Geesthacht. Am 15. April werden in Deutschland die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet. Was ein skurriles Objekt in Geesthacht damit zu tun hat.
Wer dieses Atomkraftwerk bauen will, benötigt nur eine ruhige Hand, eine Schere, Klebe – und viel Geduld. Mit 100 bis 130 Stunden ist zu rechnen, so die Anleitung zum Bau. An alles ist gedacht: Das Reaktor-Hilfsanlagengebäude steht in fünf bis sieben Stunden, Notspeise-, Schaltanlagen- und sowie Büro- und Sozialgebäude in jeweils drei bis fünf Stunden, Notstromerzeugergebäude und Kaltwasserzentrale brauchen zum Aufbau 14 bis 25 Stunden, Fortluftkamin und Rohrbrücke sieben bis zehn Stunden und das Maschinenhaus 30 bis 35 Stunden. Das Herzstück beansprucht die meiste Aufmerksamkeit. Das Reaktorgebäude mit Portalkrangerüst verlangt 35 bis 40 Stunden Aufmerksamkeit. Ein Rückbau allerdings würde zügig gehen. Mit der flachen Hand draufschlagen, zur Entsorgung der Überreste führt der Weg dann zur Papiertonne, nicht zur Sondermülldeponie.
„So etwas hatte noch nie jemand von uns gesehen“
Die Rede ist von einem detaillierten Modell eines Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor, „Typ DWR 1300 MW“, bestehend aus 332 Teilen, gedruckt auf Ausschneidebögen im Maßstab 1:350. Empfohlen wird als Grundlage eine Tischplatte in den Maßen 60 mal 140 Zentimetern. Das zu klebende und zu falzende Papieratomkraftwerk von 1983 ist der neueste Zugang im privaten Anti-Atomkraftmuseum von Bettina und Gerhard Boll. Es ist ein skurriles Zufalls-Fundstück.
Die Bögen haben Freunde am 6. März zum Jahrestag der Atomkatastrophe von Fukushima mitgebracht. „So etwas hatte noch nie jemand von uns gesehen“, sagt Bettina Boll, die gemeinsam mit ihrem Mann seit Jahrzehnten in der Anti-Atom-Bewegung aktiv ist Auch anderen langjährigen Mitstreitern war der Bausatz nicht bekannt. Immerhin erbrachte die Suche im Internet eine Handvoll Treffer. Auf dem Versteigerungsportal Ebay ist ein originalverpacktes Exemplar gelistet, 55 Euro soll es bringen. Ein weiteres Angebot zielt auf den internationalen Markt, 29 Dollar werden gefordert.
Das Timing für das neueste Exponat im Museum könnte nicht besser sein. Auf dem den Bastelbogen begleitenden Poster zu den technischen Abläufen in so einer Anlage wird ein Trio von Atomkraftwerken aufgelistet, die damals im Bau waren: Isar 2, Emsland und Neckar 2 – genau diese sind nun die letzten drei deutschen Atomkraftwerke, die am 15. April in den atomaren Ruhestand verabschiedet werden.
Die Position des Reaktorgebäudes kennzeichnet eine Explosionszeichnung
Alle Teile des Modellbaubogens sind mit Ziffern nummeriert, deren Reihenfolge eingehalten werden muss. Die Anleitung macht aus dem in der Realität gefährlichsten Vorgang am Vorabend der Katastrophe von Tschernobyl (1986) einen naiven Bastelspaß. „Teil 237-237 c Steuerstäbe und Brennelemente zu einem Zylinder runden und schließen. Auf farbliche Übereinstimmung achten. Diesen Zylinder nun in den vorbereiteten Reaktordeckel 233-233c einschieben und im Bereich der strichpunktierten Linien mit diesem verkleben. Die farbig bedruckte Seite weist dabei zu den grün gedruckten Steuerstäben. Diese Einheit nun durch die Öffnungen der Scheiben 231b schieben und damit den Reaktor komplettieren“, leitet das Heft die Bastler an. Die richtige Position des Reaktorgebäudes auf der Grundplatte ist mit einer Explosionszeichnung gekennzeichnet.
„Und es macht puff, und die Kühe fallen um und die kleinen Häuser und Bäume“, sagt Evelyn Hamann als Verkäuferin im berühmten Loriot-Sketch in „Weihnachten bei den Hoppenstedts“ von 1978. Sie preist im Spielzeugladen einen Atomkraftwerkbausatz an, der explodiert, wenn etwas falsch zusammengebaut wird. „Genau daran haben wir sofort gedacht, als wir den Bastelbogen gesehen haben“, meint Gerhard Boll.
Die Bögen stammen von einem verstorbenen Bergedorfer Lehrer, dessen Nachlass die Freunde der Bolls kurz vor dem Fukushima-Jahrestag gesichtet hatten. Die Bögen wurden wahrscheinlich im Rahmen einer PR-Aktion der Atomwirtschaft an Schulen als kostenloses Lehrmaterial verschickt. Gerhard Boll war selbst Lehrer an der Geesthachter Realschule, der heutigen Bertha-von-Suttner-Schule. Er weiß um den pädagogischen Wert von Bastelbögen, die zur Konzentration erziehen. „Das vorliegende Modell eines Kernkraftwerks eignet sich auch hervorragend zum Zusammenbau in verschiedenen Arbeitsgruppen“, wirbt das Begleitheft. Für den Zusammenbau mahnt es zur absoluten Pingeligkeit. „Wer schon beim Ausschneiden größte Sorgfalt anwendet, schafft Modelle, die man in jede Vitrine stellen kann.“
Bögen sollten für Akzeptanz von Atomkraftwerken sorgen
Die Pädagogen sollten wohl im Unterricht beim Basteln dieser Bögen mit den Schülern Akzeptanz für die Atomenergie erzeugen. Um die Zustimmung zum Atomstrom stand es damals schon schlecht. So hatten am 28. Februar 1981 rund 100.000 Menschen bei der bis dato größten deutschen Anti-Atom-Demo vor Ort gegen den Bau des AKW Brokdorf demonstriert.
Beigelegt ist den Drucken ein Anleitungsheft mit 28 Seiten, zudem ein Lehrheft und das Poster. Verantwortlich für das Paket ist die Kraftwerk Union AG (KWU), ein gemeinsames Tochterunternehmen von Siemens und AEG. Auch das KKW Krümmel und das KKW Brunsbüttel wurden von der KWU errichtet. Nach mehreren Verkäufen, Ausgliederungen, Umbenennungen und anderen geschäftlichen Veränderungen sind die Geschäftsfelder der KWU mittlerweile in der Framatome aufgegangen.
In Lingen ist am Freitag ein Abschaltfest geplant
Arbeitslos werden die Atomkraftgegner mit dem Ende der Atomkraftwerke in Deutschland nicht. Die nächsten Aufgaben stehen an. So gibt es nach Abschaltung des Atomkraftwerkes Emsland in Lingen dort weiterhin eine Brennelementefabrik. Die ANF gehört zum französischen Framatome-Konzern, der wiederum über ein Gemeinschaftsunternehmen in Frankreich eine enge Kooperation mit einem russischen Unternehmen unterhält – unter anderem für die Produktion von Brennelementen des russischen Reaktortyps. Deshalb wird im Rahmen eines „Abschaltfestes“ am 15. April ab 13 Uhr vor der Fabrik Am Seitenkanal 1 demonstriert. In Geesthacht steht Bettina Boll am 22. April an einem Wahlkampfstand der Grünen in der Innenstadt Rede und Antwort. Auch in Geesthacht gibt es weiterhin genug zu tun. Schließlich gilt es, den Rückbau von gleich zwei Reaktoren – neben dem AKW in Krümmel auch den Forschungsreaktor auf dem Helmholtz-Gelände – kritisch zu begleiten.
Lauten Jubel empfinden die Bolls über das Ende der Atomkraft nicht, eher eine Art stille Genugtuung. „Egal, wie in Zukunft Strom produziert wird – es bleibt ein krasses Überflussproblem“, sagt Bettina Boll. „Es wird zu viel mit hohem Energieaufwand produziert, das nach ein paar Tagen gleich wieder im Müll landet.“
Die Existenz so eines Bausatzes bei den Bolls sprach sich schnell herum in der Szene der Atomkraftgegner. Ein junger Mann fand ihn so originell, dass er nachfragte, ob er die Bögen zum Bauen haben könne. Kann er – aber nicht das Original. Alle Bögen sind gescannt, der Bastler bekommt eine Kopie. Wer das Museum besuchen möchte oder auch basteln will, kann sich bei ihnen melden. Der Bau von Atomkraftwerken in Deutschland – er wird so auch nach dem 15. April weitergehen.