Hamburg. Auch im Bezirk Bergedorf richtete die Sturmflut 1962 schwere Schäden an. Zeitzeugen erinnern sich an die Katastrophe.
Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes erschütterte Hamburg vor 60 Jahren: In der Nacht von Freitag, 16., auf Sonnabend, 17. Februar 1962, brachen bei einer schweren Sturmflut an mehreren Stellen die Deiche. Auch Teile von Ochsenwerder, Billwerder, Allermöhe und Moorfleet wurden überflutet. In Hamburg starben 315 Menschen, die meisten von ihnen im besonders schwer betroffenen Wilhelmsburg.
„Schon die ganze Woche über gab es schwere Stürme an der deutschen Küste. Am 16. Februar erreichten sie zeitweise Orkanstärke. Kurz nach 19 Uhr wurde in Cuxhaven die erste Sturmflutwarnung ausgegeben“, sagt Heimatforscherin Simone Vollstädt. Sie hat sich mit der Flutkatastrophe ausführlich beschäftigt, ließ die Ereignisse von 1962 vor zwei Jahren bei einem Vortrag an einem „Heimatgeschichtlichen Abend“ in Ochsenwerder Revue passieren.
Sturmflut 1962: In den Dörfern in den Marschlanden läuteten die Kirchenglocken
Um 21 Uhr löste die Hamburger Baubehörde Alarmstufe III aus und benachrichtigte die Deichverbände. „Man fürchtete Deichbrüche. Alle Hilfsorganisationen waren in Bereitschaft. Der NDR warnte um 20.30 Uhr im Radio vor einer sehr schweren Sturmflut. Um 22.15 Uhr folgte eine Warnung im Fernsehen“, sagt Simone Vollstädt. Auf eine besondere Gefahr für Hamburg oder die Elbe sei damals allerdings nicht hingewiesen worden: „Man sprach von der Nordseeküste.“
Die Menschen in Hamburg seien deshalb unbekümmert schlafen gegangen, sagt die Forscherin. „Der Sturm tobte seit Tagen. Das Wochenende stand bevor. Die Nordsee war weit weg.“ Sie berichtet weiter: „Polizisten und andere Helfer fuhren hupend und mit Sirenengeheule durch Kleingarten- und Wohngebiete. Oft hielt man sie für Betrunkene oder Störenfriede und beachtete sie gar nicht.“ In den ländlichen Regionen, bei der Bevölkerung hinter den Deichen, seien die Warnungen allerdings beachtet worden. „In den Dörfern läutete man die Kirchglocken und ließ die Sirenen heulen.“
Je steiler ein Deich, desto anfälliger ist er
Das Wasser strömte an vielen Stellen in voller Breite über die Deichkronen. Sturzbäche kolkten die Binnenböschung aus, bis der Deich so dünn geworden war, dass er dem Druck nicht mehr standhalten konnte und brach. Bei Deicherhöhungen in den vorherigen Jahrzehnten hatte man die Deiche kaum verbreitert, da dort Häuser standen. Deswegen wurden die Deiche steiler – und je steiler ein Deich, desto anfälliger ist er, erklärt Simone Vollstädt. „Durch Bauten im und am Deichkörper erhöhte sich die Anfälligkeit noch.“
„Mit unaufhaltsamer Gewalt jagte der Orkan die Fluten über Billwerder und Moorfleet – Beginn einer Sturmflut, wie sie unser Heimatgebiet zuletzt im Jahre 1773 sah“, schrieb die „Bergedorfer Zeitung“ bereits am 17. Februar. Weiter: „Am Holzhafen und an der Autobahnbaustelle hielt der Wehrdeich nicht stand, strömte das Wasser ungehindert in die Marschlande, verwüstete, was sich in den Weg stellte.“ Die Gegend zwischen Billwerder Elbdeich und Funkturm, Tatenberger Schleuse und Billwerder Billdeich sei „ein einziger See des Grauens“, schrieb der Kollege damals. „Hart an der Nettelnburger Grenze, am Oberen Landweg, hatte sich die Gewalt des Wassers gebrochen.“ Die Vierlande seien dem Orkan „wie durch ein Wunder ohne nennenswerte Schäden“ entgangen, obwohl der Deich auch dort an vielen Stellen „angeknabbert“ gewesen sei, berichteten wir damals. Die Flut hatte überall Furchen geschlagen.
In Höhe Oortkaten sei die Situation am Elbdeich besonders gefährlich gewesen: „Auf gleicher Höhe mit der Deichkante brandeten die Fluten heran, schwappten in Orkanwellen hinüber, aber der Deich hielt.“ Im Gegensatz zu Moorfleet, wo der Deich am 17. Februar um 1.45 Uhr in Höhe der heutigen Hausnummer 43 brach. Die Moorfleeter Wanne wurde überflutet. Im Deich verlegte Kabel und Rohre lagen frei. Bei der damaligen Autobahn-1-Baustelle, ungefähr wo heute die Autobahnbrücke über den Moorfleeter Deich führt, kam es um 3.15 Uhr zu einem zweiten Deichbruch. Häuser wurden weggespült, Gebäudeteile kilometerweit mitgerissen. Die gesamte Feldmark von Moorfleet, Billwerder und Allermöhe war überflutet.
Der Moorfleeter Kanal überflutete das Dorf von der Rückseite aus
„Der Marschbahndamm war bereits abgetragen, sonst hätte sich das Wasser in Moorfleet noch viel höher gestaut“, sagt Simone Vollstädt. Zu allem Unglück floss der Moorfleeter Kanal über seine Dämme und überflutete das Dorf von der Rückseite aus. Besonders schwer betroffen seien die Behelfsheime in den tief liegenden Kleingartenvereinen entlang der Bahnlinie gewesen.
Am 17. Februar um 0.30 Uhr gab es nach Simone Vollstädts Recherchen bereits mehr als 50 Deichbrüche. Um 2.10 Uhr fiel in der Vollmondnacht in vielen Hamburger Stadtteilen der Strom aus, da die Kraftwerke überflutet waren. Um 3.07 Uhr war der höchste Pegelstand des Wassers mit einer Höhe von 5,73 Metern über Normalnull erreicht, weiß Simone Vollstädt. „Um 4 Uhr standen 120 Quadratkilometer unter Wasser – das war ein Sechstel des hamburgischen Stadtgebietes.“ 100.000 Menschen waren vom Wasser eingeschlossen. Besonders betroffen waren neben Wilhelmsburg auch das Gebiet von Moorburg bis Neuenfelde und Moorfleet. An 60 Stellen waren die Deiche gebrochen, an weiteren 45 Stellen gab es so schwere Beschädigungen, dass ein Bruch drohte, berichtet die Heimatforscherin. „Mehr als 20.000 Menschen mussten für längere Zeit ausquartiert werden. Häuser lösten sich von den Fundamenten.“ Das Binnenland wurde mit Sand überschwemmt.
Menschen mussten bei frostigen Temperaturen mitten in der Nacht und leicht bekleidet auf den Dächern ihrer Häuser oft stundenlang auf Rettung warten. Als Notaufnahme diente unter anderem das Bergedorfer Lichtwarkhaus.
Nach der Sturmflut 1962: Von 1963 bis 1966 entstand ein neuer Hauptdeich
In Ochsenwerder verursachte überlaufendes Wasser immense Schäden. In Spadenland soll der Deich stellenweise nur noch einen halben Meter breit gewesen sein. Die Deiche wurden dort mit rund 100.000 Sandsäcken behelfsmäßig ausgebessert. Die Telefonverbindungen waren unterbrochen. Jedoch: „Unter den 2622 Einwohnern keine Opfer“, schrieb das „Hamburger Abendblatt“.
Zu diesen Dorfbewohnern zählte Otto Garbs (84), der schon damals am Dorfer Bogen lebte. Er ergriff am Abend der Sturmflutnacht die Initiative, als das Wasser in Höhe Elversweg über den Deich plätscherte: Garbs, damals 24 Jahre jung und Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Neudorf, forderte Schaulustige auf, Sandsäcke, deren leere Hüllen neben einem Sandberg bereitlagen, abzufüllen und zu ihm zu tragen. „So haben wir den Deich auf einem besonders empfindlichen, mehrere Hundert Meter langen Abschnitt mit mehr als 1000 Sandsäcken gesichert“, sagt er. Die Arbeit sei nicht ungefährlich gewesen: „Es klaffte ein Loch im Deich, aus dem Stromkabel ragten.“ Auch am nächsten Tag arbeitete Garbs am Deich, es wurde nachgebessert. Andere Deichbrüche in Hamburg, darunter die in Moorfleet, hatten Ochsenwerder entlastet.
Eigentümer von Notunterkünften bekamen 2500 Euro Entschädigung
In Overwerder wurden die Behelfsunterkünfte im Deichvorland schwer beschädigt, die sogenannten Stelzenhäuser, in denen damals viele Menschen ganzjährig lebten. Als Folge der Katastrophe wurde das Leben in den Hütten verboten. Die Eigentümer bekamen laut Simone Vollstädt eine pauschale Entschädigung von 2500 Mark. Proteste habe es nicht gegeben.
Zum Ablauf des Wassers sei der Deich an vielen Stellen durchstochen worden. Tierkadaver wurden beseitigt und das Gebiet desinfiziert, um Seuchen zu vermeiden. Simone Vollstädt: „Schon am 21. Februar kündigte Bürgermeister Paul Nevermann ein neues Deichsystem mit neuer Linienführung an.“ In Moorfleet, Billbrook und Billwerder kamen 14 Menschen ums Leben, weiß die Forscherin. „In Ochsenwerder, Spadenland, Overwerder/Overhaken und Tatenberg gab es durch großes Glück keine Todesopfer.“
Von 1963 bis 1966 entstand der neue Hauptdeich. Er war seit einer schlimmen Flut in Holland im Jahre 1953 in Planung. Durch die Entnahme von Klei für den Deichbau entstand der Hohendeicher See.
Zeitzeugen gesucht: Haben auch Sie die große Sturmflut von 1962 in den Vier- und Marschlanden erlebt? Dann schreiben Sie uns und schicken gern auch Fotos. Sie erreichen die Redaktion per E-Mail an die Adresse vierlande@bergedorfer-zeitung.de