Westerland. Eine Pensionswirtin, eine Cellistin und eine Supermarktmitarbeiterin schildern Neustart auf der Insel – und verraten, was schwierig ist.
Sylt ist ein Sehnsuchtsort. Die einzigartige Landschaft, das weite Meer, die feinen Sandstrände, die pittoresken Friesendörfer. Urlauber und Tagesgäste strömen vor allem im Sommer auf die Nordseeinsel, dazu viele Zweitwohnungsbesitzer. Aber es gibt auch immer wieder Menschen aus ganz Deutschland, die kommen und bleiben. Die Zugezogenen. Drei Frauen erzählen im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt, warum sie ihr Leben umgekrempelt haben.
Auf Sylt zu Hause: Die Pensionswirtin
Die Nachricht kam während des Frühdiensts von einem Bekannten. Alexandra Mundszinger hörte das „Bling“, aber die Krankenschwester in einer Klinik in Bad Bellingen (Baden-Württemberg) hatte an dem Sonntag so viel zu tun, dass sie erst mittags zum Lesen kam.
Was heißt Lesen? Es war ein Foto von einer Annonce aus der Sylter Lokalpresse, in dem eine Pension auf der Insel zur Pacht angeboten wurde. Ohne lange nachzudenken, schickte sie es ihrem Ehemann Olaf aufs Handy. „Als ich nach der Schicht nach Hause kam, hatte er gerade den Telefonhörer aufgelegt und ein Treffen mit dem Verpächter verabredet“, sagt die 51-Jährige und lacht leise.
„Zuerst war ich gar nicht so überzeugt“
Inzwischen führt Alexandra Mundszinger seit eineinhalb Jahren ihre Pension in Wenningstedt. Luuward heißt das Haus mit drei Sternen und sieben Zimmern. „Es ist eine totale Freude. Ich habe die Entscheidung keinen Tag bereut“, sagt sie. Sylt ist der Lieblingsort des Ehepaars aus dem Markgräfler Land zwischen Freiburg und Lörrach. Seit mehr als 20 Jahren waren sie regelmäßig auf der Insel, mit Kindern und ohne.
Lange sind sie in einem kleinen Hotel ganz in der Nähe des Luuwards abgestiegen. Bis es irgendwann geschlossen wurde. Das hat eine Rolle gespielt bei der Entscheidung für den Neustart auf Sylt – mehr als 1000 Kilometer von der alten Heimat entfernt. Weiter weg geht nicht in Deutschland.
„Zuerst war ich gar nicht so überzeugt“, erinnert sich Alexandra Mundszinger an das erste Treffen mit dem Verpächter im Februar 2020. Das Haus war in die Jahre gekommen. Altmodische Tapeten, knarrende Holzbetten, rosageflieste Badezimmer. „Zu Hause hatten wir ein tolles Haus mit Garten, wo wir uns mit Kindern und Katze pudelwohl gefühlt haben“, sagt sie.
"Sylt war immer euer Traum"
Ihre damals 17-jährige Tochter war es, die mit der zaudernden Mutter Klartext geredet habe. „Sylt war immer euer Traum, warum packt ihr die Chance nicht“, habe sie gesagt. Und genau das haben die Mundszinger dann gemacht. Wobei schon die Bewerbung kein Selbstgänger war. „Es haben sich viele gemeldet, aber wir haben den Zuschlag bekommen“, sagt die frischgebackene Pensionswirtin.
Vielleicht wäre auch alles anders gekommen, wenn sie gewusst hätten, dass wenige Wochen nach der Unterschrift unter den zehnjährigen Pachtvertrag die Corona-Pandemie das Leben in Deutschland umkrempeln würde. Aber ein Zurück war keine Option. Stattdessen gingen die Mundszingers in die Vollen. Sie bauten den Klinkerbau aus den 60er-Jahren komplett um, ließen Licht und Luft in die Räume. 100.000 Euro steckten sie in ihren Lebenstraum.
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„Wer den Tag mit einem Lächeln beginnt, hat ihn bereits gewonnen“, steht im Frühstücksraum an der Wand. Für das Ehepaar mehr als ein sinnfälliger Spruch. Es ist eine Selbstvergewisserung. Im Mai 2021 eröffneten sie ihren Pensionsbetrieb. Damals war Sylt gerade Modellregion für den Tourismus in Corona-Zeiten geworden – und die Menschen aus der ganzen Republik wollten zurück auf die Insel.
Plötzlich Chefin mit Personalproblemen
Seitdem hat Alexandra Mundszinger viel gearbeitet. Ihr Tag beginnt um 6 Uhr mit der Vorbereitung des Frühstücks, hat 14 bis 16 Stunden. „Ich war immer mit Leib und Seele Krankenschwester. Genauso ist es jetzt auch“, sagt sie. Beschäftigte zu finden, das ist im Moment das größte Problem. Ehemann Olaf, selbstständiger Pharma-Berater, kann nur am Wochenende mithelfen.
99 Euro kostet in der Pension Luuward die Nacht im Doppelzimmer, mit Meerblick 105 Euro. Davon, was jeden Monat übrigbleibt, werden die Pensionsbesitzer nicht reich. Aber es läuft. „Ich bin hier meine eigene Chefin, arbeite für mich“, sagt Alexandra Mundszinger und klingt zufrieden. Und Sylt ist immer dabei. In diesem Jahr haben die beiden angefangen Golf, zu spielen. „Ich möchte an keinem anderen Ort sein. Wir haben uns einen Traum erfüllt.“
Auf Sylt zu Hause: Die Cellistin
Es ist Freitagabend, kurz vor 17 Uhr. Draußen ist es stockdunkel, aber im Gebäude der Musikschule Nordfriesland in Westerland brennt noch Licht. Bis vor wenigen Minuten klangen die Töne eines Menuetts von Georg Philipp Telemann bis ins Treppenhaus. Jetzt hat Cello-Lehrerin Julia Polziehn ihren Unterricht beendet. Zwei Schülerinnen stehen noch an der Tür des Übungsraums im ersten Stock. „Die neuen Saiten ziehen wir erst Weihnachten auf“, sagt die Lehrerin noch zum Abschied. „Dann klingt es beim Wettbewerb richtig gut.“
Es geht um die Teilnahme an dem Regionalentscheid für „Jugend musiziert“ Ende Januar 2023. Mehrere Schülerinnen und Schüler der Musikschule nehmen in diesem Jahr teil. Dass das so ist, hat viel mit Julia Polziehn zu tun. Vor zwei Jahren ist die 50-Jährige aus Krefeld nach Sylt gekommen – und hat eine neue Welle der Begeisterung für Streichinstrumente ausgelöst. Nach dem Start des Schulprojekts Little Strings gibt sie inzwischen etlichen Mädchen und Jungen Einzelunterricht auf der Nordseeinsel, betreibt ein Kinderorchester und macht Musiktheater.
"Ich war ein Sylt-Sommer-Kind"
Julia Polziehn ist Musikerin mit ganzer Leidenschaft. Und sie ist ein „Sommer-Sylt-Kind“, wie sie es beschreibt. Ihr Vater Gerhard Storck war ein bekannter Kunsthistoriker, Museumsdirektor und Förderer von Künstlergrößen wie Gerhard Richter, die Mutter Schauspielerin. Das Paar reiste schon Ende der 50er-Jahre zur Sommerfrische nach Sylt. „Ich durfte mit drei Jahren das Kurorchester in Westerland dirigieren“, erzählt die Musikpädagogin mit einem Augenzwinkern. Natürlich war das ein Spaß, aber offenbar mit Langzeitwirkung.
Als sie mit ihrem heutigen Ehemann Alexander vor einigen Jahren zum ersten Mal seit langem wieder auf die Nordseeinsel reiste, war es wie ein Flash. „Wir haben angefangen zu träumen, dass wir hier leben wollen“, sagt die Cellistin, die nach dem Studium an der Musikhochschule Köln vor allem für die Musik und ihr Instrument gelebt hat.
Viele Jahre hat sie an der Musikschule in Krefeld unterrichtet,Orchester geleitet, Musiktheater gemacht und war als Konzertmusikerin gefragt. Eigentlich, so der Plan, wollte das Ehepaar nach dem Ruhestand von Polziehns Ehemann, Orchestermusiker in der nordrhein-westfälischen Stadt, 2024 auf die Insel übersiedeln. Es kam anders.
Das hat auch mit Corona zu tun – und mit der schöpferischen Umtriebigkeit und Unduldsamkeit von Julia Polziehn. Nachdem das Ehepaar mit drei erwachsenen Kindern schon 2017 in Wenningstedt eine Wohnung gekauft hatte, waren sie im Corona-Lockdown über die Jahreswende 2020/21 auf der Insel und blieben – dank Online-Unterricht – für zehn Wochen. „Danach wusste ich, ich kann hier nicht mehr weg. Ich halte es nicht aus, hier nicht zu leben“, sagt Julia Polziehn. Egal wie, sie würde auf die Insel ziehen. „Ich habe mir sogar überlegt, eine Buchhändlerinnen-Ausbildung zu machen oder zu kellnern“, erinnert sie sich.
Neuer musikalischer Hotspot auf der Insel
Und wie es manchmal so ist, mit dem Schicksal. Plötzlich kam ein Anruf von der Kreismusikschule, wo sie schon mal ihre Unterlagen eingereicht hatte. Das Angebot: ein Honorar-Vertrag. Kein Vergleich zu dem, was sie sich in Krefeld aufgebaut hat. Trotzdem hat sie Ja gesagt. „Im ersten Monat habe ich 250 Euro verdient“, sagt Julia Polziehn. Inzwischen unterrichtet sie zwei Tage die Woche in Husum und hat eine feste Stelle auf Sylt. Seit diesem Sommer ist auch ihr Ehemann auf der Insel.
„Jedes Mal, wenn ich über den Damm fahre, kommen mir Tränen vor Dankbarkeit und Demut in die Augen“, sagt Julia Polziehn. „Ich werde auf der Insel ganz ruhig. Alle, die mich kennen, wissen, wie ungewöhnlich das ist. Viele Freunde hätten sie gewarnt, was gerade sie auf Sylt wolle, einer Insel mit dem Ruf Touristen und Idioten anzuziehen. Sie erlebt es anders. In den vergangenen Monaten hat sie in der speziellen Sylter Melange zwischen Insulanern und Zugezogenen einen neuen musikalischen Hotspot auf der Insel entwickelt. „Ich liebe auch das Grau“, sagt sie. „Da erholt sich die Seele.
Auf Sylt zu Hause: Die Supermarkt-Mitarbeiterin
Angekommen ist sie zusammen mit dem Umzugswagen an einem Sonnabend. Daran erinnert sich Kirsten Albrecht noch genau. Ein eher grauer Tag Ende Oktober 2020. Möbel und Kartons waren schnell in die Wohnung getragen. Dann ist sie mit zwei Freundinnen, die sie nach Sylt begleitet hatten, zum Strand gegangen. „Ich stand da, habe aufs Meer geguckt und war einfach nur richtig glücklich“, sagt die 60-Jährige, die lange in Hamburg gelebt und ein Modegeschäft betrieben hat. Jetzt ist sie stellvertretende Marktleiterin bei Edeka in List. „Andere leiten in dem Alter die Rente ein, ich habe noch mal durchgestartet.“
Waren bestellen. Preise kalkulieren. Regale pflegen. Frühdienst. Spätdienst. In der Hauptsaison immer wieder auch am Sonntag. Das ist harte Arbeit. Kirsten Albrecht war für Molkerei-Produkte zuständig, inzwischen ist sie in der Drogerie-Abteilung. Shampoo, Duschgel, Zahnpasta, Haushaltsreiniger, Waschpulver. „Ich packe mit an, räume die Artikel auch selbst ein“, sagt die Neu-Sylterin. Dazu Organisation, Logistik, Personalführung, was eben so anfällt in einem Supermarkt mit 350.000 Kunden im Jahr. Trotzdem sagt Kirsten Albrecht: „Ich bin hier richtig.“
"Ein Wink des Schicksals"
Es ist nicht das erste Mal, dass die gebürtige Berlinerin ihrem Leben eine komplette Wende verpasst hat. Kirsten Albrecht ist ausgebildete Tischlerin, hat Werbekommunikation studiert und in Hamburg viele Jahre bei Verlagen als Anzeigenleiterin gearbeitet. Bis sie 2006 eine Boutique eröffnet hat. „Lille Synd“ (Kleine Sünde) hat sie den kleinen Laden in Hoheluft-Ost genannt, im Angebot skandinavische Mode. Die Geschäfte liefen gut. Bis Corona kam, mit wochenlangen Lockdowns und verändertem Kaufververhalten. Die Umsätze gingen zurück und die Perspektive für einen kleinen Laden war mehr als mau.
„Die Pandemie war der letzte Auslöser für meinen Neustart“, sagt Kirsten Albrecht heute. „Ein Wink des Schicksals.“ Schon vorher habe sie überlegt, ihren Laden zu schließen und noch mal die Branche zu wechseln. Die Hobby-Köchin, die Gerichte am liebsten mit Gemüse aus dem eigenen Garten zubereitet, durchforstete die Stellenportale, bewarb sich auf Stellen in mehreren Supermärkten. „Das war ernüchternd“, sagt sie. Nicht einmal wurde die damals 58-Jährige zum Bewerbungsgespräch eingeladen.
Durch Zufall stieß sie auf eine Anzeige, in der eine stellvertretende Marktleiterin in List gesucht wurde. „Ich habe meine Unterlagen hingeschickt und 24 Stunden später hatte ich einen Rückruf“, sagt Kirsten Albrecht. Ein paar Tage später fuhr sie mit der Bahn von Hamburg auf die Insel. „Ich war vorher nur einmal für einen Tagesausflug auf Sylt“, sagt sie. Als Marktleiter Nicki Jablunka ihr den Job anbot und eine Personalwohnung dazu, überlegte sie nicht lange. Mitten in der Corona-Krise packte sie ihre Sachen und zog innerhalb von sechs Wochen von Hoheluft-Ost nach Wenningstedt.
Sylt: Freundschaften zu knüpfen, ist hier nicht einfach
Betreut hat sie es bislang keine Stunde. „Dieses Licht, dieses Wolkenpanorama, dieser Sternenhimmel.“ Dabei ist es nicht einfach, auf der Insel Bekanntschaften oder sogar Freundschaften zu knüpfen. Leichter geht es mit Menschen, die auch noch nicht so lange auf Sylt sind. „Es gibt einige Kollegen und ihre Familien, mit denen ich mich treffe“, erzählt sie.
Inzwischen hat Kirsten Albrecht mit einer neuen Bekannten einen Stammtisch für zugezogene Großstädter gegründet, der sich jeden ersten Freitag im Monat in einer Kneipe in Westerland trifft. „Wir wollen ein Netzwerk aufbauen, Erfahrungen und Tipps austauschen.“ Schon im Sommer hat die Neu-Sylterin eine neue Leidenschaft entdeckt. „Ich habe bei den Sylter Bouletten angefangen“, erzählt sie. Insider wissen, das hat nichts mit Fleischbratlingen zu tun, sondern damit, dass man dort zusammen Boule spielt.