Lauenburg. Die kleine Robbe hat sich scheinbar an der Lauenburger Marina niedergelassen. Anwohner besorgt, doch Wissenschaftler gibt Entwarnung.
Braune Knopfaugen und ein Blick zum Steinerweichen – der Seehund, der sich vor der Marina in Lauenburg häuslich eingerichtet hat, bewegt die Gemüter. Neulich war sogar ein Fernsehteam des NDR da, um Fredo zu filmen. Hafenmeisterin Yildiz Frühauf hat der kleinen Robbe diesen Namen verpasst. Seit etwa einem Jahr wird das Tier hier gesichtet: mal auf Höhe des Ruferplatzes, mal auf Sandbänken weiter draußen, sogar vom Geesthachter Elbufer aus. Doch jetzt scheint Fredo sesshaft geworden zu sein. Oder ist es gar nicht ein und dasselbe Tier?
Dr. Dominik Nachtsheim vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) in Hannover erforscht seit Jahren das Leben der Meeressäuger. Unter seiner Leitung lief zwischen August 2019 bis Dezember 2022 das wissenschaftliche Projekt „Tracking und Untersuchung von Seehunden in der Tideelbe“.
Seehunde in Elbe: Etwa 500 Tier zwischen Cuxhaven und Wedel gezählt
Dass sich Schweinswale und Seerobben bis in den Hamburger Hafen vorwagen, war den Forschern bekannt. „Unklar ist jedoch, wie intensiv Seehunde die Tideelbe nutzen, in welchen Gebieten sie fressen, wie standorttreu die Tiere sind und ob es einen regelmäßigen Austausch mit Tieren aus der Nordsee gibt“, steht in der Projektbeschreibung.
Etwa 500 Seehunde haben die Wissenschaftler in dem Elbabschnitt zwischen Cuxhaven und Wedel gezählt. „Dass einzelne Tiere noch weiter schwimmen und sogar die Staustufe in Geesthacht überwinden, war bisher nicht gesichert“, sagt Dominik Nachtsheim.
Fredo ist offenbar ein neugieriger „Teenager“
Besorgte Tierfreunde hatten in den vergangenen Tagen immer wieder Bedenken geäußert, wenn Bilder von Fredo in den sozialen Netzwerken auftauchten. Würde der Seehund in die Nordsee zurückfinden? Ist das nicht zu viel Rummel um das Tier? Der Experte hat sich die Fotos genau angeschaut.
„Das scheint ein Jungtier zu sein, etwa ein bis zwei Jahre alt. In diesem Alter sind die Tiere überaus neugierig. Möglicherweise ist das der Grund, warum der Seehund keine Scheu vor Menschen zeigt“, sagt er. Seehunde können zwischen 30 und 40 Jahre alt werden. Die Jungtiere werden nur wenige Wochen von der Mutter gesäugt und schwimmen dann bald ihrer eigenen Wege.
Wurde Seehund Fredo im Wattenmeer geboren?
„Von Weitem dürfen sich Interessierte gern an dem Tier erfreuen. Aber bitte nicht füttern oder anderweitig anlocken. In diesem Falle würde es zu sehr auf den Menschen geprägt“, warnt der Wissenschaftler. Dies sei auch gar nicht nötig. „Der Seehund sieht gut genährt aus. Er scheint also in der Elbe gut zurecht zu kommen“, hat er festgestellt.
Warum hat Fredo die große Kraftanstrengung überhaupt auf sich genommen? Immerhin hat sich der kleine Kerl von der Nordsee über den Hamburger Hafen und die Geesthachter Staustufe gut 150 Kilometer stromaufwärts bis Lauenburg durchgeschlagen.
Das possierliche Tier schmückt das Augustblatt in Eisermanns Kalender
In den vergangenen Jahren wurden immer mal wieder Seehunde in der Gegend gesichtet. Im August 2017 berichteten Binnenschiffer sogar, dass neben ihnen in der Geesthachter Schleuse plötzlich ein Seehund aufgetaucht wäre. Danach machten immer mal wieder Berichte die Runde, dass jemand ein Exemplar der Meeressäuger zwischen Lauenburg und Geesthacht gesehen hätte.
Der Lauenburger Fotograf Dirk Eisermann bekam einen Seehund vor Kurzem vor die Linse. Zuvor hatten Leute die Robbe auf Höhe des Rufer-Platzes gesehen. Das possierliche Tier schmückt das Augustblatt in Eisermanns Kalender „Tiere in den Elbtalauen“. Ist es Fredo oder ein Artgenosse, dem es hier ebenfalls gefällt? Ist der junge Seehund vielleicht gar nicht im Wattenmeer geboren?
Techtelmechtel zwischen einem Seehundweibchen und einem Seehundmännchen?
Möglicherweise hatte es auf einer Sandbank in der Elbe ja ein Techtelmechtel zwischen einem Seehundweibchen und einem Seehundmännchen gegeben? „Eine romantische Vorstellung, aber recht unwahrscheinlich“, sagt Dominik Nachtsheim lachend.
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Während ihrer Untersuchung hatten die Wissenschaftler herausgefunden, dass sich auch die Tiere, die sich sonst in der Tiedeelbe aufhalten, zur Paarung und zum Gebären der Jungen in das Wattenmeer begeben. Fredo war bei seiner Geburt etwa zehn Kilo schwer und konnte sofort schwimmen.
Bis 1973 durften in Deutschland Seehunde gejagt werden
Bei der Sympathie, die Fredo von den Lauenburgern erfährt, scheint es unglaublich, dass jemand so einem possierlichen Tier an den Kragen will. Doch noch im späten 19. Jahrhundert waren die Seehunde an den Küsten praktisch Freiwild. Fischer glaubten, dass der Seehund ihre Fischbestände plündere. Die Ausrottung des Seehundes wurde als erstrebenswertes Ziel gesehen. So beklagten sich 1902 die Fischer von Rügen in einer gemeinsamen Petition an den Regierungsbezirk Stralsund, dass sie ohne eine „Vertilgung der Seehunde“ ihrem Ruin entgegen gingen.
Pro erlegtem Seehund wurden in Vorpommern 5 Mark gezahlt, und bald zogen andere Ostseestaaten nach und zahlten ebenfalls Prämien. Auch in der Nordsee wurde Seehunden von Prämienjägern nachgestellt. Die Größe der Nordsee machte eine so effektive Ausrottung wie in der Ostsee allerdings schwerer. 1953 wurde im Bundesjagdgesetz die ungeregelte Jagd beendet. Von da an musste ein Interessierter bei der Jagdbehörde seines Landkreises einen Erlaubnisschein beantragen, mit dem er das Recht auf die Seehundjagd bekam. Seit 1973 ist die Jagd auf Seehunde in Deutschland verboten. Heute leben im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer etwa 7000 Seehunde.
Forscher interessieren sich für Fredo und seine Artgenossen
Bei Dominik Nachtsheim hat Fredo wissenschaftliches Interesse geweckt. „Über Seehundpopulation in der Tiedeelbe wissen wir mittlerweile eine ganze Menge. Wir haben einige Tiere mit speziellen Sendern ausgestattet und kennen ihr Bewegungsprofil“, sagt er. Auch über den Gesundheitszustand der Tiere wisse man gut Bescheid.
Wenig erforscht sind dagegen die Seehunde, die in Lauenburg und in der Elbtalaue gesichtet werden. „Wir wissen nicht, ob sie standorttreu sind, oder über die Geesthachter Staustufe auch in die Nordsee zurückschwimmen“, sagt der Experte. Er könne sich einen wissenschaftlichen Ansatz zu diesem Thema vorstellen. Eine Auswertung der so gewonnenen Daten würde Aufschlüsse geben über den Aktionsradius von Fredo und seinen Artgenossen. Auch ließe sich so abschätzen, ob es mögliche Konflikte zum Beispiel mit dem Schiffsverkehr geben könnte.
Apropos Schiffsverkehr: Dominik Nachtsheim geht nicht davon aus, dass Fredo Dauergast an der Lauenburger Marina sein wird. „Spätestens wenn die Freizeitkapitäne ab dem Frühjahr dort mit ihren Booten anlegen, wird er sich ein ruhigeres Plätzchen suchen“, ist er überzeugt.