Glinde. Dramatischer Auftritt der Judokämpferin bei den Olympischen Spielen in Paris. Freunde und Bekannte feuerten sie auf der Tribüne an.
Alles oder nichts: Vier intensive Minuten lang haben sich die Glinderin Mascha Ballhaus und die Brasilianerin Larissa Pimenta aneinander abgearbeitet, ohne dass eine von beiden Judo-Kämpferinnen einen Wurf anbringen kann. Null zu Null prangt auf der Anzeigetafel, als es in die Verlängerung, den „Golden Score“, geht. Es ist die Hoffnungsrunde in der Gewichtsklasse bis 52 Kilogramm. Nur die Siegerin wird bei den Olympischen Spielen in Paris noch um eine Medaille kämpfen können.
Dreimal waren die beiden Frauen zuvor in ihrer Karriere aufeinander getroffen, dreimal hatte die Deutsche gewonnen, zuletzt im April beim Grand Slam in Zagreb. Doch nicht dieses Mal. Ballhaus gerät nach zwei Minuten in der Verlängerung in einen Würgegriff der Brasilianerin, aus dem sie sich nicht mehr befreien kann. Ohne Atemluft bleibt der Glinderin schließlich nichts Anderes übrig, als zum Zeichen der Aufgabe zweimal mit der Hand auf das Bein ihrer Gegnerin zu klopfen. Der Traum vom Edelmetall ist ausgeträumt, sie wird Siebte. Als sie die Matte verlässt, hat sie Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Glinderin Mascha Ballhaus fährt bei den Olympischen Spielen die Krallen aus
Oben auf der Tribüne erleben ihre Familie, Freunde und Bekannte in der rund 8000 Zuschauer fassenden Arena Champ-de-Mars das Drama mit. Einige haben ein großes Plakat mit dem Konterfei der Sportlerin und ihrem Spitznamen Mascha „Maschine“ mit dabei. Ihr früherer Klassenlehrer vom Gymnasium Glinde, Volker Riedel, hat auch extra ein Schild gebastelt. „Go for Gold, Mascha!“, steht darauf.
Lange sieht es am Sonntag so aus, als könne dieser Traum wahr werden. Mascha Ballhaus gilt eher als Außenseiterin im Kampf um die Medaillen. „Aber als Dritte der vergangenen Europa- und Weltmeisterschaften braucht sie sich hier vor niemanden zu verstecken“, macht die Kommentatorin Annett Böhm klar, einst Bronzemedaillengewinnen bei den Olympischen Spielen in Athen 2004.
Mit grimmiger Entschlossenheit kämpft sie sich durch die ersten Runden
Und tatsächlich: Mascha Ballhaus fährt die Krallen aus. Mit grimmiger Entschlossenheit betritt sie zum ersten Kampf am Sonntagvormittag die Matte. So früh am Tag schon topfit und hellwach zu sein, ist eine Kunst für sich. Jahrelang hat sie auf diesen Moment hingearbeitet. Nun will sie ihn sich nicht nehmen lassen. Mit einer Innensichel (O-uchi-gari) fegt sie den Fuß ihrer mexikanischen Gegnerin Paulina Martinez weg, bringt sie erfolgreich aus dem Gleichgewicht, fasst nach und setzt eine Würgetechnik an, aus der es für die Mittelamerikanerin kein Entrinnen mehr gibt.
Dann nimmt das Drama seinen Lauf. Eine Laune der Auslosung hat zwei der stärksten Kämpferinnen schon im Achtelfinale gegeneinander geführt. Uta Abe aus Japan, die Olympiasiegerin von Tokio 2021 und amtierende Weltmeisterin, verliert gegen die Weltranglisten-Erste Diyora Keldiyorova aus Kasachstan. Die Japanerin bricht geschockt mit einem Weinkrampf am Mattenrand zusammen. Minutenlang hockt sie da, während sich der folgende Kampf verzögert. Es ist der Kampf von Mascha Ballhaus.
Die Olympiasiegerin scheidet aus, Mascha Ballhaus erreicht das Viertelfinale
Gar nicht so leicht, da die Konzentration zu behalten. Doch sie schafft es, nimmt Khordloodoi Bishrelt aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in den Würgegriff und siegt erneut. „Was für ein Bodentier!“, begeistert sich Böhm. Nun muss Ballhaus selbst im Viertelfinale gegen Keldiyorova ran. WM-Dritte gegen Vize-Weltmeisterin, das hätte auch ein Finale sein können.
Es ist ein Duell auf Augenhöhe, in dem keine den ersten Fehler machen will. „Ich habe in den vergangenen Jahren oft gegen sie gekämpft“, analysiert Mascha Ballhaus hinterher im ZDF-Olympiastudio. „Eigentlich war es schon unser Plan, dass ich nicht zu doll auf sie zustürme, weil ihre beste Technik ein tiefer Schulterwurf ist. Wenn man dann zu aggressiv auf die Leute zugeht, dann kann man leicht in Gefahr geraten, dass man geworfen wird.“
Ein Spiel der Nerven gegen die Weltranglisten-Erste endet unglücklich
Im Gleichtakt kassieren Ballhaus und Keldiyorova zweimal gleichzeitig einen Shido, eine Strafe wegen Passivität. Es gibt im Judo eine ellenlange Liste an Dingen, die verboten sind. Nun, beim Stand von zwei Verwarnungen für jede Kämpferin, ist es ein Tanz auf dem Vulkan. Denn eine dritte Verwarnung bedeutet den Verlust des Kampfes. Es ist schließlich Mascha Ballhaus, die dieses unglückliche Schicksal trifft, während sich Keldiyorova anschließend bis zur Goldmedaille durchkämpft. Aber nie wieder ist es für sie so knapp wie gegen Mascha Ballhaus.
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„Ich wusste, dass ich unter Zugzwang bin“, verriet die 24-jährige Glinderin hinterher. „Aber die Aktion, die dann bestraft wurde, war für mich fragwürdig. Das hat mich hinterher schon geärgert.“ Den ersten Fernsehauftritt ihres Lebens absolviert sie gemeinsam mit ihrer Schwester Seija, die sich während der Kämpfe in die Halle geschlichen hatte, um ihrer Schwester von der ersten Reihe aus taktische Tipps zuzurufen. „Seijas Stimme würde ich unter Tausenden heraushören“, verrät Mascha.
Nun bleibt den Zwillingen viel Zeit, die Spiele in Paris zu genießen
In den kommenden Tagen haben die beiden Zwillinge nun mehr Zeit, die Spiele in Paris zu genießen. Seija, die eine Gewichtklasse höher kämpft (bis 57 Kilogramm) hatte sich von ihren Leistungen her auch für die Olympischen Spiele qualifiziert, musste aber hinter Pauline Starke zurücktreten, die in der Weltrangliste höher platziert ist, da jede Nation nur eine Starterin stellen darf.
Der große Traum der beiden Glinderinnen bleibt es, in Zukunft noch einmal gemeinsam auf Medaillenjagd gehen zu dürfen. „Das sind zwei super Mädels“, lobt ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein ihren Besuch. „Wir freuen uns schon auf Los Angeles 2028.“