Hamburger Segler Boris Herrmann schildert seine Erlebnisse bei Soloregatta Vendée Globe. Halbzeit! Der 40. Tag auf See ist vergangen.
Es ist die Regatta seines Lebens. Boris Herrmann zählt im Rekordfeld von 33 Männern und Frauen zu den 18 Debütanten der neunten Auflage der Weltumseglung „Vendée Globe“. Zu bewältigen sind 24.296 Seemeilen (44.996 Kilometer), die der Hamburger in rund 80 Tagen zurücklegen will. Im Abendblatt-Logbuch berichtet der 39-Jährige einmal wöchentlich von See über seine Premiere.
Halbzeit! Der 40. Tag auf See ist zu Ende gegangen. Bei unter 12.000 Seemeilen bis in den Start- und Zielhafen Les Sables-d’Olonne ist mehr als die Hälfte des Kurses geschafft. Zwei von drei Kaps – das Kap der Guten Hoffnung und Kap Leeuwin – sind passiert. Bis Kap Hoorn sind es noch etwa zwei Wochen, die wir hier unten im Südmeer verbringen, bevor wir wieder in den Atlantik auf die Zielgerade einbiegen. Ich mache drei Kreuze, wenn Kap Hoorn passiert ist. Es dabei sehen und vielleicht ein Foto machen zu können wäre ein Bonus. Ich habe seit dem Verlassen des Atlantiks kein Land mehr gesehen und große Sehnsucht danach. Kap Hoorn wird die größte Feier meiner Reise.
Meine sportliche Leistung würde ich zur Halbzeit als wie erhofft beschreiben. Ich habe immer von den top fünf geträumt. Das habe ich öffentlich so nicht kundgetan, aber zu meinem Coach habe ich gesagt: „Ich gehe als Siebter um Kap Hoorn und hole mir dann noch einen Platz in den top fünf.“ Es sieht so aus, als seien wir auf gutem Weg dahin.
Das Potenzial ist da, das halbe Rennen liegt noch vor uns
Ich habe mich auf dieses Rennen akribisch vorbereitet. Ich habe vier Jahre mit meinem Boot gesegelt wie sonst kaum jemand in der Vendée-Globe-Flotte. Keiner hat so viele Meilen mit seinem Boot gesegelt, so viel gemacht. Wir sind von A bis Z den ganzen Weg gegangen. Vor diesem Hintergrund war die sportliche Leistung manchmal sogar ein bisschen enttäuschend. Aber jetzt bin ich hier nahe dem 55. Breitengrad Süd unterhalb Neuseelands. Und das mit einem intakten Schiff. Das Potenzial ist da, das halbe Rennen liegt noch vor uns.
Boris Herrman bei der Vendée Globe:
Ich wurde gefragt, was ich für ein Segeltyp bin. Ein sehr verkopfter. Das ist vielleicht der größte Unterschied zu den talentierten Seglern an der Spitze wie Yannick Bestaven, Charlie Dalin, Thomas Ruyant und Jean Le Cam. Le Cam ist mit seinen 61 Jahren ein alter Hase. Der kennt sein Boot, das ohne unsere Foils (Tragflächen) auskommt. Da zieht man nach Gefühl das Backstag dicht und gibt Gas. Da weiß man, dass auch mit fünf Knoten mehr Wind nicht viel passiert. Ein Boot wie meine „Seaexplorer – Yacht Club de Monaco“ kann abrupt von 20 auf 35 Knoten beschleunigen, wenn wir die großen Foils drinhaben. Da ergeben sich ganz andere Lastenmomente, weil Last mit Speed entsteht. Und das kann Probleme verursachen. Daher haben wir die vielen Instrumente. Alles ist viel genauer durchdacht. Das ist viel härter zu segeln. Einer wie Le Cam dagegen kann aus dem Arsch segeln. So wie ein alter erfahrener Recke zu Hause auf der Alster.
Das Alleinsein ist mein großes Thema
Für ein paar dramatische Stunden hat in der vergangenen Woche Spitzenreiter Thomas Ruyant gesorgt, der nun auf Platz drei zurückgefallen ist. Er hatte Wassereinbruch in der Bugsektion vermeldet. Dann hörten wir, dass das Wasser durch die Vordecksluke eingedrungen ist. Die war vielleicht aufgesprungen. Möglicherweise sind die Scharniere kaputtgegangen, oder sie ist aufgespült worden. Das passiert mir auch manchmal: dass sich die Scharniere durch den Wasserdruck aufdrehen. Aber das sind meist nur ein oder zwei, und ich habe ja sechs.
Mich hat zuletzt das Thema Einsamkeit beschäftigt. Das Alleinsein ist mein großes Thema, meine große Schwierigkeit. Ich bin es sehr gewohnt, als Teamplayer zu arbeiten. Ich bin jemand, der lieber kooperativ im Team diskutiert und geballte Intelligenz für Entscheidungen nutzt. Könnte ich es mir aussuchen, würde ich das Rennen gerne mit einem Wetterberater von außen machen, weil es kommunikativer und dynamischer wäre. Aber in der Vendée Globe ist das nicht erlaubt. Ich muss immer noch lernen, alles mit mir selbst abzumachen.
In der vergangenen Woche hat die Jury über die Wiedergutmachung für die an der Rettungsmission für Kevin Escoffier beteiligten Skipper entschieden, den schließlich Jean Le Cam in dunkler Nacht aus seiner Rettungsinsel abbergen konnte. Für mich beträgt die Gutschrift sechs Stunden, für Yannick Bestaven zehn Stunden und 15 Minuten, für Jean Le Cam 16 Stunden und 15 Minuten. Vielleicht hätte ich mir im Vergleich zu Yannick Bestaven etwas mehr gewünscht, aber Hilfe hat für mich sowieso immer Vorrang vor Rennerwägungen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass im Ziel eine Stunde mehr oder weniger ausschlaggebend sein wird. Sollte es doch so sein, werde ich darüber lachen.
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Wenn ich schlafe, ziehe ich meinen roten Weihnachtspulli an
Zurück in mein Hier und Jetzt. Mein Umfeld ist noch zwei Wochen die graue Wasserwüste des Südmeeres. Die See ist grau, der Himmel ist grau. Wie heißt es noch: 50 Shades of Grey? Gestern ging kurz der Himmel auf. Da entstand ein wunderbarer wärmender Moment. Die Temperaturen fallen hier unten bislang bis auf viereinhalb Grad. Es ist kalt! Wenn ich schlafe, ziehe ich meinen roten Weihnachtspulli an. Der wärmt. Die Aussicht auf Weihnachten auf See gefällt mir ganz gut. Ich bin als von meinem Daddy allein erzogenes Kind ohne große Weihnachtstraditionen aufgewachsen, mag aber das gemütliche Beisammensein.
Ich habe zur Dekoration eine Dose von meiner Frau Birte, in der eine batteriebetriebene Lichterkette, Familienfotos und Wäscheklammern stecken. Und ein paar Geschenke. Ich werde an Heiligabend mit Freunden telefonieren und mich freuen, dass sie an mich denken. Zum Essen suche ich mir einen Cassoulet, einen französischen Eintopf, raus. Musik habe ich leider nicht mehr, weil mein iPhone spinnt. Vielleicht lasse ich mir einen Weihnachtssong schicken? Mein größter Weihnachtswunsch ist, dass mir von jetzt bis ins Ziel nichts mehr vor den Bug meines Bootes schwimmt, dass der Mast stehen bleibt und die Segel halten. Und dann möge uns bitte an Heiligabend und auch sonst bis ins Ziel kein Sturm mehr peitschen.
Aufgezeichnet von Tatjana Pokorny