Hamburg. Gelingt Markus Gisdol die Rettung? Es gibt tatsächlich Aspekte, die für ein Hamburger Fußballwunder sprechen könnten.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Natürlich nicht, davon zeugen alleine schon die mageren vier Punkte, der nach wie vor letzte Tabellenplatz und die anhaltende Sieglosigkeit des HSV im nunmehr zwölften Spiel seiner 54. Bundesligasaison.
Doch ein paar Hoffnungsschimmer für den Hamburger Anhang erhellen das auch nach dem 2:2 im Nordderby gegen Werder Bremen vorherrschende Dunkel beim Dino. Abendblatt.de listet die Lichtblicke auf, ohne die verbesserungswürdigen Punkte zu vernachlässigen.
Die Lage
Positiv: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Mit dem zweiten Punkt und zweiten nicht verlorenen Spiel in Folge hat der HSV (4 Punkte) zumindest die Distanz auf Werder Bremen (8) und Ingolstadt (6) nicht größer werden lassen und selbige auf Darmstadt 98 (8) sogar verringern können. Aus diesem Quartett werden sich am Ende der Saison höchstwahrscheinlich die beiden Direktabsteiger sowie der Relegationsteilnehmer rekrutieren. Damit rechnet nicht nur Ex-HSV-Torhüter Jürgen Stars, der diese Prognose am Sonnabend bei "Matz ab" stellte.
Im nächsten Spiel in Darmstadt hat der HSV am kommenden Sonntag (15.30 Uhr) nun sogar die große Möglichkeit, mit einem Sieg bis auf einen Zähler an die Hessen heranzurücken, während sich zuvor Werder und Ingolstadt im direkten Duell gegenseitig die Punkte weggenommen haben werden. Mit einem Punktgewinn würde der HSV gleichzeitig auch endgültig die lästige Fliege Tasmania Berlin abschütteln. Immerhin ist der Dino durch das 2:2 im Nordderby mit dem schlechtesten Absteiger der Bundesligageschichte (8 Punkte nach alter Regel, umgerechnet 10 Punkte nach neuer) zum Vergleichszeitpunkt 12. Spieltag endlich schon einmal gleichgezogen.
Trotz der Sieglosigkeit macht ein Blick ins Geschichtsbuch Hoffnung: Denn in der Saison 1991/92 gelang es dem 1. FC Köln, nach dem ersten Saisonsieg am 14. Spieltag am Ende sogar – man mag es kaum erwähnen – auf den 4. Platz zu stürmen.
Negativ: Das Kölner Kunststück blieb allerdings auch das einzige der insgesamt sechs Vereine, die bislang nach zwölf Spielen in der Ersten Liga noch immer auf den ersten Erfolg warteten. Alle anderen stiegen am Saisonende nämlich ab.
Die Lage bleibt für den HSV daher äußerst dramatisch. Neben dem ausgebauten negativen Startrekord der eigenen Geschichte droht am nächsten Spieltag mit einem Misserfolg in Darmstadt auch der schlechteste Beginn aller Mannschaften in der Bundesligahistorie – gemeinsam mit Tasmania. Denn dem bisherigen "Rekordhalter" 1. FC Saarbrücken gelang am 13. Spieltag der Premierensaison 1963/64 der erste Sieg und damit nach Anwendung der Drei-Punkte-Regel der fünfte Zähler.
Doch alle Vergleiche wären Makulatur, sollte dem HSV doch noch das Wunder gelingen. Aber selbst, wenn sich im Abstiegskampf ein ähnliches Schneckenrennen wie in der Spielzeit 2013/14 abzeichnen sollte, bräuchte die Mannschaft von Trainer Markus Gisdol noch mehr als 20 Punkte. Damals genügte Hamburg mit 27 die geringste Punktzahl seit Einführung der Drei-Punkte-Regel, um über Platz 16 den Klassenerhalt über die Relegation zu schaffen.
Würden also jene 27 Punkte als Maßstab gesetzt, müssten die Rothosen in den ausbleibenden 22 Spielen noch 23 Zähler sammeln. Betrachtet man allein die eigene Ausbeute der vergangenen drei Serien in diesem Restzeitraum, scheint dieses Unterfangen zwar nicht unmöglich, aber auch nicht selbstverständlich: Vergangene Saison holte der HSV zwischen dem 13. und 34. Spieltag noch 26 Punkte, in der Spielzeit davor 23 Punkte und in der Saison 2013/14 lediglich 15.
Wohlgemerkt: Die 27 Punkte für den Klassenerhalt vor drei Jahren waren absoluter Minuswert. Ansonsten waren in allein in den vergangen fünf Bundesligajahren zwischen 31 und 36 ausschlaggebend für die Rettung.
Der Trainer
Positiv: Markus Gisdol hat den Glauben an den Klassenverbleib naturgemäß nicht verloren – und er tut einiges dafür, diesen auch in Taten umzusetzen. Der überforderte Kapitän Johan Djourou wurde abgesetzt und durch "Mr. Zuverlässig" Gotoku Sakai ersetzt. Dem ungünstigen Spielplan mit alleine zwei Länderspielpausen in seiner noch jungen Amtszeit hat Gisdol getrotzt und für Teambuildung und weitere Systemarbeiten bereits ein Trainingslager abgehalten.
Nur im Ansatz abwanderungswillig erscheinende Spieler kommen bei Gisdol nicht mehr zum Zug. Jüngstes Beispiel ist Alen Halilovic, der gegen Bremen trotz Verletzungssorgen wiederholt noch nicht einmal im Kader stand. Stattdessen scheint Gisdol bereit, vermehrt auch jüngeren Spielern wie Luca Waldschmidt oder Finn Porath eine Chance geben zu wollen. Bakery Jatta stand zuletzt zumindest schon im Bundesligaaufgebot.
Markus Gisdol probiert vieles über positive Energie und gute Gedanken. Daher gehört inzwischen auch wieder ein Sportpsychologe zum Trainerteam, erste Erfolge sind bereits sichtbar. Zumindest Nicolai Müller lässt sich durch die Eingaben Christian Spreckels' inspirieren. Auch mit dem Pfund der eigenen Vita kann Gisdol wuchern: Als Trainer von Hoffenheim gelang dem heute 47-Jährigen in der Saison 2012/13 mit einem Endspurt von elf Punkten in sieben Spielen noch der rückblickend als Fußball-Wunder zelebrierte Klassenerhalt.
Negativ: Mit Kapitänswechsel, Kurztrainingslager oder auch deutlichen Ansagen an Spieler ("Wer weg will, soll das sagen") und Verantwortliche ("Die Erwartungshaltung ist überzogen") scheint Gisdol das handelsübliche Repertoire im Psycho-Modus Abstiegskampf schon im ersten Saisondrittel aufgebraucht zu haben. Führen diese Maßnahmen nicht mittelfristig zu nachweisbaren Erfolgen, hätte sich Gisdol als Abstiegskämpfer schneller abgenutzt, als es ihm lieb sein könnte.
Als Nachfolger von Bruno Labbadia konnte Gisdol den Kontrast zum "Hamburger des Jahres 2015" noch immer nicht ganz verringern. Schon bei der Antrittsrede wirkte der Auftritt des Schwaben für das Gros der Pressevertreter gewöhnungsbedürftig. Und auf eine in Ansätzen hanseatische Mentalität wird im Hamburger Umfeld nun mal noch immer Wert gelegt – ob es zugegeben werden will oder nicht.
Die Bilder des rasanten Nordderbys:
Wildes 105. Nordderby HSV gegen Werder Bremen
Das Personal
Positiv: Es gibt sie endlich wieder, die formstarken Individualisten. Schon 2013/14 konnte sich die Mannschaft bei Einzelspielern wie Hakan Calhanoglu (elf Tore), Pierre-Michel Lasogga (13 Tore) oder Torhüter René Adler für den Klassenerhalt bedanken. Auch 2014/15 gingen einzelne Profis wie Gojko Kacar am Ende voran.
In der jetzigen Phase zeichnen sich Nicolai Müller, Michael Gregoritsch oder auch Lewis Holtby als Stabilisatoren ab – und zumindest als Belebung für die Offensive. Nach zuvor nur zwei Toren in neun Spielen erzielte der HSV-Sturm auch ohne Bobby Wood zuletzt immerhin acht Treffer in drei Spielen. Das gelang letztmals vor ziemlich genau drei Jahren. Der Lohn: Am 12. Spieltag wurden Müller und Gregoritsch vom "Kicker" in die "Elf des Tages" berufen, auch die "Sportschau" belohnte letzteren mit einer Nominierung.
Auch Sakai scheint die Spielführerbinde zu beflügeln und in seiner Leistung weiter zu stärken. Über die verbesserte Form steigert sich auch der Zusammenhalt der gesamten Mannschaft. Ausdruck dafür ist auch die hinzugewonnene Stabilität. Kassierte der HSV in den ersten zehn Saisonspielen allein 17 der bis dato 23 Gegentreffer in der letzten halben Stunde, hielt das Team in den vergangenen beiden Partien in diesem Zeitraum den Kasten sauber und nahm in der zweiten Halbzeit nur noch einen Treffer hin.
Darüber hinaus steigerte sich die Laufleistung des Teams in den letzten beiden Auftritten über insgesamt 117,1 Kilometer bis zum bisherigen Saison-Bestwert von 118,3 Kilometern gegen Bremen. Zum Vergleich: Der HSV-Schnitt aus den vorigen zehn Spielen lag bei 113,1 Kilometern. Ligaweit belegt der HSV in dieser Kategorie damit momentan Platz sieben.
Negativ: Die Zusammenstellung des Kaders bleibt äußerst fragwürdig, das Teamgebilde vor allem in der Defensive mehr als fragil. Die Hierarchie im Abwehrverbund wird durch die Degradierung Djourous (agiert genauso verunsichert wie zuvor) sowie Verletzungen von Adler, Emir Spahic und auch Cléber nicht gestärkt. Aushilfs-Innenverteidiger Gideon Jung wirkt auf dieser Position hilflos. Gisdol hat dieses Problem längst erkannt und nach dem Bremen-Spiel wiederholt öffentlich nach Verstärkungen in der Winterpause gerufen.
Albin Ekdal kommt durch immer neue Rückschläge einfach nicht auf die Beine. Der enorm verletzungsanfällige Schwede reiste in jüngster Vergangenheit dennoch – auch in Absprache mit dem HSV – wiederholt zur Nationalmannschaft, statt sich auf eine dauerhafte Genesung und Reintegration in die Mannschaft seines Arbeitgebers zu konzentrieren.
Die Realität Abstiegskampf mit all seinen Facetten scheint allmählich in den Köpfen der Spieler angekommen zu sein. Bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer – etwa bei Cléber. Der Brasilianer scheute nicht davor zurück, rund um das Auswärtsspiel in Köln (0:3) ein Video von seiner neuesten Tätowierungssitzung zu posten. Ansonsten haben die Profis ihre Aktivitäten in den sozialen Netzwerken deutlich zurückgefahren.
Die Führungsspitze
Positiv: Dietmar Beiersdorfer ist um Seriosität bemüht. Und dass wiederholt vermeintliche Interna aus Verhandlungen etwa mit potentiellen neuen Sportchefs durchsickern, ist tatsächlich nicht ausschließlich dem Vorstandsvorsitzenden anzulasten. Ausgenommen zweier PR-Interviews auf der offiziellen Vereinshomepage mit Beiersdorfer zum geplatzten Deal mit Christian Hochstätter sowie mit Gisdol zur Kapitänsfrage, hält sich der HSV mit öffentlichen Äußerungen inzwischen merklich zurück.
Trotz der unglücklichen Außendarstellung der vergangenen Jahre wird der HSV in der Branche noch immer von nicht wenigen als eine attraktive Adresse angesehen. Trainer Gisdol nannte den Traditionsverein "ein Brett" und selbst Werder-Ikone Tim Wiese bescheinigte dem Erzrivalen erst am Tag nach dem Derby gegen Bremen im NDR-"Sportclub", "ein guter Verein" zu sein. Und auch Beiersdorfer sagt: "Denken Sie nicht, dass der HSV eine extrem reizvolle Aufgabe ist, auch wenn wir sportlich in einer sehr schwierigen Lage sind?!"
Negativ: Die Zurückgenommenheit wird von vielen Beobachtern gleichzeitig als Schwäche ausgelegt. Gerade von Beiersdorfer und auch Aufsichtsrats-Chef Karl Gernandt wünschen sich viele Fans öfters klare Worte und deutliche Ansagen und Positionen in der Öffentlichkeit. Die Beiersdorfer-Frage droht allerdings in einem Schlingerkurs zu enden. Erst am Montag berichtete die "Bild"-Zeitung von einem Antrag der Mitglieder an Vereinspräsident Jens Meier für die Jahreshauptversammlung am 8. Januar, den Aufsichtsrat abzusetzen – falls dieser Beiersdorfer nicht entlassen sollte.
Die Eskapaden der letzten Monate und Jahre haben Spuren hinterlassen, der HSV gilt vielen Fußballfans als Lachnummer. Die Abschiede von Marketingvorstand Joachim Hilke oder Pressechef Jörn Wolf waren zuletzt weiteres Wasser auf die Belustigungsmühlen. Zuletzt sah sich sogar die "Süddeutsche Zeitung" bemüßigt, einen Vergleich zu ziehen zwischen den "Chaos"-Clubs 1860 München und Hamburger SV. Bis in der Hansestadt ein Comeback zum Positiv-Image gefeiert werden kann, dürfte sprichwörtlich noch viel Wasser die Elbe herunterfließen.