Barbüttel. Schüler sitzen im Lkw-Cockpit, während Fahrlehrer den toten Winkel erklärt. Wer die Idee für das Projekt hatte.

Vier Stufen muss der elf Jahre alte Connor hinaufgehen, dann ist es geschafft. Emma und Nediva folgen ihm. Die drei Sechstklässler der Erich-Kästner-Gemeinschaftsschule in Barsbüttel reihen sich nebeneinander ein und nehmen Platz im Cockpit eines 16 Tonnen schweren Lastwagens, der auf dem Parkplatz vor dem Helmut-John-Stadion am Soltausredder steht. Fahrlehrer Dennis Lesch hat sich am Rand der Kabine positioniert, die Tür ist geöffnet. Er hält sich mit den Händen am Steuer fest. Dann spricht der 33-Jährige über die Anordnung der vier Spiegel und den toten Winkel, der heute das Thema ist. Um das Fahrzeug herum sind Pylonen aufgestellt, verbunden mit Bändern. Dadurch sind Bereiche gekennzeichnet, die der Fahrer nicht sehen kann.

Lesch wird an diesem Montag immer wieder identische Ausführungen machen, denn nacheinander sensibilisiert er die fünf Klassen des sechsten Jahrgangs - 125 Jungen und Mädchen in der Zeit von 8 bis 13 Uhr. Das Projekt haben Angela Tsagkalidis, Fraktionschefin der Grünen, und Björn Dahl, Hausmeister an der Gemeinschaftsschule, organisiert. Ausgerichtet wird es unter der Schirmherrschaft der Gemeinde. „Wenn Kinder einmal die Sicht eines Lkw-Fahrers einnehmen und erkennen, dass Vieles im toten Winkel verschwindet, werden sie künftig an Kreuzungen beim Überqueren einer Straße hoffentlich aufmerksamer und zurückhaltender sein“, sagt die 58-Jährige. Sie denkt dabei sowohl an Fußgänger als auch Radfahrer.

Nach den Herbstferien gibt es diese Aktion für die Grundschulen

Mit diesem 16-Tonner war die Fahrschule in Barsbüttel.
Mit diesem 16-Tonner war die Fahrschule in Barsbüttel. © René Soukup | René Soukup

Die Idee dieser Art von Verkehrsschulung hatte die Barsbüttelerin schon lange. Nachdem in Hamburg Ende August ein 15-Jähriger ums Leben kam, als er auf der Osdorfer Landstraße von einem abbiegenden Laster erfasst wurde, ging Tsagkalidis die Sache an und holte Dahl mit ins Boot. Er ist der Schwiegervater von Lesch, der bei einer Fahrschule angestellt ist und seinem Chef das Anliegen vortrug. Der Unternehmer war angetan und sagte zu. Es ist ein Gratis-Service genauso wie nach den Herbstferien, wenn die beiden Grundschulen in der Gemeinde an der Reihe sind mit ausgewählten Jahrgängen. Die Kinder der Lehranstalt im Ortsteil Willinghusen werden dann auf dem Hof eines Landwirts trainiert.

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„Für mich ist das eine willkommene Abwechslung zum Alltag. Die Arbeit mit Kindern macht mir Spaß“, sagt Lesch. Bei der Feuerwehr betreut er eine Jugendgruppe. Dass er den richtigen Ton trifft und begeistert, erfahren auch Connor und die beiden Mädchen. Sie hören dem Fahrlehrer gespannt zu und dürfen natürlich jede Menge Fragen stellen. So möchte der Junge zum Beispiel wissen, ob man in dem Mercedes auch übernachten kann und warum das Fahrzeug so viele Pedalen hat. Die sind nämlich doppelt vorhanden, damit der Lehrer im Notfall eingreift und bremst. Auch muss Lesch Auskunft darüber geben, wie lange der Lkw am Stück gesteuert werden darf. Seine Antwort: Nach viereinhalb Stunden ist eine 45-Minuten-Pause vorgeschrieben.

Sechstklässler finden Prävention besser als Freizeit

Die Initiatoren des Projekts: Angela Tsagkalidis und Björn Dahl.
Die Initiatoren des Projekts: Angela Tsagkalidis und Björn Dahl. © René Soukup | René Soukup

Der Fahrlehrer gibt den drei Schülern wichtige Tipps, bevor die nächsten Klassenkameraden ins Cockpit dürfen. Sie sollten als Radfahrer oder Fußgänger immer Blickkontakt mit dem Fahrer aufnehmen und sicher gehen, dass dieser auch sie registriere. „Ein Lastwagen darf beim Abbiegen nur Schrittgeschwindigkeit fahren, viele machen das aber nicht“, fügt er hinzu. Emma kennt brenzlige Situationen aus eigener Erfahrung. Die Elfjährige sagt, sie sei in Barsbüttel einmal fast angefahren worden von einem Auto, das viel zu schnell aus einer Grundstückseinfahrt kam. „Ich bin dann mit dem Roller ausgewichen und gestürzt, habe mir eine Verstauchung und Schrammen zugezogen.“ Ihre Kameradin Maya hat Ähnliches erlebt mit dem Rad: „Ich bin gegen einen Pkw gestoßen, der mich übersehen hat. Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert.“

Marvin Burmeister ist Klassenlehrer der 6a und angetan, wie interessiert seine Schüler an dem Thema sind. Eigentlich steht in der ersten Stunde am Montag für die meisten Jungen und Mädchen bilingualer Unterricht auf dem Programm, einige müssen jedoch erst zur zweiten erscheinen und hätten jetzt frei. Sie bevorzugen es aber, an der Präventionsaktion teilzunehmen. „Wir haben den toten Winkel schon einmal in der Theorie besprochen“, sagt Burmeister mit Blick auf den Mai. Da hatten die fünften Klassen eine sogenannte Vorhabenwoche Verkehrserziehung. Dass Erläuterungen im Cockpit eines Lastwagens mit Praxisbezug mehr Verzückung bewirken, dürfte den Pädagogen keineswegs überraschen. „Außerdem will ich ins Fernsehen“, ruft die kleine Emma. Der NDR ist auch vor Ort.

Mitorganisatorin will das Projekt dauerhaft an drei Lehranstalten

Hausmeister Dahl ist schon mehrere Stunden auf den Beinen, als der TV-Dreh beginnt. Um 6 Uhr hat er rund ein Viertel des Parkplatzes auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Gemeinschaftsschule abgesperrt. Dahl ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und weiß durch Einsatzfahrten, welche Bereiche man aus der Kabine eines großen Fahrzeugs nicht erblicken kann. Den Kindern eine Präventionsschulung zum toten Winkel zu ermöglichen, ist für ihn Ehrensache.

Mitorganisatorin Angela Tsagkalidis sagt: „Wenn wir durch das Training nur ein Leben retten oder eine Verletzung verhindern können, haben wir viel erreicht.“ Geht es nach ihr, wird das Projekt ein fester Bestandteil im Terminkalender der drei Schulen. „Ich möchte eine jährliche Aktion, damit jedes Barsbütteler Kind einmal diese Erfahrung machen darf.“ Für diesen Fall müsse natürlich Geld generiert werden, um die Fahrschule zu bezahlen. Sie will sich jetzt erkundigen, ob es Fördermittel gibt. Tsagkalidis: „Toll wäre es, wenn andere Schulen im Land unsere Idee kopieren, denn Kinder sind überall gefährdet.“