Kiel. Der Meeresspiegel steigt, mit ihm die Flutgefahr. Experten entwickeln den „Generalplan Küstenschutz“ – mit teils radikalen Maßnahmen.
In dieser Nacht brechen die Deiche. Häuser, Höfe und Köge gehen in den Fluten unter, Hunderte Menschen – die meisten von ihnen in Hamburg – und Tiere ertrinken erbärmlich, weil Dünen abbrechen und Deiche den Wassermassen nicht standhalten. Eine der schwersten Sturmfluten des Jahrhunderts überschwemmt im Norden Städte und Dörfer. Es ist die Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962. Der Opfer wird dieser Tage – 60 Jahre später – gedacht.
Ein anderer Termin dürfte hingegen kaum dasselbe Interesse wecken: Seit zwei Jahren in Vorbereitung und in Absprache zwischen den beteiligten Verbänden und Behörden, wird dieser Tage auch der neue „Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein“ beschlossen und vorgestellt. Ein Plan, der dem Hamburger Abendblatt schon jetzt vorliegt.
Nordsee und Ostsee: Mehr Sturmfluten durch Klimawandel
Schonungslos wird hier analysiert, was dem Land zwischen den Meeren droht: der „menschengemachte Klimawandel und seine Folgen im Bereich des Küstenschutzes“, wie es im Bericht heißt. Darin fordern die Experten vor dem Hintergrund des erwarteten Anstiegs des Meeresspiegels und schlimmerer Sturmfluten, die Deiche und Warften zu verstärken, zu erhöhen oder zu überbauen.
Alle zehn Jahre erarbeiten Experten in Schleswig-Holstein seit 1963 (inzwischen im Auftrag des Umweltministeriums) den „Generalplan Küstenschutz“. Auf ihm basieren die Maßnahmen, die die Politik im Norden dann ergreift. Seit der großen Sturmflut 1962 wurden nach Maßgabe dieser Planungen rund 3,5 Milliarden Euro in Deiche, Warften und Überflutungsgebiete investiert.
Ein Viertel Schleswig-Holsteins durch Sturmfluten gefährdet
Mit dem neuen „Generalplan“ schaffe man die „Grundlage, dass die Menschen an den Küsten auch in den nächsten Jahrzehnten in Sicherheit leben können“. So formuliert es Umweltminister Jan Philipp Albrecht von den Grünen. „Als Land zwischen den Meeren stehen wir in Zeiten des verschärften Klimawandels vor besonderen Herausforderungen“, sagt Albrecht. Anders ausgedrückt: „Etwa ein Viertel der Landesfläche Schleswig-Holstein ist potenziell durch Sturmfluten gefährdet.“ So steht es im „Generalplan“.
Mehr als 330.000 Schleswig-Holsteiner leben in überflutungsgefährdeten Landesteilen, also entlang der 1100 Kilometer langen Küsten. Betroffen sind insgesamt rund 4000 Quadratkilometer. Rund 60 Milliarden Euro an „Sachwerten“ haben die Menschen und die Kommunen in diesen Regionen angehäuft, hat die Landesregierung errechnet.
Die Fortführung des Deichverstärkungsprogramms habe eine „herausragende Bedeutung“ zum Schutz dieser Menschen, Regionen und Vermögenswerte, schreibt das Umweltministerium. Deshalb sollen auch 74 Kilometer Landesschutzdeiche zu „Klimadeichen“ umgebaut werden. Das bedeutet, dass diese Deiche „bis in das nächste Jahrhundert“ sicher sind, auch „wenn sich die ungünstigste Projektion zum künftigen Meeresspiegelanstieg einstellt“, schreiben die Fachleute des Ministeriums.
Nordsee und Ostsee sollen Klimadeiche bekommen
Diese Projektion stammt vom Weltklimarat. Der geht von einer deutlichen Erderwärmung und einem beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels aus. Wesentliche Ursache sei das „Abschmelzen der großen Landeiskappen auf Grönland und in der Antarktis“. Steigt der Meeresspiegel noch weiter oder rascher als befürchtet, verfügen diese Klimadeiche über „Ausbaureserven“. Das heißt, sie sind statisch so konzipiert, dass sie nochmals einen Meter erhöht werden könnten. Klimadeiche erhalten deshalb heute schon ein anderes Fundament.
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Zu den Details des Deichausbaus nochmals ein Blick in den „Generalplan Küstenschutz“: An der Nordseeküste seien 16 Deichabschnitte mit einer Länge von 43,1 Kilometern zu verstärken, entlang der Tideelbe 11,2 Kilometer, an der Ostseeküste 20 Kilometer. Das Umweltministerium beziffert die Kosten für den 74 Kilometer langen Ausbau zu Klimadeichen auf rund 370 Millionen Euro. Minister Albrecht spricht von einer „existenziellen Investition in die Sicherheit unseres Landes und unserer Bürgerinnen und Bürger“ und davon, dass solche Ausgaben ein echter Kraftakt für ein Land wie Schleswig-Holstein seien.
Neben den Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels beschäftigen sich die Gutachter auch mit dem „künftigen Sturmgeschehen“. Sie gehen davon aus, dass die Sturmflutwasserstände in der gleichen Größenordnung ansteigen wie der mittlere Meeresspiegel. Auch von hier droht also zusätzliche Gefahr.
Salzwiesen zum Schutz der Küsten von Nordsee und Ostsee
Neben besseren, höheren und ausbaufähigen Deichen setzen die Wissenschaftler auf die Natur: „Ökosysteme“ wie die Salzwiesen sollen zum Schutz der Küsten weiter mobilisiert werden, fordern sie. Denn: Salzwiesen wachsen in die Höhe. Das liegt daran, dass mit dem Anstieg des Meeresspiegels und den zunehmenden Überflutungen sich mitgeführte Schwebstoffe und Sedimente hier ablagern. Durch dieses Wachstum in die Höhe können die Salzwiesen „einen beschleunigten Meeresspiegelanstieg (bis zu einem gewissen Grad) ausgleichen“, heißt es im „Generalplan“.
Um „hydrologische und morphologische Folgen des Klimawandels“ frühzeitig zu erkennen, wird laut „Generalplan“ ein Klimafolgenmonitoring eingeführt, heißt es im Bericht, der dem Abendblatt vorliegt. So sollen regelmäßig unter anderem umfangreiche Naturdaten erhoben, analysiert und bewertet sowie Wasserstände, Strömungen und Seegang gemessen werden.
Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und die Technische Universität Hamburg bauen in einer Forschungskooperation ein sogenanntes hydromorphodynamisches Modell der Ostseeküste auf. Ziel ist, verschiedene Meeresspiegelszenarien simulieren zu können, um so belastbar zu ermitteln, was technische Maßnahmen und Bauwerke für den Schutz der Küsten bringen.
Sylt leide bereits unter Abbruch der Nordsee-Küste
Laut Minister Albrecht muss sich niemand in den Küstenregionen Schleswig-Holsteins Sorgen machen. „Aber es ist auch klar: Wir werden Klimawandel und Klimaanpassungen erleben, aus denen sich Veränderungen ergeben. Wir werden beispielsweise einen höheren Wasserstand erleben, also nässere Flächen, weil der Grundwasser- oder Feuchtigkeitspegel steigt oder Starkregenereignisse zunehmen.“
Für den „Generalplan Küstenschutz“ befassen sich die Gutachter mit drei Regionen: mit Nordseeküste, Ostseeküste und Tideelbe. Eines ihrer Ergebnisse: „Fast ein Viertel der sandigen Ostseeküste und mehrere Küstenabschnitte an der Nordseeküste, wie zum Beispiel Sylt“, litten bereits unter strukturellem Abbruch der Küsten. „Die sich hieraus ergebenden Herausforderungen werden durch die erwartete Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs noch zunehmen“, sagt der Bericht vorher.
Ostsee-Sturmfluten haben beachtliche Schäden verursacht
Die schweren Ostsee-Sturmfluten im Januar 2017 und Januar 2019 hätten in Schleswig-Holstein beachtliche Schäden verursacht. Als Folge des beschleunigten Meeresspiegelanstiegs, schreiben die Gutachter, müsse darüber hinaus „mittel- bis langfristig mit einem räumlich und zeitlich deutlich zunehmenden Küstenrückgang gerechnet werden“.
Deshalb seien Bauverbotszonen zwingend. Die Gutachter empfehlen „ökosystembasierte Schutzmaßnahmen“, um die Ostseeküste „nachhaltig an die Folgen des Klimawandels anzupassen“. Aber: „Trotz hoher Schutzstandards der Küstenschutzanlagen können diese keine absolute Sicherheit vor Überflutungen gewährleisten.“ Deshalb müssten die zuständigen Behörden detaillierte Abwehrpläne vorhalten, fordert der Bericht.
Nordsee: Das Wattenmeer soll erhalten bleiben
Zurück zur Nordsee: Nach Ansicht der Forscher wird sich das Wattenmeer – werden keine wirksamen Klimaschutzmaßnahmen getroffen – „spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts infolge des menschenverursachten beschleunigten Meeresspiegelanstiegs grundlegend verändern. Zunehmende Sedimentdefizite im Wattenmeer werden zu Beeinträchtigungen der Sicherheit der Küstenbevölkerung vor Sturmfluten führen und starke Änderungen der charakteristischen Eigenschaften, aufgrund derer das Wattenmeer zu Nationalpark und Weltnaturerbe wurde, bewirken.“ Ziel sei aber, dass das Wattenmeer mit seinen „Funktionen für Natur- und Küstenschutz sowie möglichst auch in seiner Größe langfristig erhalten bleibt“, heißt es.
Die Gutachter haben auch analysiert, dass 15 der 33 bewohnten Halligwarften erhebliche Sicherheitsdefizite aufwiesen. Sie fordern von der Politik deshalb „nachhaltige Maßnahmen zum Schutz der Halligkanten vor Abbruch“ und eine „nachhaltige Verstärkung der Warftkörper“. Wie nötig solche Maßnahmen sind, zeigt ein Beispiel, das die Gutachter anführen: „Hallig Hooge würde bereits heute ohne Schutzanlagen bei jedem mittleren Springtidehochwasser zu mehr als 80 Prozent unter Wasser stehen. Diese ungünstige Entwicklung, nicht nur auf Hooge, wird sich infolge des beschleunigten Meeresspiegelanstiegs noch intensivieren.“
Für Minister Albrecht sind Deicherhöhungen oder Warftverstärkungen notwendige Vorsorgemaßnahmen. Der beste Küstenschutz hingegen wäre, die negativen Klimaszenarien abzuwenden, sagt der grüne Politiker.
Wissenswertes zu Sturmfluten in Hamburg:
- Sturmfluten an der Nordseeküste wirken sich regelmäßig auf Hamburg aus
- Dann tritt in Hamburg die Elbe, die zwischen Brunsbüttel und Cuxhaven in die Nordsee mündet, über die Ufer
- Am häufigsten überflutet bei Hochwasser werden in Hamburg der Fischmarkt sowie der Bereich im Museumshaven Övelgönne
- In Hamburg werden Sturmfluten in drei Klassen eingeteilt
- Als Sturmflut gilt in Hamburg ein Pegelstand von 1,5 bis 2,5 Meter über dem mittlerem Hochwasser (MHW)
- Als schwere Sturmflut gilt ein Pegelstand der Elbe von 2,5 bis 3,5 Meter über MHW
- Als sehr schwere Sturmflut gilt ein Pegelstand von mehr als 3,5 Meter über MHW
- Über Wasserstände und drohende Sturmfluten informiert das Hamburger Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH)
- Vor Sturmfluten wird in Hamburg mit lauten Böllerschüssen gewarnt
- Autofahrer sind dann angehalten, ihre Fahrzeuge aus den betreffenden Gebieten zu entfernen
- Die folgenschwerste Sturmflut der jüngeren Vergangenheit ereignete sich in Hamburg in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962
- Damals kam es vor allem im Gebiet der Unterelbe zu zahlreichen Deichbrüchen. Hamburgweit kamen insgesamt 315 Menschen ums Leben