Kiel. Schleswig-Holstein will sparen und neun Gerichte an einem Ort zentralisieren. Richter, Gewerkschaften und Sozialverbände laufen Sturm.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung, allen voran Justizministerin Kerstin von der Decken und Ministerpräsident Daniel Günther, haben sich eine mächtige Klientel zu erbitterten Gegnern gemacht: Die Richterschaft, Staats- und Rechtsanwälte, Gewerkschaften und Sozialverbände. Vorrangig, um Geld zu sparen, hat Schleswig-Holstein eine weitreichende Gerichtsreform angeschoben. Die Resonanz ist verheerend. In der Kritik ist die Rede von einer „unseriösen Justiz- und Finanzpolitik“, von „einsamen Entscheidungen nach Gutsherrenart“, von einem „Handstreich“ oder „nachhaltig erschüttertem Vertrauen“.
3000 Menschen haben bis Montagmittag bereits eine kurzfristig gestartete Onlinepetition unterschrieben, die sich gegen die geplante Zusammenlegung der bislang neun dezentralen Arbeits- und Sozialgerichte an einem Standort richtet. Für diesen Donnerstag ist eine Demonstration vor dem Kieler Landeshaus geplant.
Große Justizreform in Schleswig-Holstein – Kieler Ministerin unter Druck
Und auch Günthers und von der Deckens Koalitionspartner begehrt gegen die Kürzungspläne der CDU-Politiker auf. So hat der grüne Parteitag am vergangenen Wochenende in Neumünster eine Resolution angenommen, der die Schließung und Verlegung der Fachgerichte an einen zentralen Standort „sehr kritisch sieht“. Befürchtet wird, dass der Zugang zur Justiz erschwert werden könnte, heißt es im grünen Kompromisspapier. Der Originalantrag war noch deutlich schärfer formuliert. Hierin hieß es, dass sich die Grünen gegen die geplante Schließung der Justizstandorte aussprechen. Hätte der Parteitag den Originaltext angenommen, hätte dies das schwarz-grüne Kabinett in eine Krise stürzen können.
Das Land im Norden ist in einer schweren finanziellen Notlage. Schleswig-Holstein hat sich über die Jahrzehnte mit mehr als 32 Milliarden Euro verschuldet, und die laufenden Ausgaben übersteigen die Einnahmen durch Steuern und Gebühren deutlich. Die Folge: Das Land muss radikal sparen – und zwar über die kommenden Jahre. Das Kabinett hat sich auf Kürzungen in jedem Ressort verständigt. Mit diesem Haushaltsentwurf für 2025 wird sich der Landtag am Mittwoch dieser Woche befassen.
Sparreform in der Justiz – zehn Gerichte wären betroffen
Während andere Ministerien geplante Projekte zurückstellen oder Zuwendungen streichen können, gibt es im Justizressort nur zwei große Ausgabenposten: Gehälter und Mieten. Die CDU-Politikerin und Quereinsteigerin als Ministerin hat sich entschieden, bei den Mieten zu sparen. Und so will sie die Sozialgerichte in Kiel, Lübeck, Itzehoe und in Schleswig sowie die Arbeitsgerichte in Kiel, Lübeck, Flensburg, Neumünster und Elmshorn schließen und an einem Standort – möglicherweise in Neumünster – zusammenführen. Das Personal des Landesfinanzgerichts Kiel soll in frei werdende Räumlichkeiten im gut 50 Kilometer entfernten Schleswig ziehen. Im nächsten Schritt steht noch die Reform der bislang 22 Amtsgerichte an, von denen möglicherweise sieben gestrichen werden.
Justizministerin Kerstin von der Decken kämpft um ihren Plan. „Mir ist bewusst, wie viel wir der Justiz zumuten, und ich nehme diese Sorgen sehr ernst“, sagt die CDU-Politikerin. „Die Alternativen aber – pauschale Stellenkürzungen – wären nicht nur härter, sondern falsch gewesen“, sagt sie.
Was die Reform für Kläger bedeutet – kämen sie noch zu ihrem Recht?
Rund 300 Beschäftigte in der schleswig-holsteinischen Justiz sind betroffen. Werden die CDU-Pläne umgesetzt wie geplant, heißt es für sie zu pendeln. Und das ist teuer und kostet Zeit. „Der Wechsel des Dienstortes ist für viele Betroffene mit erheblichem Aufwand verbunden und stellt einen Einschnitt auch in das private Leben dar“, konstatiert von der Decken.
Neben den 300 Richtern und Justizangestellten wären Tausende Schleswig-Holsteiner betroffen, die vor einem Arbeitsgericht oder einem Sozialgericht um ihr Recht kämpfen. Behinderte Kieler, die beispielsweise gegen das Sozialamt klagen, müssten künftig mit ihrem Betreuer zum neuen Zentralgericht reisen. Schwer kranke Lübecker, die sich juristisch mit ihrer Krankenkasse herumplagen, könnten nicht mehr in ihrer Stadt Recht suchen, sondern möglicherweise im 75 Kilometer entfernten Neumünster. Das ließe sich nur heilen durch eigene Verhandlungstage für Arbeits- und Sozialgerichtsfälle an den – noch – 22 dezentralen Amtsgerichten.
Informiert wurden die Betroffenen per Mail – und über die Presse
Was die Richter ihrem Arbeitgeber zudem vorwerfen, ist dessen Kommunikation. Vielmehr: dessen Nicht-Kommunikation. Statt mit den Beschäftigten über die Vorhaben zu sprechen oder gar Sparideen mit ihnen zu entwickeln, haben diese per Mail („Informationen zu den Haushaltsberatungen“) von der Zentralisierung erfahren. Bernd Buchholz, den Justizexperten der FDP-Fraktion, macht es „fassungslos, wie die Ministerin mit den Beschäftigten umgeht“. Die hätten per Mail oder aus der Presse von einer Reform dieser Größenordnung erfahren.
„Die Landesregierung und Ministerin von der Decken hätten versuchen können, gemeinsam mit den Gerichten fachlich sinnvolle Einsparmöglichkeiten zu finden. Das ist nicht passiert, wofür wir kein Verständnis haben. Das sagt Christine Schmehl. Sie ist Vorsitzende Richterin am Landgericht Kiel und zugleich ehrenamtliche Vorsitzende des Richterverbands Schleswig-Holstein. „Mehrere Hundert Beschäftigte von insgesamt zehn betroffenen Fachgerichten unangekündigt und ohne jeden Dialog quer durchs ganze Land versetzen zu wollen, haben wir bislang in Schleswig-Holstein für unvorstellbar gehalten.“
Hohe Hürden: Wandert das Personal nach der Reform ab?
Michael Burmeister, Sprecher der konkurrierenden Neuen Richtervereinigung Schleswig-Holstein, kritisiert: „Die geplante Strukturreform ist ohne Beteiligung der Praxis auf den Weg gebracht worden und verschlechtert den Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger.“ Burmeister spricht von einer „herrschaftlichen und nicht auf Dialog und Kooperation setzenden Vorgehensweise“.
Was Schmehl und Burmeister dem zuständigen Ministerium vorwerfen: Die angeblichen fiskalischen Vorteile seien nicht belegt. Die Justizministerin spricht zwar von „Einsparungen bis 2040 von rund 63 Millionen Euro nach Abzug der erforderlichen Investitionen“. Nur wie sie auf die Zahl kommt, ohne die Pläne für den Neubau zu konkretisieren, verrät sie nicht. Der Richterverband zweifelt angesichts langfristiger Mietverträge, jüngst umgebauter Gerichte, weiterer Anfahrtswege für die Beschäftigten und Prozessbeteiligten und der noch nicht vorgelegten Wirtschaftlichkeitsberechnungen an, dass es „überhaupt zu Einsparungen kommen wird. Außerdem wird die Schließung der bisherigen Dienststellen höchstwahrscheinlich zur Abwanderung von Personal führen“, sagt Richterin Schmehl.
Opposition kritisiert: Holzhammer-Methode der Ministerin
Marc Timmer, Justiz-Experte der SPD, spricht von einer „Holzhammer-Methode für die Beschäftigten in der Justiz. Das von der Landesregierung angekündigte Vorgehen kennt man normalerweise aus Zeiten, in denen Mitarbeiter wenig bis nichts zu sagen hatten: Heute werden hochqualitative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gerichtsbereich gesucht. Die Attraktivität des Jobs ist wichtig.“
FDP-Politiker Buchholz kritisiert die fehlende Wirtschaftlichkeitsberechnung. „Die Ministerin sagt uns, eine Zentralisierung der Gerichte sei alternativlos, legt aber keinerlei Beleg dafür vor, welche Varianten sie für ihre Entscheidung eigentlich mit welchem Ergebnis geprüft hat.“ Er hält gerade die Zentralisierung der Sozialgerichte für äußerst bedenklich: „Das wesentliche Element der Sozialgerichte ist, dass sie nah beim Bürger sind – und das auch sein müssen.“
Donnerstag: Großer Protesttag vor dem Landtag geplant
Die sonst nicht in tiefer Freundschaft verbundenen Justiz-Gewerkschaften sind sich in diesem Fall einig: „Die Pläne der Justizministerin müssen aufgehalten werden.“ In ihrer gemeinsamen Petition heißt es, dass die „Gerichte für alle Menschen im Land erreichbar sein“ müssen. Mit der Reform aber werde der Rechtsschutz erheblich eingeschränkt. Der Staat beabsichtige, den Justiz-Etat „auf Kosten der Mitarbeitenden, Anwaltschaft, Zeugen, Sachverständigen, Klagenden und Verfahrensbeteiligten“ zu sanieren.
Erst kommt es an diesem Donnerstag vor dem Landtag zum Protest der Frauen und Männer in schwarzen Roben. Im nächsten Schritt wird sich vermutlich der Petitionsausschuss des Landtages mit der Justizstrukturreform beschäftigen. Wenn mindestens 2000 Personen eine öffentliche Petition unterstützen, sind öffentliche Anhörungen in Schleswig-Holstein politische Gepflogenheit. Diese Hürde ist längst gerissen.
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Nicht nur die Opposition und die Richterschaft sind auf Zinne. Mit Jan Kürschner sieht auch ein führender Grüner die Pläne der schwarz-grünen Regierung „kritisch. Wir werden genau hinschauen. Am wichtigsten ist, dass zusammen mit den Justizbeschäftigten nach Lösungen geschaut und die Sozialverträglichkeit in den Fokus gerückt wird“, sagt der Justiz- und Innenexperte seiner Fraktion.