Abenteuerlich: Menschen bleiben im Schnee stecken, kommen nicht zur Arbeit oder zur Schule. Besonders Schleswig-Holstein trifft es hart.

Kiel. „Nein, nicht schon wieder!“ – so oder ähnlich haben am Donnerstag wohl hunderttausende Schleswig-Holsteiner geflucht. Schneemassen, Verwehungen und glatte Straßen lassen im Norden den strengen letzten Winter unverhofft schnell wieder aufleben. Tausende kommen zu spät zur Arbeit, Staus überall, die Polizei zählt bis zum Mittag mehr als 200 Unfälle, in vielen Schulen fällt der Unterricht aus, große Veranstaltungen werden abgesagt. „Man hat ja noch die Nase vom letzten Jahr voll“, stöhnt der 78-jährige Alwin Grünewald aus Schwentinental bei Kiel. „Ich kann meine Terrassentür gar nicht aufmachen, dann habe ich gleich den Schnee in der Stube.“ Die Polizei rät ohnehin: Wer zu Hause bleiben kann, soll es auch tun.

Von einer „schweren Winterlage“ sprechen Fachleute. Nur 600 Meter hat es Cornelia Westphal zur Arbeit. „Aber das ist ein Abenteuer“, sagt die Friseurmeisterin. Denn Süsel in Ostholstein versinkt, wie so viele Landstriche im Norden, im Schnee. Westphal selbst, 1,75 Meter groß, versinkt bei jedem Schritt bis zu den Knien. Bis zu zwei Meter hoch sind Schneeberge auf Bürgersteigen. Ein Räumfahrzeug hat Westphal bis zum Mittag nicht gesehen. Nachbarn haben einen Extra-Großeinkauf gemacht, da darf sie sich bedienen, erzählt sie lachend.

Seit drei Tagen war ihr zwölfjähriger Sohn nicht in der Schule, denn seitdem fährt kein Schulbus mehr. Die alleinerziehende Mutter muss improvisieren, nimmt teilweise frei. Die Grund- und Gemeinschaftsschule von Luca in Pönitz ist wie leer gefegt. Nur 70 von 350 Schülern sind da, für sie bilden die Lehrer Lerngruppen, Unterricht nach Plan ist nicht zu machen, sagt Schulleiter Peter Schultalbers. Landesweit können die Eltern selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken.

Auf der Halbinsel Schwansen an der Ostsee zwischen Eckernförde und Kappeln ist die Lage schon seit Mittwoch angespannt. Erst kam der Schnee, dann der Wind: Auf zwei Meter, gar drei und mehr türmen sich die Schneewehen. Das Amt Schlei-Ostsee hat einen Krisenstab eingerichtet. „Wohl 30 bis 50 Fahrzeuge haben festgesessen, wir haben bis Mitternacht gebraucht, sie herauszuholen“, schildert Krisenstabschef René Kinza. Seine Helfer sorgen auch dafür, dass Pfleger auf Treckern oder Radladern zu hilfebedürftigen Patienten gebracht werden.

Aus Rieseby, dem Mittelpunkt der idyllischen Halbinsel, berichtet Malte Reimer: „Der Wind pustet mit dem Schnee die Straßen zu.“ In seinem Wohnort Eschelsmark sei landunter. Die Bewohner ließen Mittwochabend ihre Autos an der Hauptstraße stehen und gingen zu Fuß nach Hause. Reimer betreibt in Rieseby den Edeka-Markt und beobachtet: „Die Leute kaufen mehr ein als sonst – Zucker, Mehl, Butter, Brot – das merkt man schon.“

Von dem heftigen Wintereinbruch ist an diesem bitterkalten Tag mit endlosen Schneefällen nicht nur der Alltag der Menschen im Norden betroffen, sondern auch das gesellschaftliche Leben. Eigentlich wollte Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) in Kiel 17 engagierten Schleswig-Holsteinern die Ehrennadel des Landes verleihen, doch daraus wurde nichts. Aus Orten wie Nübel, Seeth und auch Rieseby sollten die zu Ehrenden anreisen – die Veranstaltung wurde abgesagt. Kurzfristig musste auch der NDR seinen Jahresempfang in Flensburg verschieben und 250 Gäste auf einen neuen Termin vertrösten. Auch CDU und SPD bliesen Veranstaltungen ab.

Wer es zur Arbeit schafft, muss erst einmal durchatmen: Für die 25 Kilometer von Schellhorn nach Kiel hat ein Regierungsangestellter anderthalb Stunden gebraucht. „Nur Stopp and Go“ schildert der 47-Jährige. „Die Leute sind aus dem Nichts in die Leitplanken gerutscht.“ Kilometerlange Staus auch auf den Autobahnen. Wer nach Kiel oder auf der A 7 in Richtung Dänemark will, braucht viel Geduld.

Viola Edelhagen aus Haby zwischen Kiel und Eckernförde hat sich mit Lebensmitteln eingedeckt, zumal es im Dorf keinen Kaufmann gibt. Sie gewinnt der Situation auch einen besonderen Aspekt ab: „Wir hören gar keine Autos und Trecker mehr von der Straße, die wir sonst sehr deutlich hören, eine unheimliche Stille“, sagt die Schauspielerin. „Wir haben alle Termine abgesagt, kommen wahrscheinlich aber noch vom Hof, wenn wir Schnee schippen.“

Nur fehlt vielerorts das Zubehör: „Wir haben momentan keine Schneeschieber und kein Streusalz mehr“, berichtet Teamleiter Robert Urbaniak vom Baumarkt Max Bahr in Kiel. „Die Nachfrage ist riesengroß.“

Während zwischen den Meeren im Norden fast nichts so lief wie sonst, gab es auf dem Wasser weniger Probleme: Die großen Ostsee-Fähren aus Oslo und Göteborg liefen am Morgen pünktlich in die Kieler Förde ein – als wäre nichts geschehen.

Norddeutschland ist eingeschneit. In vielen Teilen des Nordens herrschte am Morgen Verkehrschaos. Auch die Bahn hat Probleme. Die ICE-Linie von Hamburg ins dänische Kopenhagen ist wegen Schneeverwehungen unterbrochen worden. Die Züge entfallen in Deutschland ersatzlos, wie die Deutsche Bahn mitteilte. Ein Schienenersatzverkehr könne nicht angeboten werden, da die Straßen nicht passierbar seien. Eine Prognose für die Streckenfreigabe war den Angaben zufolge zunächst nicht möglich.

Witterungsbedingte Einschränkungen im Zugverkehr aufgrund starker Schneeverwehungen gibt es in Schleswig-Holstein auf der Strecke Lübeck-Puttgarden und Eckernförde-Flensburg. Auch in diesen Bereichen gebe es keinen Ersatzverkehr mit Bussen, hieß es weiter. Auf der Strecke Kiel-Flensburg wird Reisenden in beiden Richtungen die Fahrt über Neumünster empfohlen. Die Züge pendeln derzeit nur zwischen Kiel und Eckernförde.

Aufgrund von Weichenstörung im Kieler Hauptbahnhof kam es am Donnerstagvormittag zu Verspätungen und Zugausfällen. Auf der Strecke Lübeck-Bad Kleinen fiel seit dem frühen Morgen jeder zweite Zug aus, so dass die Regionalbahn nur einen Zweistundentakt fuhr. Es sollten die Züge ab Lübeck-Hauptbahnhof zu den ungeraden Abfahrtzeiten ausfallen. Es wurden keine Busse als Ersatz eingesetzt.

Verkehrschaos in Hamburg

Und es schneit weiter - zum Beispiel in Hamburg. Hier liegen aktuell zwei Zentimeter Neuschnee. Schon um 4 Uhr waren 120 Winterdienstfahrzeuge der Stadtreinigung ausgerückt, um die Fahrbahnen zu streuen. Weitere 700 Einsatzkräfte sollen Bushaltestellen, anliegerfreie Gehwege (etwa auf Brücken) und Zuwege zu Haltestellen sichern. Die Stadtreinigung rechnet mit bis zu 5 Zentimetern Schnee, im Westen und Nordwesten der Hansestadt aber wahrscheinlich weniger.

Aufgrund des Schneefalls kam es gerade auf den Autobahnen rund um Hamburg zu Verkehrsbehinderungen. So verzeichnete die Polizei auf der A7 in Richtung Süden 21 Kilometer stockenden Verkehr, auf der A23 in der selben Richtung waren es 14 Kilometer. In der Gegenrichtung staute sich der Verkehr auf einer Länge von bis zu 15 Kilometern. Ein Lkw-Fahrer hatte die Trennwand zwischen zwei Fahrspuren vor dem Elbtunnel gerammt. Der Laster ist inzwischen abgeschleppt worden. Dennoch ist eine Spur noch wegen Reperaturarbeiten gesperrt. Auch in der Stadt lief der Verkehr auf den Hauptstraßen eher zäh. Seit Mittwochabend verzeichnete die Polizei in Hamburg 50 sogenannte wetterbedingte Unfälle.

+++ Die Lage im übrigen Europa +++

Autofahrer und Fußgänger sollten sich auf Behinderungen einstellen - Nebenstraßen werden vom Winterdienst nicht gestreut. Für Gehwege sind die Grundeigentümer verantwortlich, die die Streupflicht auch an ihre Mieter weitergeben können.

Winterchaos in Schleswig-Holstein: NDR sagt Jahresempfang in Flensburg kurzfristig ab

Wegen der extremen Wetterverhältnisse in Schleswig-Holstein hat der Norddeutsche Rundfunk sogar seinen für diesen Donnerstag geplanten Jahresempfang in Flensburg abgesagt. "Anhaltender Schneefall, starker Wind, Schneeverwehungen, unbefahrbare Straßen und gesperrte Bahnstrecken – unter diesen Umständen wollen wir unsere Gäste nicht gefährden und ihnen eine Anreise nach Flensburg nicht zumuten", so NDR-Intendant Lutz Marmor und Landesfunkhausdirektor Friedrich-Wilhelm Kramer. „Wir bedauern diese Entscheidung sehr und bitten dafür um Verständnis.“ Marmor und Kramer versprachen: „Den Jahresempfang in Flensburg werden wir selbstverständlich nachholen.“ Der NDR hatte rund 250 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien und Sport anlässlich des Jubiläums „60 Jahre Studio Flensburg" zum Jahresempfang ins Deutsche Haus nach Flensburg eingeladen.

Chaos auf den Autobahnen in Norddeutschland

Zwei Lastwagenfahrer sind am Donnerstagmorgen auf der Autobahn 1 bei Lensahn (Kreis Ostholstein) in Schneewehen geraten und haben die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren. Die Lastwagen fuhren unabhängig voneinander in die Leitplanke und rutschten quer auf die Fahrbahn, teilte die Autobahnpolizei in Scharbeutz mit. Die A1 war in Richtung Puttgarden voll gesperrt. Verletzt wurde bei dem Unfall niemand. Im Kreis Ostholstein herrscht schon seit Dienstag Schneechaos. Schulen blieben vielerorts geschlossen, es gab viele Verkehrsunfälle. Nach Angaben der Nord-Ostsee-Bahn GmbH wird der Busverkehr am Donnerstag auch wieder nur eingeschränkt fahren.

Bei Schnee und Glätte hat es auf Niedersachsens Straßen am Donnerstagmorgen zahlreiche Unfälle gegeben. „Auf den Autobahnen stehen die Fahrzeuge reihenweise quer, wir haben alle Hände voll zu tun“, berichtete ein Sprecher der Autobahnpolizei in Thieshope. Bislang seien die Unfälle aber glimpflich verlaufen. Wegen eines querstehenden Lkw kam es am Morgen auf der Autobahn 7 in Richtung Hannover zwischen Thieshope und Garlstorf (beides Kreis Harburg) zu Verkehrsbehinderungen. Zwischenzeitlich waren zwei der drei Fahrstreifen wegen der Räumarbeiten gesperrt. In der Nacht hatte es in Niedersachsen leicht bis mäßig geschneit. „Wir haben acht bis zehn Zentimeter Neuschnee“, sagte der Polizeisprecher in Thieshope.

Auf der Autobahn 7 bei Flensburg war der Verkehr teilweise wie gelähmt. Der Winterdienst war dort im Dauereinsatz und kam den wehenden Schneeflocken einfach nicht hinterher. An der Ostseeküste in Schleswig-Holstein werden nach Angaben des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) am Donnerstag eine Sturmflut erwartet. In der Lübecker Bucht werden Pegel von 1,2 Metern über dem normalen Wasserstand erwartet, so das BSHauf seiner Webseite. Damit können die Wasserstände an der Ostsee auf 6,2 Meter ansteigen – fünf Meter gelten als normale Schwelle.

Auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat starke Winde für die Ostsee vorausgesagt. „Obwohl bundesweit die Winde schwächer werden, werden die Windgeschwindigkeiten an der Ostsee hoch“, sagte der DWD- Meteorologe Matin Jonas. Schwere Böen könnten deshalb auch den Schnee heftiger verwehen. „Der Schnee ist locker und pulverig, deshalb braucht es nur schwache Böen, damit es zu Schneeverwehungen kommt.“

ICE rammt Lkw - ein Toter

Im Osten von Schleswig-Holstein herrscht dagegen schon längst Schneechaos. Seit Tagen türmte sich der Schnee auf den Straßen. Dadurch blieben Autos und Lastwagen stecken. Bei einem Unfall am Mittwochabend wurde ein Mensch getötet. Ein Lastwagen war auf den Gleisen bei Hennigsdorf steckengeblieben, wurde kurz darauf von einem Zug gerammt . Der Lastwagenfahrer starb.

In Mecklenburg-Vorpommern sorgten stürmischer Wind und starke Schneefälle in der Nacht für schwierige Straßenverhältnisse. Besonders betroffen war die Insel Rügen, wo teilweise Straßen komplett unpassierbar waren. Die Polizei in Stralsund riet den Autofahrern auf Rügen deshalb: „Am Besten, man lässt sein Auto stehen.“Auch in anderen Landesteilen sind die Straßen sehr glatt. Zudem könnten sich Regionalzüge verspäten. Nach Auskunft der Meteorologen vom Deutschen Wetterdienst (DWD) lassen die Schneefälle aber allmählich nach. Der DWDhatte deshalb seine Unwetterwarnungen bereits am frühen Morgen aufgehoben.

Probleme auch in anderen Landesteilen

Die Deutsche Bahn teilte mit, dass es in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und im Norden Bayerns zu erheblichen Störungen kommen werde. Schnee auf den Gleisen, umgestürzte Bäume auf den Schienen oder zerstörte Oberleitungen und Weichen waren das Hauptproblem. In Sachsen musste der Fernverkehr aus Leipzig nach Nürnberg eingestellt werden. Im thüringischen Saalfeld musste ein ICE nach München seine Fahrt stoppen. Die 165 Fahrgäste wurden von Feuerwehrleuten und Rettungshelfern mit Wolldecken, Essen und Getränken im Zug versorgt. Schneewinde fegten über die Straßen.

Bei Nürnberg wurde ein Lastwagen wurde auf einem Bahnübergang erfasst, weil das Fahrzeug steckenblieb. Der Fahrer starb. Im Zug wurden vier Passagiere verletzt – die Strecke von Bayreuth nach Nürnberg wird deshalb bis in die Morgenstunden gesperrt sein. Zudem starb eine 30-jährige Frau, nachdem sie sich mit ihrem Auto bei Aschaffenburg auf glatter Straße überschlagen hatte. Auch in Sachsen führten die Schneeverwehungen auf den Autobahnen und Bundesstraßen zu Problemen. Laut der Unwetterzentrale Meteomedia war in der Sächsischen Schweiz deshalb Alarmstufe violett angesagt - die höchste Stufe überhaupt. Teilweise fiel dort 30 Zentimeter Neuschnee, frische und starke Winde sorgten für Schneeverwehungen. Dort blieben in der Nacht zum Donnerstag mehrere Lastwagen und Autos stecken. Auch in Sachsen-Anhalt meldeten die Polizeibehörden große Störungen auf den Straßen. Auf der A2 führten Schnee und Wind zu stockendem Verkehr und Staus. In Thüringen waren durch die Schneefälle die A4 und A9 betroffen. An den Flughäfen Frankfurt am Main und München führten die Schneewinde wieder zu Flugausfällen."

In München sind bereits einige Annullierungen gemeldet“, sagte eine Sprecherin der Flugauskunftzentrale am frühen Donnerstagmorgen. Und auch in Frankfurt kündigten sich erneut mehrere Streichungen an. „Für heute sind bereits 40 Flüge annulliert“, sagte die Sprecherin vom Flughafenbetreiber Fraport, Waltraud Riehemann. Dies seien 25 Landungen und 15 Starts. „Der Winterdienst ist im Dauereinsatz. Bis der Schnee aber beseitigt ist, kann das Stunden dauern.“ Zwar seien nur wenige gestrandete Passagiere am Flughafen – trotzdem standen für sie immer noch knapp 400 Feldbetten bereit.

Eine gute Nachricht hatten die Meteorologen aber doch:„Die Winde werden am Donnerstag schwächer werden“, sagte DWD-Fachmann Martin Jonas. Zwar werde der Schnee immer noch locker und pulverig sein und deshalb mit leichten Böen schon wirbeln können. Nur die Ostsee werde von schnellen und stürmenden Winden heimgesucht. Ansonsten werde es ruhiger. Auch für Bayern und Baden-Württemberg sagte ein DWD-Fachmann das voraus. Aber:„Die tiefen Temperaturen bleiben weiterhin wirklich extrem.“ Mit bis zu minus 15 Grad nämlich. Ein Polizeisprecher aus Stuttgart fasste die Lage zusammen:„Hier liegt so viel Schnee. Da dreht sich kein Rädle.“