Kiel/Brokstedt. Der Norden fordert eine bundesweite Datenbank für Strafsachen gegen Ausländer. Justizministerin Kerstin von der Decken im Interview.
Die heimtückische Tat im schleswig-holsteinischen Brokstedt hat deutschlandweit Entsetzen ausgelöst – und Fassungslosigkeit angesichts des kaum für möglich gehaltenen Behördenversagens. Ein staatenloser Palästinenser hatte in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg wahllos Menschen mit einem Messer angegriffen, ein junges Paar getötet und vier weitere Fahrgäste schwer verletzt.
Die Aufarbeitung des Falls geht in diesen Tagen in eine entscheidende Phase, wenn die Innenminister- und vor allem die Justizministerkonferenz Ende Mai in Berlin den Fall aufrollen. Beiden Ministertreffen liegen mehrere Forderungen von Schleswig-Holstein und Hamburg vor.
Noch vor dem Herbst wird sich Ibrahim A., der Täter von Brokstedt, vor Gericht wegen zweifachen Mordes und vierfachen Mordversuchs verantworten müssen. Das sagte Schleswig-Holsteins Justizministerin Kerstin von der Decken im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt.
Bluttat von Brokstedt: Häftling in Untersuchungshaft tyrannisiert Personal
Der 33-Jährige sitzt in Untersuchungshaft in der JVA Neumünster. Dort ist man eigentlich daran gewöhnt, mit besonders schwierigen und aggressiven Gefangenen umzugehen. Aber kaum in Neumünster angekommen, begann der 33-Jährige die Justizangestellten zu tyrannisieren. Das jedenfalls beklagte die Gewerkschaft GdP.
Als eine Konsequenz aus dem Fall fordert Schleswig-Holstein gemeinsam mit Hamburg von der Innenministerkonferenz vom 14. bis zum 16. Juni, sich mit den Themen Videoüberwachung in Zügen und an Bahnhöfen und Waffenverbotszonen zu beschäftigen. „Unser Ziel ist, bundesweit einheitlich die Sicherheitsstandards zu erhöhen. Zusätzlich sind wir gemeinsam mit dem Wirtschafts- und Verkehrsministerium in einem intensiven Austausch über einen geplanten Sicherheitsgipfel ÖPNV“, das sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack dem Abendblatt.
Ihre Kabinettskollegin von der Decken – beide sind Politikerinnen der CDU – spricht im Interview mit unserer Zeitung über das Behördenversagen und die Konsequenzen.
Hamburger Abendblatt: Frau von der Decken, mit dem Wissen von heute: Wäre der Messerangriff von Brokstedt zu verhindern gewesen?
Kerstin von der Decken: Eine definitive Antwort zu geben ist schwer. Nach allem, was wir in den verschiedenen Ausschüssen besprochen haben: Selbst wenn alles perfekt gelaufen wäre und selbst wenn alle beteiligten Behörden informiert gewesen wären, wäre die Tat wahrscheinlich auch dann nicht zu verhindern gewesen. Es gibt immer wieder Menschen, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen völlig überreagieren und andere Menschen angreifen. Wir werden nicht jeden dieser Fälle verhindern können.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte kurz nach der Tat sinngemäß gesagt, dass der Angreifer hätte abgeschoben sein können, wenn man nur gewusst hätte, wo er sich zuletzt aufhielt, nämlich in Haft in Hamburg. Damit unterstellte sie, dass die Tat hätte vermeidbar gewesen sein können. Wie sehr ärgern Sie als Juristin solche Aussagen?
Man kann jemanden nur abschieben, wenn entschieden wurde, dass dieser Mensch definitiv kein Bleiberecht mehr hat und wenn die Rechtswege dagegen beschritten und ausgeschöpft worden sind. Im vorliegenden Fall hat es weder das eine noch das andere gegeben. Und wenn man weiß, dass asylrechtliche Hauptsacheverfahren in 1. Instanz bei Gericht durchschnittlich 20 Monate dauern und sich daran regelmäßig das ausländerbehördliche Abschiebungsverfahren anschließt, ist klar, dass Ibrahim A. nicht hätte abgeschoben sein können.
Was waren dann Äußerungen wie die von Frau Faeser? Populismus?
Aus welchen Gründen sie das gesagt hat, kann ich nicht nachvollziehen. Aber diese Aussage war in Anbetracht der eben dargestellten Zeitenabfolge juristisch nicht zutreffend.
Brokstedt: Wie war solch ein Behördenversagen möglich?
Wenn man den Fall nicht juristisch, sondern politisch betrachtet: Ist es nicht bitter, dass jemand, der wie Ibrahim A. immer wieder kriminell auffällig wurde, sich immer noch in Deutschland aufhalten durfte?
Ja, es ist bitter. Wir gewähren Menschen Schutz. Und wenn dann jemand unsere Werte und unsere Rechtsordnung nicht akzeptiert und dabei eine Schwelle überschreitet, verliert er eigentlich das Bleiberecht. Nur: Das Problem ist immer, wo ist diese Schwelle? Ab wann verliert jemand das Bleiberecht, weil er eklatant gegen Werte und Normen unserer Rechtsordnung verstößt? Bei A. waren das mehrere Straftaten, auch im Bereich der Körperverletzung, eine davon mit einem Messer. Gerade deswegen war ja ein erstes Verfahren eingeleitet worden, um zu prüfen, ob diese Schwelle überschritten wurde. Aber das war noch nicht so weit und noch nicht abgeschlossen. Aber natürlich ist es bitter.
Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hat jetzt Anklage gegen Ibrahim A. erhoben. Sie wirft ihm zweifachen Mord und vierfachen Mordversuch vor und begründet die Vorwürfe mit niederen Beweggründen und Heimtücke. Wann rechnen Sie mit dem Beginn des Prozesses?
Die Anklage ist sehr schnell erhoben worden, innerhalb von knapp unter drei Monaten, obwohl sehr viele Informationen und Quellen auszuwerten waren. Wir rechnen mit einer Prozesseröffnung vor dem Herbst.
Der Fall offenbarte eine ganze Reihe von Pannen, Peinlichkeiten und fehlendem Informationsaustausch zwischen den Ländern und der Bundesbehörde. Hätten Sie vor Brokstedt ein solches Behördenversagen für möglich gehalten?
Nein. Ich muss aber auch sagen, dass ich vorher als Professorin nicht den Einblick in den Ablauf der Einzelprozesse hatte. Mir war immer bewusst, dass Behördenkommunikation aufgrund der verschiedenen Kommunikationswege, der zahlreichen Vorschriften, die zu Bürokratie und Überlastung führen, nicht immer so läuft, wie man sich das vorstellt. Aber dieses Ausmaß hätte ich nicht erwartet.
Es gab eine Kette von Fehlern, das ist ein Debakel – „Ja, das ist es“
E-Mails sind verschwunden, Meldungen sind nicht weitergereicht worden, Behörden verzichteten darauf, sich zu informieren, ein in der Haft gewalttätiger Mann wird unvorbereitet auf die Freiheit entlassen. Das ist aus der Sicht unbeteiligter Beobachter ein Debakel.
Ja, das ist es. Und deswegen war es auch sehr wichtig, dass wir das sowohl in Hamburg als auch in Schleswig-Holstein bis ins letzte Detail aufgearbeitet haben. Das war ein sehr wichtiger Prozess. Es ist dort einiges ans Tageslicht gekommen, was nicht richtig funktioniert. Und es ist nicht bei der Aufarbeitung in den Ausschüssen geblieben. Hamburg und Schleswig-Holstein haben danach auf der Fachebene das Prozedere noch einmal genau überprüft: Wo genau ist was schiefgelaufen? Daraus haben wir gemeinsam Schritte entwickelt, damit das nicht wieder passiert.
Sie bringen in die Justizministerkonferenz Ende Mai drei Anträge ein, einen mit Baden-Württemberg, zwei mit Hamburg. Es geht um den besseren Datenaustausch, um fundierte Datengrundlagen und mögliche Gesetzesverschärfungen. Was wollen Sie gemeinsam mit Baden-Württemberg erreichen?
In dem Antrag geht es um die Frage, ob Körperverletzungen mit Messern höher bestraft werden müssen, als es derzeit der Fall ist. Das ist eine Forderung, die seit Längerem im Raum steht. Uns geht es zunächst nicht darum, einen höheren Strafrahmen zu fordern. Das wäre erst der zweite Schritt. Erst einmal beantragen wir eine Datenerhebung. Wir wollen ermitteln lassen, ob Taten mit Messern tatsächlich zugenommen haben und ob die Folgen von Messerangriffen tatsächlich schwerwiegender sind. Wir brauchen zunächst eine belastbare Datengrundlage. Auf der wollen wir dann überlegen, ob wir Änderungen im Strafgesetzbuch vornehmen müssen.
Ibrahim A. war Wiederholungstäter: Urteilen Richter zu milde?
Das heißt, diese Datengrundlage, das Lagebild, ist das Mittel zum Zweck, nämlich den Strafrahmen zu erhöhen?
Das ist kein Automatismus. Wir bitten jetzt in unserem Antrag die Kriminologische Zentralstelle für die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und -minister um das Lagebild. Diese Präsentation soll verbunden werden mit Hinweisen auf gesetzgeberische Handlungsoptionen – also auf verschiedene Optionen, die aus Sicht der Kriminologie sinnvoll erscheinen. Vielleicht gibt es ja eine Zunahme von Messerangriffen. Dann muss aber auch geklärt sein, wer die Täter sind, welche Menschen Messer in welcher Situation benutzen? Ist da ein Schema oder Muster erkennbar? Davon hängt wiederum ab, ob man das Strafrecht verschärfen oder zum Beispiel die Prävention verbessern sollte.
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Würde es nicht schon helfen, wenn man den Strafrahmen zum Beispiel bei einer gefährlichen Körperverletzung ausschöpfen würde? Ibrahim A. hatte rund ein Jahr vor Brokstedt als Wiederholungstäter einen Menschen in Hamburg mit einem Messer schwer verletzt. Der Amtsrichter verurteilte ihn zu einem Jahr und ein paar Tagen Haft. Man hätte auch eine wesentlich klarere Strafe wählen können.
Wir als Gesetzgeber legen den Strafrahmen fest. Der Einzelfall wird vom Richter entschieden. Wenn der zu einem Urteil am unteren Strafrahmen kommt, können wir als Gesetzgeber relativ wenig machen. Das ist die Unabhängigkeit der Richterschaft. Was wir machen können, ist, den Strafrahmen nach oben zu erhöhen oder den Mindestrahmen höher zu setzen. Eine weitere gesetzgeberische Handlungsoption wäre, dass man innerhalb der gefährlichen Körperverletzung Untergruppen einbaut, also, dass man das Messer als eine besondere Form qualifiziert mit einem anderen Strafrahmen.
Dann frage ich jetzt nicht die Justizministerin von der Decken, sondern die Politikerin. Fallen Ihnen Urteile oft zu mild aus?
Ich bin zu sehr Juristin, um das sagen zu können. Ich weiß aus Gesprächen mit Nichtjuristen und mit der Bevölkerung genau, dass sehr häufig der Eindruck entsteht, dass Urteile zu milde ausfallen. Man muss dabei aber wissen, dass unser Strafrecht so aufgebaut ist, dass auf jeden Einzelfall und nach der Schuld des Betreffenden geschaut wird. Das heißt, Ersttäter werden milder bestraft als Mehrfachtäter. Die Umstände der Tat und das Alter spielen auch immer eine Rolle. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich juristische Laien, die nur das Urteil sehen, dieses oft nur schwer nachvollziehen können.
Was die beiden Bundesländer erreichen wollen
Gemeinsam mit Hamburg bringen Sie zwei weitere Anträge in die Justizministerkonferenz ein. Was versprechen Sie sich davon?
Wir haben uns mit Hamburg insbesondere dem Problem der Kommunikation angenommen. Die hat im Fall Ibrahim A. nicht funktioniert. Wir wollen jetzt den Informationsaustausch zwischen Strafverfolgung und Strafgerichten auf der einen Seite und Ausländerbehörden und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der anderen Seite verbessern. Denn der funktioniert in der Praxis nicht immer. Und das führt dazu, dass zum Beispiel Entscheidungen über Abschiebungen verzögert werden. Wenn eine Behörde oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht wissen, dass jemand angeklagt oder verurteilt worden ist, dann kann natürlich auch der Entscheidungsprozess und später die Abschiebung nicht starten. Unser Vorschlag ist eine zentrale bundesweite Eingangsstelle für Mitteilungen in Straf- und Bußgeldsachen gegen Ausländerinnen und Ausländer, eine Art „zentrales Postfach“.
Wie könnte dieses „zentrale Postfach“ funktionieren?
Bislang muss die Ausländerbehörde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mitteilen, wenn ein Ausländer straffällig geworden ist. Die Ausländerbehörde kann das aber nur wissen, wenn sie von Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden informiert wurde. Also muss eine Nachricht, eine E-Mail, ein Brief, ein Fax hin und her verschickt werden. Wir haben im Fall Brokstedt gesehen, was hier alles schieflaufen kann. Unsere Idee ist so ein „zentrales Postfach“, in der Straftaten und Strafverfolgung von Ausländern gesammelt werden. Jede Ausländerbehörde wird dann automatisch informiert, wenn beispielsweise ein Gericht jemanden verurteilt hat. Damit reduzieren wir menschliche Fehler. Mit jeder E-Mail und bei jedem Fax kann etwas schieflaufen.
Was wollen Sie mit dem zweiten Antrag erreichen, den Sie mit Hamburg einbringen?
Da geht es um die Frage, ob die Justizvollzugsanstalten immer alle strafrechtlich relevanten Informationen kennen. Wir wollen prüfen lassen, ob das geltende Recht eine zeitnahe Übermittlung von strafrechtlich relevanten Informationen an die Justizvollzugsanstalten bereits gewährleistet oder ob es Nachbesserungsbedarf gibt.
Bluttat von Brokstedt: Ministerin erwartet Änderungen auf Bundesebene
Prüfen Sie auch in die umgekehrte Richtung: ob die Justizvollzugsanstalten frühzeitig informieren, zum Beispiel über anstehende Haftentlassungen und nicht, wie im Fall Ibrahim A., erst Tage nach der nächsten Tat?
Ja. Wir wissen, dass die Kommunikation zwischen Strafgerichten, Strafverfolgungsbehörden, Ausländerbehörden und Bundesamt nicht richtig funktioniert. Deshalb wollen wir das „zentrale Postfach“ schaffen. Ob die Justizvollzugsanstalten dort auch eingebunden werden müssen, müssen wir prüfen. Es kann nicht sein, dass wir diesen einen Menschen haben, den wir besonders beobachten oder abschieben müssen, und dass sich dann die Behörden untereinander nicht informieren.
Erwarten Sie eine Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen bei der Justizministerkonferenz für diese drei Vorschläge?
Ja. Ich gehe davon aus, dass die schreckliche Tat von Brokstedt auch bundesweit ein mediales Echo gefunden hat. Dass die Kommunikation hier nicht funktioniert hat, ist jetzt bekannt. Und den Kolleginnen und Kollegen in den Ländern ist bewusst, dass das kein Problem nur von Hamburg und Schleswig-Holstein ist, sondern ein bundesweites.
Selbst wenn die Justizministerkonferenz die drei Vorstöße sinnvoll findet und bejaht, fließen sie aber nicht automatisch in ein Bundesgesetzgebungsverfahren ein.
Unsere Anträge betreffen Bundesrecht. Wenn man so will, appellieren wir an den Bund, dass er doch bitte tätig werden möchte. Das kann der auch ablehnen. So hat Baden-Württemberg im Frühjahr 2019 schon einmal einen Beschluss der Justizministerkonferenz zu Messerangriffen erwirkt. Der war noch absoluter formuliert. Darin wurde der Bund aufgefordert, den Strafrahmen für Messerangriffe zu verschärfen. Das hat der Bund geprüft und im Januar 2021 abgelehnt.