Wedel. Ratsmitglieder, die jahrelang in der Planung des Baugebiets involviert waren, warnen vor Verzögerungen. Das sind ihre Argumente
Die letzte Chance, die Abstimmung über den Bürgerentscheid zum Bauvorhaben Wedel Nord vielleicht doch noch auf politischer Ebene zu kippen, gab es auf der Wedeler Ratsversammlung am 13. Juli. Doch der Großteil der Politiker stimmte dagegen. Nun liegt eine Entscheidung über den Planungsstopp in den Händen der wahlberechtigten Wedeler, die am 8. Oktober beim Bürgerentscheid abstimmen können.
Einige ehemalige und aktuelle Ratsmitglieder pochen nun darauf, dass der Informationsstand der Wedeler aus ihrer Sicht für die Entscheidungsgrundlage nicht optimal ist. Manche sehr wichtige Aspekte würden in der öffentlichen Debatte um das Baugebiet, das bis zu 1000 Wohnungen auf 53 Hektar umfassen könnte, zu kurz kommen.
Bürgerentscheid um Wedel Nord: Politiker schlagen Alarm – darum muss gebaut werden
Die ehemaligen Ratsmitglieder Martin Schumacher (FDP), Olaf Wuttke (Grüne), Manfred Eichhorn und Sophia Jacobs-Emeis (beide SPD), die teilweise seit Anbeginn der politischen Überlegungen zu Wedel Nord involviert waren, sowie das aktuelle Ratsmitglied Patrick Eichberger (Die Linke) sprechen sich klar für das Bauvorhaben der beiden Immobilienunternehmen Semmelhaack und Rehder aus.
Weil Wedel dringend mehr Wohnraum benötige. Das sei bereits in den vergangenen Jahren so gewesen und habe sich durch weltweite Krisen und Kriege noch weiter verschärft. „Laut Analyse benötigt Wedel bis 2030 circa 2000 Wohneinheiten“, sagt Eichhorn. Die Zeit dränge.
Argument für Wedel Nord: Die angespannte Wohnraumsituation
Wohnraum in Wedel sei knapp. Und die verfügbaren Wohnungen würden immer teurer. Eichberger meint: „Auch wenn Wohnen ein Menschenrecht sein sollte, unterliegt es den Grundsätzen der Marktwirtschaft, was bedeutet: Wenig Angebot und hohe Nachfrage bedeuten steigende Preise.“
Falls Wedel Nord mit beiden Bauabschnitten gebaut werden würde, wäre im Optimalfall der Bedarf bereits zur Hälfte gedeckt. Alle fünf sind sich einig, dass eine innerstädtische Nachverdichtung allein nicht ausreichend sei.
Wedel: Es entstünde viel sozial-geförderter Wohnraum
Gerade im Bereich des sozialen Wohnungsbaus würde es durch den Bau von Wedel Nord eine spürbare Verbesserung der Lage geben durch die Größe des Projekts, erklärt Eichberger.
„Im Sozialausschuss im Februar wurde mitgeteilt, dass es 636 geförderte Wohnungen gibt. 47 Wohnungen fallen bis 2025 aus der Bindung, bis 2028 entfallen noch deutlich mehr. 498 Anträge auf sozial geförderte Wohnungen lagen der Stadt Wedel vor“, so Jacobs-Emeis.
„Ohne Wedel Nord bekommen wir die Kitas und die Schule erst nach 2040“
Extrem wichtig für Wedel seien auch die beiden Kitas und eine Schule – die im zweiten Bauabschnitt geplant ist. „Ohne Wedel Nord bekommen wir die Kitas und die Schule erst nach 2040“, mutmaßt Eichberger angesichts der desaströsen Haushaltslage der Rolandstadt.
Der Schuldenberg kratzt an der 100-Millionen-Euro-Marke. Die Investoren hatten zuletzt ihre Gesprächsbereitschaft gegenüber Verwaltung und Politik signalisiert und auch in Aussicht gestellt, sich etwa am Bau der Schule beteiligen zu wollen.
Bis auf den Rahmenplan, der eine relativ grobe Richtung für den ersten Bauabschnitt vorgibt, fehlen für das Baugebiet noch viele weitere detaillierte Planungsschritte. Der Rahmenplan war mit 33 Ja- und vier Nein-Stimmen – alle von der Wählergemeinschaft Wedeler Soziale Initiative (WSI) – abgesegnet worden.
Wedel Nord: Rahmenplan ist im November 2021 von Politik abgesegnet worden
„Der Rahmenplan ist am 25. November 2021 verabschiedet worden. Dieser ist die erste Stufe für ein Bebauungsplanverfahren. Der nächste Schritt ist der Aufstellungsbeschluss für den B-Plan“, erklärt Jacobs-Emeis.
Anschließend folgten Bürgerbeteiligung, Diskussion und Beratung über Änderungen, Einwände und Bedenken. Es dürfe durch einen Planungsstopp nicht noch mehr Zeit verstreichen, meint Eichhorn: „Die Erfahrung zeigt, dass es circa ein bis zwei Jahre bis zur Beschlussfassung eines Bebauungsplanes dauert. Jetzt noch zu warten, ist nicht zu verantworten.“
Angespannte Wohnungslage in Wedel: Bürgerentscheid koste Zeit
Wenn nun zwei weitere Jahre für die detaillierte Planung durch einen erfolgreichen Bürgerentscheid wegfielen, wäre es angesichts der angespannten Wohnungslage in Wedel aus Eichhorns Sicht schlechtweg falsch.
Weitere Argumente für Wedel Nord seien – da sind sich ebenfalls alle einig – erhöhte Steuereinnahmen der Stadt, ein Anstieg der Kaufkraft für Handel und Dienstleistung oder auch die Schaffung von Wohnraum für Mitarbeiter der bestehenden Unternehmen und Firmen, die sich noch in Wedel niederlassen.
Die Faktenlage im Rahmenplan: 560 Wohneinheiten im ersten Bauabschnitt, davon 441 im Geschosswohnungsbau. Das entspricht 79 Prozent. 192 Wohnungen können eine Förderung erhalten. 30 Einzel- und 40 Doppelhäuser werden gebaut.
Zwei Wedel-Nord-Gutachten: Gegenargument Verkehr lasse sich entkräften
Eines der Haupt-Argumente der Wedel Nord-Gegner sei das Thema Verkehr. „Wir wissen aus Gesprächen mit Wedelern, die für das Bürgerbegehren unterschrieben haben, dass nur wenige Pro-Argumente im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger sind“, sagt Schumacher. Meistens habe die eine These zur Unterschrift gereicht: „Wedel Nord bringt mehr Autoverkehr – und davon haben wir schon genug.“
Wuttke: „Natürlich werden 560 neue Wohnungen mehr Verkehr produzieren, und das auch beim motorisierten Individualverkehr.“ Während die Bürgerinitiative die Ergebnisse eines Verkehrsgutachtens aus dem Jahr 2016 anzweifelt, gebe es bereits seit 2020 ein zweites Gutachten, das „trotz konservativer Prognose“ abermals keine signifikante Überlastung für das Gebiet selbst und die Stadt Wedel erkennen könne.
Gängige Praxis: Investoren bezahlen Verkehrsgutachten
Dass das zweite Gutachten von den Investoren in Auftrag gegeben und bezahlt worden sei, könne nicht als Argument gelten. Diese Vorgehensweise sei in der Zusammenarbeit von Politik und Immobilienfirmen gängige Praxis.
„Sämtliche Kreuzungen, auch an der Einmündung der Gärtnerstraße in die B431, sind in der Lage, den erwarteten zusätzlichen Kfz-Verkehr ohne größere Beeinträchtigungen abzuwickeln“, meint Wuttke. Lediglich beim Linksabbiegen vom Autal auf die Rissener Straße gebe es laut Wuttke noch Unklarheiten, da dort die Erweiterungsmöglichkeiten begrenzt seien.
Rahmenplan sieht dicht getaktete Busanbindung vor
Im Rahmenplan für das Baugebiet sind aus Wuttkes Sicht zudem viele verkehrsvermeidende Vorhaben enthalten. Etwa eine dicht getaktete Busanbindung, die auch zur S-Bahn-Station im Wedeler Zentrum und zur Bahnhofstraße führen soll.
Wuttke hebt ebenfalls die Fahrradtrassen hervor, die durch Wedel Nord führen sollen und die auch neue Schüler auf dem Weg zu ihren weiterführenden Bildungseinrichtungen nutzen könnten.
Mobilität in Wedel Nord: Anreize auf den Auto-Verzicht
Weiter nutzbar seien auch Car-Sharing-Angebote, Ladestationen für E-Mobilität und Co-Working-Spaces innerhalb des Areals. „Die Investoren sind auch nicht abgeneigt, ein autofreies beziehungsweise -armes Quartier zu definieren, wenn sich eine entsprechende Gruppe von interessierten Mietern oder Wohnungseigentümern, zum Bespiel mithilfe eines Trägers wie Stattbau, dafür findet“, so der ehemalige Ratsherr.
Zudem habe Wedel Nord auch einen „erheblichen Anteil“ an Seniorenwohnungen oder -einrichtungen, deren Bewohner tendenziell zur Verringerung von motorisiertem Verkehrsaufkommen beitragen würden. Es seien dort „so viele verkehrsvermeidende Maßnahmen geplant, dass unsere Stadt nicht unter einer Blechlawine begraben wird“, sagt er.
Wedel Nord: Flächenversiegelung sei aus ökologischer Sicht kein Problem
Auch zur Kritik, dass das Baugebiet zu viele Flächen versiegeln würde und somit ökologisch bedenklich sei, haben die Wedel-Nord-Befürworter eine klare Meinung. Es entstehe ein ökologisch und klimapolitisch vorbildlicher neuer Stadtteil, meint Schumacher: „Schwammstadt nennt sich das Verfahren, Niederschläge nicht sofort in die Kanalisation zu leiten, sondern über ein System aus Seen und offenen Gräben das Wasser in der Fläche zu halten.“
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So würde es ein besseres Kleinklima geben, zusätzlich gebe es eine „klimaorientierte“ Bepflanzung der Grünflächen. Dazu kämen auch hohe Dämmstandards bei der Bebauung, ein kommunales Wärmenetz, Gründächer und die bereits angesprochenen Mobilitätsmaßnahmen. Zudem seien die Böden durch den Einsatz von Pestiziden während der Baumschulnutzung mitnichten in einem ökologisch guten Zustand.
Baugebiet: Nur ein Politiker ist nach Kommunalwahl noch im Rat aktiv
Mit Ausnahme von Eichberger sind jene Politiker, größtenteils wegen eines gesetzten Alters, nicht mehr bei der diesjährigen Kommunalwahl angetreten. Es gehe ihnen auch nicht darum, die Bürgerinitiative zu diskreditieren. Der Bürgerentscheid – Kostenpunkt für die Verwaltung: gut 50.000 Euro – werde nun die endgültige Stoßrichtung herbeiführen.
„Der Antrieb, an die Öffentlichkeit zu treten, liegt einzig und allein darin, die Bürger noch einmal dazu zu ermuntern, sich auch mit den Argumenten für Wedel Nord zu beschäftigen“, sagt Wuttke.
Wedel Nord: Ex-Politiker befürworten das Projekt
Bei einer Mehrheit in der letzten Ratsversammlung vor der Sommerpause hätte noch durch die Politik der sogenannte Abhilfebeschluss verabschiedet werden können – und der zweijährige Planungsstopp des Bauprojektes im Norden der Stadt wäre ohne Bürgerentscheid erreicht worden.
Doch die Mehrheit aus CDU, SPD, FDP und Linken war mit 21 Stimmen gegen diesen Beschluss. Die Grünen und die WSI blieben mit 14 Ja-Stimmen in der Unterzahl.
Damit ist das von ausreichend Bürgern unterstützte Vorhaben der Bürgerinitiative „Nein zu Wedel Nord“, die 2182 gültige Unterschriften von Wedeler Bürgern eingesammelt hatte, gelungen. Die Wedeler selbst bestimmen, ob die Planung des 2014 über einen Ideenwettbewerb gestarteten Projekts vorangetrieben wird.