braucht allerdings eine schnelle Zustimmung des Aufsichtsrats, da Mitrovic noch am Nachmittag im Flieger nach Hamburg sitzen soll.
Schnell bedeutet nach Aussagen mehrerer Beteiligter: innerhalb von maximal zwei Stunden. Während nach Abendblatt-Informationen mehrere Aufsichtsräte ihre Zustimmung signalisieren, grätscht Kontrolleur Felix Goedhart dazwischen und lehnt in einer E-Mail (Tenor seiner Antwort: „Ihr seid wohl nicht ganz dicht!“) den Blitzdeal ab.
E-Mail von Kühne
Was zu jener Zeit nicht nach außen dringt: An das Leihgeschäft soll eine Kaufoption in Höhe von acht Millionen Euro gekoppelt sein, die beim Erreichen einer bestimmten Zahl an Einsätzen automatisch zum Tragen käme. Eine Summe, die der HSV nur mit Kühnes Hilfe stemmen könnte.
Doch Wettstein, der mit Kühne gesprochen hatte, bekräftigt, dass er von dieser Kaufoption in Höhe von acht Millionen Euro gar nichts gewusst habe. „Wir mussten bei Herrn Kühne gar nicht nachfragen, da wir einen möglichen Wintertransfer gegenfinanziert hatten. Um es klar und deutlich zu sagen: Wir brauchten keine Hilfe von Herrn Kühne“, sagt Wettstein im Saisonabschlussgespräch. Dem Leihgeschäft habe er intern also zugestimmt – von der Kaufoption habe er aber nichts gewusst? Merkwürdig ...
Und es bleibt kurios: Kurze Zeit später erklärt Kühne in einer E-Mail: „Wegen finanzieller Unterstützung angefragt wurde ich nicht, hingegen hat man öffentlich erklärt, dass man meine Hilfe nicht in Anspruch nehmen wolle. Ich hätte mir eine Verstärkung für das Team gewünscht und mehrfach an Aufsichtsrat und Vorstand appelliert zu handeln.“ Für den Kampf um den Klassenerhalt sehe er den HSV nicht gut aufgestellt: „Die prekäre Lage, in der sich der HSV aktuell befindet, hat sich durch die jüngsten Vorgänge verstärkt.“
Stürmer Mitrovic wechselt übrigens zum FC Fulham und erzielt in der Rückrunde in der englischen Zweiten Liga in 17 Einsätzen zwölf Tore. Und in Todt brodelt es, weil er den dringend benötigten Stürmer nicht verpflichten darf und er sich in seinen Kompetenzen beschnitten sieht. Er ahnt, dass der Aufsichtsrat das Vertrauen in die Arbeit des Sportchefs verloren hat.
Goedhart-Mail sorgt für nächsten Eklat beim HSV
Nur einen Tag später droht die Führung des HSV zu implodieren. Am 1. Februar wird eine pikante E-Mail bekannt, die Kontrolleur Felix Goedhart allerdings schon am 29. Januar – also einen Tag vor den Streitigkeiten um die nicht genehmigte Verpflichtung von Wunschstürmer Mitrovic – an seine Ratskollegen geschrieben hat. Und der Inhalt dieser E-Mail ist extrem brisant.
In der Mail, die ganz harmlos mit den Worten „Liebe Kollegen“ beginnt, ist ein einstündiges Telefonat zwischen Goedhart und Wettstein zusammengefasst. Hintergrund des Gesprächs ist, dass Goedhart zunächst nur erklärt bekommen wollte, warum der HSV Ablöse für den zuvor ein halbes Jahr freigestellten Hollerbach zahlen sollte.
Aus dieser Nachfrage ergibt sich schnell ein Grundsatzgespräch. Wettstein, so steht es in der Mail, soll große Zweifel an der Tauglichkeit vom Vorstandskollegen Bruchhagen und Sportchef Todt geäußert haben – und damit offene Türen beim ebenfalls kritisch eingestellten Goedhart eingerannt haben. Wortwörtlich soll Wettstein „jegliche Führung“ im HSV vermisst haben.
Viel wollen die Beteiligten im Hier und Jetzt nicht mehr über die winterliche E-Mail-Affäre sagen. Lediglich Todt gewährt einen kleinen Einblick in sein Seelenleben jener Tage. „Für mich war spätestens dann klar, dass es im Sommer für mich nicht weitergehen würde“, sagt er in Potsdam. „Wenn so etwas öffentlich gemacht wird, gibt es in aller Regel kein Zurück mehr.“
Wie recht Todt doch hat, kann der Manager Anfang Februar noch gar nicht wissen. Genauso wenig wie von Goedharts Mail-Vorschlag, Bruchhagen und ihn interimsmäßig durch Wettstein und Peters zu ersetzen (wie es genau einen Monat später auch passieren wird).
Wer steckt hinter dem Putsch?
Dem Gerücht, dass Kühne der eigentliche Drahtzieher hinter den Putschplänen sei, widerspricht der Wahlschweizer vehement: Eine derartige Initiative gehe nicht von ihm aus, versichert er.
Nur hilflos kann Kurzzeit-Aufsichtsratschef Andreas Peters reagieren: „Wir werden das in angemessener Form intern aufarbeiten“, kündigt er an. Auf das Ergebnis dieser Aufarbeitung warten alle Beteiligten bis heute.
Einem spielt das peinliche Dauerchaos beim HSV dann aber doch voll in die Karten: Bernd Hoffmann. Am 17. Januar hatte der HSV-Beirat seine Kandidatur als e.V.-Präsident zugelassen. Doch der 55-Jährige macht kein Geheimnis daraus, dass sein Fokus auf der dahinsiechenden HSV-AG mit dem Bundesligateam liegt. So lautet einer von Hoffmanns Hauptvorwürfen an Kontrahent Jens Meier, dass der bisherige Amtsinhaber als gleichzeitiger Chef der Hamburg Port Authority (HPA) nicht genügend Zeit für den HSV habe.
Indirekt Unterstützung hat Hoffmann bereits durch Wirtschaftssenator Frank Horch erhalten, der auf einer Pressekonferenz Ende 2017 anmahnte: „Ich bin mit Jens Meier im Gespräch. Er weiß, dass die Herausforderungen im Hafen seine ganze Konzentration und Kraft benötigen. Diese Aufgaben müssen Priorität vor anderen Aktivitäten haben.“ Damit ist klar, dass Meier auch künftig allenfalls Stellvertreter des Gremiums sein kann, als starker Macher kann er sich so – anders als Hoffmann, der den Vorsitz im Aufsichtsrat anstrebt – den Mitgliedern nicht präsentieren.
Kritik muss Meier außerdem einstecken, weil er zulässt, dass die Hauptversammlung der AG (im Beisein von Klaus-Michael Kühne) nur zwei Wochen vor der Präsidentenwahl den neuen Aufsichtsrat bestimmt. Neu im Gremium sind Wirtschaftsmanager Michael Krall, der den Vorsitz übernimmt, Remondis-Vorstandsmitglied Max-Arnold Köttgen (mit dem sich Kühne einverstanden erklärt, obwohl er kein Vertrauter von ihm ist) und Ex-Nationalspieler Marcell Jansen. Andreas Peters und Felix Goedhart werden bestätigt, hinzu kommt automatisch Jens Meier als HSV-Präsident.
Der Vorwurf an Meier: Hoffmann wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Warum gibt man ihm nicht im Falle seiner Wahl die Chance, als Vertreter des HSV e. V. selbst den künftigen Aufsichtsrat zusammenzustellen? „Natürlich müsste man überprüfen, ob aus Sicht des Hauptgesellschafters der Aufsichtsrat entsprechend aufgestellt ist“, schließt Hoffmann gegenüber dem Abendblatt sofortige Veränderungen jedenfalls nicht aus.
Dino Diekmeier kündigt Abgang an
Schlecht für den HSV, gut für Hoffmanns Wahlkampf: Die Profis verlieren weiter, am 10. Februar 0:2 in Dortmund. Auch der Hype um Torjägertalent Fiete Arp ist verflogen. Die Vorbereitungen auf das Abitur und der HSV-Stress belasten den 18-Jährigen. Arp sucht das Positive: „Bis auf die (fehlenden) Tore haben wir wenig falsch gemacht.“
Passend zur allgemeinen Untergangsstimmung: Dennis Diekmeiers Berater Volker Struth informiert Sportchef Jens Todt darüber, dass man das Angebot des Clubs ablehne. Der Dino unter den Spielern, seit 2010 im Verein, verlässt den HSV. Rund 2,2 Millionen Euro Grundgehalt soll die Forderung von der Diekmeier-Partei betragen haben, der HSV ist nur bereit, die Hälfte zu bezahlen, dazu gibt es Differenzen bezüglich der Laufzeit des Vertrags. Als Struth den HSV-Chefs ein Ultimatum stellt und mit mehreren Interessenten kokettiert, ist die Geduld der Hamburger erschöpft. Einen neuen Club konnte Diekmeier eine Woche nach dem Abstieg übrigens noch nicht präsentieren.
Ultras drehen durch – und Hoffmann gewinnt die Wahl
Intern steuert der vielschichtige Machtkampf auf seinen Höhepunkt zu, inklusive einiger Nebenkriegsschauplätze. So erfährt das Abendblatt, dass Investor Kühne nach dem Rückzug seines Vertrauten Karl Gernandt vorgeschlagen hat, den früheren HSV-Aufsichtsratschef Otto Rieckhoff wieder ins Gremium zu holen. Dieser signalisiert auch seine Bereitschaft. Doch am Ende scheitert ein Comeback des HSVPlus-Initiators am Veto des Beirats. Kurios, denn dieses Gremium wurde erst mit der Umsetzung von HSVPlus, mit der Ausgliederung 2014 gegründet. So nimmt Goedhart den letzten Platz im Aufsichtsrat ein.
Am 18. Februar kommt es also am Veranstaltungsort „Kuppel“ zum Duell Hofmann gegen Meier. Die Stimmung unter den Mitgliedern ist desaströs. Das Heimspiel gegen Leverkusen ist mit 1:2 verloren gegangen, und selbst die so treue Fanbasis droht wegzubrechen. Noch schlimmer: Die Ultras, die auf der Nordtribüne für Stimmung sorgen, stoßen Drohungen aus: „Bevor die Uhr ausgeht, jagen wir euch durch die Stadt!“ ist auf einem Spruchband zu lesen. Die Nerven liegen blank. Das Entsetzen über den sportlichen Offenbarungseid schlägt in Wut um. Ordner und Polizisten mit Hunden müssen nach dem Abpfiff einen Platzsturm verhindern.
Todt: Das kann nicht gut gehen – und tut es auch nicht
Hoffmann gelingt der Coup, er siegt hauchdünn über Meier. Und fünf Minuten nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses kommt es zum ersten direkten Gespräch mit Bruchhagen. „Da war mir schon alles klar“, sagt der kurz darauf geschasste Vorstandschef rückblickend.
Aber nicht nur Bruchhagen ist nur noch ein Vorstand auf Abruf, auch Todt sitzt auf dem Schleudersitz, das weiß mittlerweile jeder. Dennoch soll er die Planungen für die neue Saison vorantreiben – und gleichzeitig den erfolglosen Trainer Bernd Hollerbach stützen und ein Ratgeber sein. Das kann nicht gut gehen, und es geht auch nicht gut.
Bis es so weit ist, befeuert ein Spieler aus der zweiten Reihe das Image des Clubs, keine Peinlichkeit auszulassen. Am Donnerstag, dem 22. Februar, veröffentlicht der HSV auf seiner Internetseite einen Bericht über Vasilije Janjicic mit der Überschrift: „Ich habe einen schwerwiegenden Fehler gemacht.“
Janjicic und seine irre Trunkenheitsfahrt
Damit wird offiziell, was vorher nur vermutet werden konnte. Der Schweizer Vasilije Janjicic ist tatsächlich der Verursacher eines Verkehrsunfalls um 1.03 Uhr in der Nacht zum Donnerstag auf der A 7 Richtung Süden in Höhe Waltershof. Schlimmer noch: Er fährt mit 0,64 Promille, ohne Führerschein und versucht gegenüber der Polizei bei der Unfallaufnahme auch noch, seine Identität zu verbergen: Er sei sein Zwillingsbruder Stanko, behauptet er.
„Ich weiß, dass ich die Folgen meines Fehlverhaltens nun verantworten muss“, lässt der HSV seinen Mittelfeldspieler mitteilen. Darüber hinaus gibt es über das Wieso, Weshalb und Warum der nächtlichen Alkoholfahrt keine Erklärung des 19-Jährigen. Fakt ist, dass es zuvor einen internen Mannschaftsabend der Spieler gegeben hat. Eine Initiative der Spieler mit Wissen von Hollerbach, aber ohne dessen Anwesenheit. Die Profis wollten sich im Abstiegskampf noch einmal untereinander einschwören, aussprechen, Zusammenhalt üben. Laut HSV ist die Veranstaltung aber lange vor dem Unfallzeitpunkt beendet.
Laut Polizeiangaben hat Janjicic bei dem Unfall in seinem Mercedes CLA AMG „mit überhöhter Geschwindigkeit“ die Fahrspur gewechselt und dabei einen Toyota übersehen, fährt ungebremst auf den Wagen auf. Wie reagiert der HSV? Mit Nachsicht, der Club lässt Janjicic nicht fallen. Am 10. März wird er gegen die Bayern wieder in der Startelf stehen.
Hollerbach wartet auf den Erfolg. Erfolglos.
Immerhin sorgt Problemprofi Walace nicht für neue Schlagzeilen. Rechtzeitig vor dem Bremen-Spiel kehrt der von Hollerbach gehätschelte Brasilianer vom Baby-Urlaub aus der Heimat zurück, was allerdings auch nicht die bittere 0:1-Niederlage gegen den Nordrivalen verhindern kann. Peinlich: Wieder fallen die HSV-Anhänger negativ auf. Aus dem mit 3500 Hamburgern besetzten Gästeblock fliegen Feuerwerkskörper und Böller. Schiedsrichter Felix Zwayer muss die Partie dreimal unterbrechen. Eine Leuchtrakete, die auf dem Rasen landet, verfehlt Aaron Hunt nur knapp.
So kommt es eine Woche später, am 3. März, zur als Abstiegsendspiel deklarierten Partie gegen Mainz 05. „Natürlich sehnen wir uns alle nach dem ersten Sieg, die ganze Mannschaft genauso wie ich“ sagt Hollerbach. In fünf Spielen hat er von 15 möglichen Punkten nur zwei geholt, vereinsübergreifend (inklusive Würzburg) wartet der Coach seit 22 Spielen auf einen Erfolg.
Mangel an Engagement kann man dem 48-Jährigen nicht vorwerfen, aber, um eine von etlichen Hollerbach-Phrasen zu bemühen: Den Bock konnte er bisher nicht umstoßen. Vielleicht auch deshalb, weil er zwar ein guter Defensivtrainer sein mag, aber in Hamburg krankt es im Angriff – wie auch beim folgenden, bitteren 0:0-Remis gegen Mainz, das die Hoffnungen auf den Klassenerhalt auf ein Minimum sinken lässt. Die Fans sind bedient: „Danke für nichts – ihr Söldner!“, schreiben sie auf ein Banner in der Nordkurve.
Bruchhagen und Todt müssen dem Neuanfang weichen
Heribert Bruchhagen weiß an jenem Donnerstagmorgen, dem 8. März, was auf ihn zukommt. Bernd Hoffmann hat sich zusammen mit Aufsichtsrat Max-Arnold Köttgen um 9 Uhr im Büro des Vorstandsvorsitzenden angekündigt. „Wir wollen einen Neuanfang“, sagt Hoffmann, der am Vorabend in einer Aufsichtsratssitzung den Posten des Gremiumsvorsitzenden von Michael Krall übernommen hat. „Sie machen einen Riesenfehler“, entgegnet Bruchhagen. „Wenn Sie schlau sind, entlassen Sie mich erst am 31. August, nach dem Ende der Transferperiode.“ Nach einem Abstieg, so argumentiert Bruchhagen, könne er nach dem wahrscheinlichen Abstieg wertvolle Dienste beim Ein- und Verkauf von Spielern leisten.
Doch die Entscheidung ist gefallen. Zugleich ernennt der Aufsichtsrat Finanzchef Frank Wettstein zum neuen Vorstandschef. Dessen erste Amtshandlung: Er stellt auch Jens Todt frei.
Als das Abendblatt im Mai Bruchhagen in Harsewinkel trifft, beurteilt der 69-Jährige seine Entlassung nüchtern: „Wenn in Hamburg die Ergebnisse nicht stimmen, werden die Köpfe ausgetauscht, warum sollte es mir anders ergehen?“, fragt Bruchhagen. „Ich war zwar nicht für alles verantwortlich, aber ich trug die Gesamtverantwortung.“
Das Ende des Köpferollens ist mit Bruchhagen und Todt aber noch nicht erreicht: Nach dem 0:6 bei Bayern München ahnt Bernd Hollerbach selbst, dass seine Entlassung naht: „Die Verantwortlichen müssen ihre Entscheidung treffen.“ Und weiter: „Die Herren werden irgendwann mit mir reden, ist doch klar.“
Nach Reden ist hingegen den Fans schon lange nicht mehr. Noch in der Nacht nach der Schlappe in München müssen Polizeikräfte zum Volksparkstadion ausrücken.
Unbekannte haben am Zaun des Trainingsgeländes elf Grabkreuze aufgestellt und dazu ein Banner mit dem Spruch aufgehängt: „Eure Zeit ist abgelaufen! Wir kriegen euch alle!“ Ermittlungen werden aufgenommen, die Zahl der Ordner um das Volksparkstadion herum erhöht. Immerhin: Beim Auslaufen am Sonntagvormittag bleibt es ruhig. Aber schon einen Tag später wird der HSV wieder die Schlagzeilen beherrschen, wenn am Montagmorgen bei Hollerbach das Telefon klingeln und Allein-Vorstand Frank Wettstein ihm sein Aus mitteilen wird.
Hoffmanns knapper Sieg in der Kampfabstimmung
Draußen ist es bereits dunkel an diesem 18. Februar 2018, im Zelt der „Kuppel“ in Bahrenfeld ist die Spannung kaum auszuhalten, weder für die HSV-Mitglieder noch für Amtsinhaber Jens Meier und Herausforderer Bernd Hoffmann. Wer wird neuer HSV-Präsident?
In seiner Rede hat Meier versucht, mit seinen Erfolgen im e. V. zu punkten, und kündigt an, erfahrene Fußballgrößen als Berater hinzuzuziehen. Er nennt keine Namen, aber einer der Experten soll DFB-Sportdirektor Horst Hrubesch sein, der am Jahresende in Rente geht.
Hoffmann lenkt hingegen den Fokus auf die Bundesliga: „Ein ,Weiter so‘ darf es nicht geben. Wir haben ein anderes Verständnis von Präsidiumsarbeit. Die Herzkammer schlägt in der Fußball AG.“ Seine Rede beendet er mit den Worten: „Schon nächsten Sonnabend, 18.30 Uhr, kommen wir mit 5000 Anhängern nach Bremen, und dann werden wir dort so richtig aufmischen. In diesem Sinne: nur der HSV.“
Die Mitglieder sind gespalten. „Man war sehr fokussiert auf die Sitzungsleitung“, erinnert sich Meier knapp drei Monate später beim Gespräch mit dem Abendblatt. „Aber dass es keine klare Mehrheit in eine Richtung gibt, war deutlich erkennbar.“
Was Meier allerdings entgeht: Weil sich die Sitzung in die Länge zieht, verlassen einige Amateure (das Eishockeyteam, die Fußballer des HSV III) vorzeitig die Kuppel. Ein Nachteil für Meier.
Um 17.50 Uhr tritt Versammlungsleiter Kai Esselsgroth ans Mikrofon und verkündet: „Wir haben ein Ergebnis.“ Kurz darauf leuchten auf der Videowand Weiß auf Blau die Zahlen des denkbar knappen Wahlausgangs auf: 560 Stimmen für Jens Meier, 585 für Bernd Hoffmann, 14 Enthaltungen. Mit 51,09 Prozent der Stimmberechtigten, man könnte auch sagen 50+1, ist Hoffmann zum HSV-Präsidenten gewählt.
„So sehen Sieger aus“, schallt es von der einen Seite, trotzig antworten die enttäuschten Gegner mit „Hoffmann raus“-Rufen.
Machtvakuum direkt nach der Wahlentscheidung
Auch heute kann Meier noch rekapitulieren, was in den Sekunden nach der Kampfabstimmung passierte: „Es gab ein kurzes Vakuum. Keiner wusste, wie es weitergehen soll. Als derjenige, der nicht mehr gewählt ist, kannst du ja nicht sagen: Ich leite die Versammlung mal eben zu Ende.“ Weil sich keiner meldet, verlassen Meier und seine Präsidiumskollegen die Bühne.
Während sich Meier nach der Niederlage äußerlich nichts anmerken lässt, vergießen einige Vertraute Tränen. Hoffmann gibt im Nebenraum die ersten Interviews, Meier sagt nur: „Der Moment gehört den Gewinnern.“ Er verabschiedet sich von den Leuten aus seinem Umfeld, bedankt sich für die Organisation. Was wohl den Ausschlag gab? „Die meisten haben gesagt: Das Ergebnis ist dem Tabellenstand geschuldet.“
Dann fährt Meier nach Hause. Von unterwegs ruft er seine Ehefrau an, die die Übertragung bei Hamburg 1 verfolgt hat. „Wie so häufig an Sonntagen sind wir was essen gegangen. Meine Familie war emotionaler als ich. Ich habe das Amt sehr gerne ausgeübt, aber es war eine demokratische Wahl. Ich wünsche Bernd Hoffmann, seinem Team und dem gesamten HSV viel Erfolg.“
Hoffmann lädt Freunde, die Familie und Mitstreiter, die ihn beim Comeback sieben Jahre nach seinem Ausscheiden als Vorstand unterstützt haben, ins Da Remo in Eppendorf ein. Minipizzen und Nudeln werden gereicht. Doch nach 90 Minuten ist die Wahlparty für Hoffmann wieder beendet. Er hat dem NDR- „Sportclub“ einen Besuch versprochen.
Wie sieht er heute seinen Sieg über Meier? „Die sportliche Lage am Wahlwochenende war so, dass es einerseits eine Grundstimmung gab, dass sich etwas ändern müsse. Andererseits hatten die Leute nach der erneuten Niederlage gegen Leverkusen die Nase voll, sind deswegen gar nicht erst gekommen. Ich hatte schon am Morgen das Gefühl, dass es sehr knapp werden könnte.“
Für Meier war es wichtig, dass er seiner Linie treu geblieben ist: „Ich bin als Person nie in einen schmutzigen Wahlkampf abgedriftet.“ Und: „Im Nachhinein war es eine tolle Zeit, wir haben einiges positiv bewegt, viele neue Freunde gewonnen, und ich bleibe natürlich durch und durch HSVer.“ Bei Bedarf unterstützt Meier den HSV auch weiterhin, das hat er seinem Nachfolger sowie dem Vorstand versprochen. So klingt keiner, der eine Rückkehr zum Verein für alle Ewigkeiten ausschließt.
Abschied mit Applaus und Böllern
Montag, der 12. März: Während sich im Stadion Allein-Vorstand Frank Wettstein und Sportdirektor Bernhard Peters verschanzt haben, warten vor der Schranke auf dem Parkplatz fünf Kamerateams und 20 Journalisten auf die zweite Trainerentlassung der Saison. HSV-Alltag. Am Mittag macht Bernd Hollerbach, der in Würzburg bei seinen Eltern weilt und zuvor von Wettstein angerufen wurde, via Abendblatt seine Beurlaubung offiziell. „Natürlich bin ich enttäuscht, aber so ist nun mal das Geschäft.“
Am Nachmittag tritt Wettstein vor die Kameras. „Wir haben die sportliche Gesamtlage intensiv analysiert und diskutiert“, sagt er. „Am Ende sind wir zur Überzeugung gelangt, dass wir im Hinblick auf unsere Chancen im Kampf um den Klassenerhalt handeln mussten.“ Hollerbach geht, Titz kommt. „Christian Titz denkt nicht in Risiken, sondern in Chancen“, sagt Wettstein.
Doch die Titz-Beförderung bleibt nicht die einzige Neuigkeit des Tages. Via Twitter teilt der HSV mit, dass auch Thomas von Heesen verpflichtet wurde. Als Quasi-Jens-Todt-Nachfolger. „Thomas wird dem Trainerteam als Sparringspartner dienen, die Mannschaft tagtäglich begleiten, Gespräche mit Beratern haben und das Teammanagement führen“, erklärt Wettstein kurz und knapp die neue Personalie, über die wenig später noch sehr viel ausführlicher gesprochen werden soll.
Doch zunächst tritt Neu-Trainer Titz in den Fokus. „Der Aller-aller-aller-letzte-Chance-Trainer“ (Abendblatt vom 14. März) wischt einmal feucht durch: Titz beordert die halbe U 21 zu den Profis, organisiert mit 33 Spielern eine Art Bundesliga-Casting und sortiert rigoros aus: Walace, Dennis Diekmeier, Mergim Mavraj und André Hahn werden aus dem Kader gestrichen. Titz’ erneuerter HSV überzeugt 45 Minuten lang – verliert aber 1:2 gegen Berlin.
Walace postet Victory
Hoch her geht es nach dem Spiel. Während der degradierte Walace provokante Fotos mit freiem Oberkörper und Victory-Zeichen postet, pestet der Bankdrücker Kyriakos Papadopoulos: „Schade, dass der Trainer nicht mit mir gesprochen hat“, schimpft der emotionale Grieche, „in dieser Situation immer etwas Neues zu probieren ist nicht die beste Lösung.“
Das Ende vom Lied: Walace wird suspendiert – und soll im Sommer verkauft oder verliehen werden. Mit Papadopoulos spricht sich der Trainer dagegen aus. Und siebeneinhalb Wochen später kann man schon fast von einer Liebesbeziehung sprechen. „Auch wenn ich mit ihm anfangs Probleme hatte: Die Arbeit ist überragend, die er leistet“, lobt „Papa“ nach dem Abstieg. „Der Trainer ist der Hauptgrund dafür, dass wir zuletzt so aufgetreten sind. Leider ist er nicht früher gekommen. Sonst hätten wir es geschafft, das ist die Wahrheit.“
Mit der Wahrheit ist es auch rund um die Person von Heesen so eine Sache. Am 22. März veröffentlicht das Abendblatt eine Themaseite mit dem Titel „von Heesens Geschäfte“. Mithilfe von zahlreichen Dokumenten, Verträgen und E-Mails berichtet diese Zeitung umfangreich über von Heesens Investitionen der vergangenen Jahre. Es geht um Beteiligungen an Spielern, die er gleichzeitig trainiert hat. Um die Beratung von Geschäftspartnern, die einen finanziellen Totalschaden beklagen. Und um den mehrfach gescheiterten Versuch, mit dem HSV geschäftlich gemeinsame Sache zu machen.
Und der HSV? Versteht die Welt nicht mehr. „Die Berichterstattung hat wohl nur das Ziel, möglichst große Unruhe in den HSV zusätzlich zur schwierigen sportlichen Situation zu tragen“, sagt Wettstein.
Hamburg kehrt dem HSV den Rücken
Recht hat der Vorstand damit, dass die sportliche Situation schwierig bleibt. Erst schwänzt der suspendierte Walace das U-21-Training und postet lieber Gucci-Fotos aus Mailand, dann verschärft sich der Abstiegskampf nach dem 1:1 in Stuttgart. Auch der Radikalkurs von Titz, der in Stuttgart neben Matti Steinmann auch auf die Youngster Stephan Ambrosius und Mohamed Gouaida setzt, geht vorerst nicht auf. Der HSV ist Tabellenletzter – die Fans, Stadt und Partner kehren dem Club den Rücken. Fristgerecht zum 31. März kündigen mehr als 40 Prozent der VIP-Fans ihre Tickets bei Vermarkter Lagadère, so die offizielle Zahl, in Wirklichkeit sollen es noch viel mehr sein.
Doch gerade als sich der HSV auf den sportlichen GAU zubewegt, ist ein Hoffnungsschimmer sichtbar. Am 8. April gewinnen die Hamburger nach zuvor 15 sieglosen Spielen in Folge gegen Schalke 3:2. „Wir leben noch“, sagt Douglas Santos nach dem ersten begeisternden Spiel seit einer gefühlten Ewigkeit. „Die Sonne lacht wieder“, sagt Trainer Titz am Tag nach seinem ersten Bundesligasieg.
Die alte Garde des HSV ist alles andere als überzeugt. „Mein alter Freund Hermann Rieger wird sich im Grabe umdrehen, wenn er das alles mit ansehen muss“, sagt Felix Magath dem NDR. Und auch Magaths früherer Mannschaftskollege Holger Hieronymus findet deutliche Worte: „Wie sich der HSV im Gesamtgebilde darstellt, ist für mich ein Albtraum.“ Aufsichtsratschef Hoffmann verspricht einen radikalen Neuanfang: „Wir werden jeden Stein umdrehen.“
Trainer Christian Titz überrascht alle
Investor Klaus-Michael Kühne scheint das nicht zu reichen. „Gezahlt wird erst, wenn die Rechnung stimmt, und im Augenblick stimmt sie noch nicht“, kritisiert der Milliardär bei einer Veranstaltung. Er wünsche sich, dass etwa die Stadt dem HSV mehr Gunst und Förderung zukommen lässt. „Ich glaube, das würde mich wieder motivieren, auch weiter mitzumachen“, sagt er.
Zwei Tage später die Überraschung: Der HSV erhält die Lizenz für die Erste und Zweite Liga ohne Bedingungen und Auflagen. „Wir haben beide Ligen-Szenarien inhaltlich professionell vorbereitet und freuen uns über den Erhalt der Lizenzen“, sagt Vorstand Wettstein. Was er zunächst nicht sagt: Für eine Lizenz ohne Wenn und Aber musste der HSV einen Zwölf-Millionen-Euro-Kredit bei der BodenseeBank aufnehmen (der Zinssatz soll bei sechs Prozent liegen), zudem den bis 2020 laufenden Vertrag mit Vermarkter Lagardère vorzeitig um mindestens fünf Jahre (Zweitliga-Spielzeiten zählen nicht mit) verlängern. 20 Millionen Euro lässt der Vermarkter dafür springen. Intern spricht Wettstein vom besten Lagardère-Vertrag der Bundesliga. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sich der Vermarkter mit verbesserten Konditionen deutlich mehr als die Summen zurückholen wird. „Damit haben sie das Tafelsilber verkauft. Ich hätte das nicht so gemacht“, lästert ein paar Tage später der diesmal nicht gefragte Kühne in der „Wirtschaftswoche“.
Über die Finanzen kann man also unterschiedlicher Meinung sein. Über den sportlichen Aufschwung unter Trainer Titz dagegen nicht. Nach dem 1:0-Sieg über Freiburg hat der HSV den Acht-Punkte-Rückstand auf fünf Zähler reduziert. „Es ist verrückt, wie schnell es im Fußball gehen kann“, sagt Titz. Und es soll noch besser kommen.
Nur eine Woche später titelt das Abendblatt: „Die Wiederauferstehung“. 3:1 gewinnen die Hamburger in Wolfsburg und verkürzen zwei Spieltage vor Schluss den Rückstand auf zwei Punkte. „Ich glaube immer noch fest daran, dass wir es schaffen“, sagt Torschütze Lewis Holtby, der vom Aussortierten zum Gesicht des Aufbruchs wird.
"Wir spielen das erste Mal seit vier Jahren Fußball"
Seine deutliche Ansage in Richtung der Ex-Trainer Gisdol und Hollerbach: „Wir spielen das erste Mal seit vier Jahren Fußball.“ Etwas gemein könnte man hinzufügen: Und er trifft das erste Mal seit vier Jahren. Tatsächlich konnte „die Lusche“ („Bild“-Zeitung) in dreieinhalb Jahren gerade vier Treffer für den HSV erzielen. In acht Titz-Spielen dagegen wird Holtby bis zum Saisonende sechsmal treffen. Sein plötzliches Erfolgsgeheimnis: „Es macht einfach Spaß.“
Doch am 5. Mai, dem Tag des selbst ernannten Halbfinales gegen Eintracht Frankfurt, spricht zunächst einmal niemand über Fußball – sondern über ein Abendblatt-Interview. In diesem bringt sich Sportdirektor Peters selbst als neuer Sportvorstand ins Spiel. „Wenn es gewünscht ist, bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, dass es in dieser Konstellation Sinn ergeben kann“, sagt Peters, der grundlegende Strukturveränderungen anmahnt. „Wir müssen uns in unserer Struktur unabhängig machen von Trainern und Managern. Wir müssen Wiedererkennungsmerkmale als DNA des HSV implementieren. Das kannst du nur mit einer übergeordneten Struktur. Das muss ligaunabhängig von den Entscheidern verstanden werden.“
Wirbel um Abendblatt-Interview von Bernhard Peters
Ein Entscheider ist not amused. „Jeder darf seine Ambitionen intern äußern“, sagt Bernd Hoffmann, der auf Nachfrage, ob er das auch Peters so gesagt habe, antwortet: „Das bleibt intern.“
Nicht intern bleibt, dass Peters nach seinem Vorstoß keine Chance mehr auf eine Beförderung zum Sportvorstand hat. Genauso wenig wie Leverkusens Jonas Boldt und Mainz’ Rouven Schröder, die aber von sich aus absagen. Offen ist, wie Peters’ Zukunft trotz eines Vertrages bis 2020 aussieht – schließlich besitzt der 58-Jährige eine Ausstiegsklausel nach einem Vorstandswechsel.
Als fast endgültige Absage an die Klassenerhaltsambitionen wird das 0:3 gegen Frankfurt empfunden. Doch für den traurigen Titz kommt ein Aufgeben vor dem letzten Spieltag nicht infrage.
Die Fans haben den Glauben zurück
Und obwohl die Ausgangslage vor dem letzten Spiel der 55. Bundesligaspielzeit denkbar schlecht ist, scheint in der Woche vor dem Saisonfinale tatsächlich ein Ruck durch Hamburg zu gehen. Und dieser Ruck fängt ganz banal mit einer Kugel Eis an. Diese spendieren die HSV-Profis drei Tage nach dem 0:3 allen Trainingszuschauern. „Die Mannschaft gibt jedem von euch eine Kugel Eis aus“, ruft Kapitän Gotoku Sakai den immerhin 170 Fans zu, die am Dienstag zum viertletzten Bundesligatraining kommen.
Die nett gemeinte Geste verbreitet sich schnell im Internet – genauso wie die offizielle Einladung des HSV, dass Anhänger beim normalerweise geheimen Training unter Ausschluss der Öffentlichkeit am letzten Donnerstag der Saison explizit erwünscht sind. Trainer Titz soll die Idee dazu gehabt haben, um vor dem entscheidenden Saisonwochenende den Schulterschluss mit den erfolgsentwöhnten Fans zu suchen.
2000 HSV-Fans feiern Spieler beim öffentlichen Training
Um es vorwegzunehmen: Die Idee geht auf. Pünktlich zum Trainingsstart um elf Uhr warten zwei Tage vor dem letzten Saisonspiel gegen Mönchengladbach mehr als 2000 Anhänger auf die HSV-Profis. Als die Spieler und Trainer Titz die Treppe herunterkommen, wird geklatscht und gesungen: „Niemals Zweite Liga!“ und „HSV, HSV!“.
Ballbesitz, Offensive, Mut
Unzählige Plakate, die Mut machen sollen, hängen an dem Zaun, an dem vor Kurzem noch Drohbanner angebracht waren. Jetzt steht auf einem Plakat: „Vater unser im Fußballhimmel. Dein Ball komme, Dein Spiel geschehe. Wie in Wolfsburg, als auch in Hamburg. Vergib uns unsere schlechte Saisonleistung, wie auch wir vergeben die eine oder andere Schiedsrichter-Entscheidung. Führe uns nicht in die Zweite Liga, sondern erlöse uns vor dem Abstiegsfluch. Amen.“
Die Verantwortlichen des HSV reagieren auf die neue Aufbruchstimmung rund um Trainer Titz umgehend. Am Nachmittag gibt Vorstand Wettstein via WhatsApp bekannt: „Vorstand und Aufsichtsrat wollen ligaunabhängig mit Trainer Christian Titz weiterarbeiten.“
Eine Entscheidung, die nicht nur in Hamburg gut ankommt. „Wenn der HSV das über die ganze Saison mit Titz gezeigt hätte, wäre der HSV niemals in der aktuellen Situation“, sagt Eurosport-Experte Matthias Sammer. Vor allem die Herangehensweise imponiere ihm: „Titz verwaltet nicht, er lässt agieren. Ballbesitz, Offensive und Mut. Er lässt nicht konservativ defensiv agieren. Er will nach vorne spielen.“
Frank Wettstein runzelt beim Saisonrückblick in der Stadionloge die Stirn und überlegt, was er auf die nur schwer zu beantwortenden Fragen Wieso, Weshalb, Warum entgegnen soll. Schließlich sagt er: „Ob wir mit einem anderen Kader erfolgreicher gewesen wären, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass wir mit einer anderen Spielidee in den ersten 26 Spielen erfolgreicher gewesen wären.“ Wettstein hatte sich schon sehr früh für Titz ausgesprochen – genauso wie für dessen ligaunabhängige Beförderung. „Es ist zu einfach, wenn man behauptet, dass die Kaderzusammenstellung falsch sei. Die letzten Spiele haben gezeigt, dass die Kaderzusammenstellung eben nicht falsch ist“, sagt Wettstein. „Wir haben ja eine wettbewerbsfähige Mannschaft. Das hat man in den letzten Saisonspielen gesehen.“ In den letzten Spielen unter Titz.
Teil eins des Wunders gelingt, aber Wolfsburg spielt nicht mit
Doch einen letzten Tusch soll es noch geben. Sonnabend, der 12. Mai, 15.30 Uhr. Der 34. Spieltag – und die Ausgangslage ist klar: Der HSV muss gegen Gladbach gewinnen und gleichzeitig auf einen Kölner Sieg in Wolfsburg hoffen. Der HSV braucht zwei Wunder. Mehrere Tausend Fans, die den Mannschaftsbus schon vor dem Spiel gegen Gladbach am Stadion lautstark empfangen, glauben und hoffen auf die Wunder.
Wunder Nummer eins geht tatsächlich in Erfüllung. Nach dem zwischenzeitlichen 1:1 schießt Lewis Holtby nach gut einer Stunde das 2:1, das der HSV erfolgreich bis zum Schluss verteidigt. Doch das Problem ist Wunder Nummer zwei. Auch in Wolfsburg steht es kurzzeitig 1:1, dann dreht der VfL auf: 2:1, 3:1 und schließlich das 4:1. Der erste Abstieg des HSV ist 20 Minuten vor dem letzten Abpfiff in der Bundesliga besiegelt. Der unabsteigbare HSV ist abgestiegen.
Das Unglaubliche passiert
Doch als sich die schlechten Nachrichten aus Wolfsburg im Volksparkstadion herumsprechen, passiert das Unglaubliche: Die Fans, von denen noch vor zwei Monaten viele randalierten, sich abwandten und mit ihrem Herzensclub abgeschlossen hatten, beginnen zu singen: „Mein Hamburg lieb ich sehr. Sind die Zeiten auch oft schwer. Weiß ich doch, hier gehör ich her.“
Erst singen die Treusten der Treuen auf der Nordtribüne, dann die Zuschauer im Westen und die Fans im Osten, schließlich das ganze Stadion. Zwei Minuten, fünf Minuten, 20 Minuten. Aus vollem Herzen.
"Tschüs" heißt "Auf Wiedersehen"
In der Nachspielzeit haben dann noch ein paar Halbstarke ihren Auftritt. Böller werden gezündet, Rauchbomben qualmen, Feuerwerkskörper werden geworfen. Rund 100 Ultras wollen offenbar nicht glauben, dass man sich auch als Gründungsmitglied mit Anstand und Stolz aus der Bundesliga verabschieden kann. Polizisten stürmen das Spielfeld, mit Hunden und mit Pferden. Doch dann geschieht erneut etwas Außergewöhnliches. Die anderen Zuschauer zeigen Flagge gegen den Mob: „Holt sie raus“, fordern sie die Polizei auf.
HSV nach dem ersten Abstieg im Gefühlschaos
20 Minuten später ist der Spuk vorbei. Die Randalierer ziehen unter lautstarken Beschimpfungen von dannen. Schiedsrichter Felix Brych pfeift an und Sekunden später ab. Weinende Anhänger sitzen auf der Tribüne, Spieler liegen heulend auf dem Rasen. Dann dreht das Team noch eine Ehrenrunde. Auch Luca Waldschmidt, der Retter aus dem letzten Jahr, ist dabei. Es ist also wirklich passiert: Hamburg ist zweitklassig.
Doch es gibt ein Leben nach der Bundesliga. In der Woche nach dem Abstieg freut sich der HSV über 2100 Neu-Mitglieder. Das trotzige Statement: Jetzt erst recht. In Hamburg sagt man Tschüs, das heißt auf Wiederseh'n.
Meilensteine der Bundesliga-Geschichte
Der HSV – Meilensteine der Bundesliga-Geschichte