Geesthacht. Bei Familie Boll ist Fliegen verpönt. Doch die Ferienreise mit Zug in den Süden Italiens führte sie ins Bahnchaos.
Die Deutschen Bahn schaffte es Ende vergangenen Jahres mal wieder in die Tagesschau. „Was die Schweizer Bahn im Winter besser macht“, lautete der Titel des Hintergrundbeitrags. Anlass war das jüngste Zugchaos Anfang Dezember. Wegen eines Wintereinbruchs mit Schnee ging insbesondere am Münchner Hauptbahnhof gar nichts mehr.
Die Deutsche Bahn sei eine Schönwetterbahn und ergebe sich dem Winter, urteilte der befragte Professor Markus Hecht, Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge an der TU Berlin. Um die Thesen mit persönlichen Erlebnissen zu unterfüttern, hätte man auch Jörn-Peter Boll befragen können. Der Sohn der stadtbekannten Geesthachter Umweltschützer Bettina und Gerhard Boll steckte mit seiner Familie mittendrin im bayrischen Kuddelmuddel und erzählt von grotesken Situationen.
Deutsche Bahn: Chaos wegen Schneefalls – und ein Umweltfreund mittendrin
Dabei hatte der Autor des Buches „Grafiken für eine bessere Welt“ es doch nur gut gemeint: Jörn-Peter Boll alias Captain Futura wollte mit seiner Freundin Maike Reddig und Sohn Jona (fast zwei Jahre alt) für die Urlaubsreise nach Sizilien aufs Fliegen verzichten und lieber mit dem Zug fahren.
Aber der Reihe nach. Los ging es am 31. Oktober vom Harburger Fernbahnhof aus. Bereits die Suche nach einem Ort, der sich mit dem Europa-Spezialticket anfahren lässt, war hakelig. „Man muss halt vorher wissen, welche Städte gehen, sonst sucht man sich auf der Bahnseite dumm“, erläutert Jörn-Peter Boll. „Das Ganze funktioniert bereits beim Buchen nach dem Prinzip ,try and error‘“.
„Undurchschaubar“: Beim Buchen lieber vorher nach den Städten für die Anfahrt googeln
Erschwerend kommt hinzu: Manche Städte gingen mal, dann wieder nicht. Das Konzept dahinter ist ihm undurchschaubar geblieben. Und Jörn-Peter Boll ist kein Bahnanfänger, er besitzt auch das 49-Euro-Ticket. Er empfiehlt Touristen, die es ihm gleich tun wollen, zunächst nach Nutzerberichten zu googeln, welche Städte überhaupt machbar seien. „Es lohnt sich finanziell aber ordentlich“, sagt er.
Für das Trio ging es zunächst über München nach Verona, weiter mit Train Italia bis Messina und mit der Bahnfähre nach Sizilien. Die Fähre ist im Zugpreis inbegriffen. „Sizilien ist mit der Bahn gut erreichbar, liegt zudem außerhalb der norddeutschen Wetterszene“, sagt Jörn-Peter Boll zum Reiseziel. Die italienische Bahn ist zudem sehr zuverlässig und zügig unterwegs.
Aus dem Vulkankrater stiegen gelbe Wolken aus Schwefel auf
Auch Unterkünfte zu finden sei im Winter sehr einfach in Süditalien. Die Reisezeit findet Jörn-Peter Boll ideal. Die tiefsten Temperaturen liegen durchgehend im November bei 17, 18 Grad, in der Sonne bis 23 Grad. Wenn man in der Mittagssonne unterwegs ist, kann man noch baden. Das Wasser ist wärmer als in der Nordsee im Sommer. Erst im Januar und Februar deutlich kälter.
In Milazzo stieg die Familie in einen Mietwagen um und machte einen Abstecher zur Insel Vulcano mit dem ihrer dem Namen entsprechenden vulkanischen Aktivität. Sie gehört zur Gruppe der Liparischen Inseln. „Ich wollte unbedingt auf einen Vulkan rauf und in den Krater gucken“, berichtet Jörn-Peter Boll. „Das war krass, man blickt in einen Riesenschornstein und Schwefelwolken steigen auf.“
Wer keine richtige Kreditkarte hat, wird beim Autoleihen geschröpft
Ein dringender Reisetipp von ihm: Gerade, wer ein Auto leihen will, sollte bereits zu Hause checken, ob man eine „echte“ Kreditkarte hat und nicht nur eine Debitkarte, die oft für Kreditkarten gehalten werden. Jörn-Peter Boll hatte keine, wie sich herausstellte. „Wir sind deswegen beim Preis ziemlich geschröpft worden“, sagt er.
Nach einem Monat Traumurlaub ging es dann am 30. November zurück. In Süddeutschland brauten sich da bereits dunkle Wolken zusammen, die dann am 1. und 2. Dezember ihre Last in Form von reichlich Schnee abließen. Infolge des Wintereinbruchs kam es insbesondere im Großraum München zu einem Zusammenbruch des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs.
Bei der Abfahrt in Italien braute sich der Winter nördlich der Alpen schon zusammen
Von dem Unwetter, das sich weiter nördlich hinter den Alpen zusammenbraute, ahnte Familie Boll noch nichts, als sie die Fähre nach Livorno bestieg. Die Fahrt mit einer Übernachtung an Bord dauerte 18 Stunden. „Von Livorno nach Verona war es mit der Zugfahrt noch normal. Aber von da an ging es bergab“, erzählt Jörn-Peter Boll. Bei der Abfahrt tuschelten andere Passagiere bereits von einem Schneechaos in München.
Die Schaffner in dem ÖBB-Zug bestätigten, dass es dort Probleme gebe. Sie wüssten mehr, wenn man über den Brenner sei, hieß es. „Die Österreicher haben dabei immer so süffisant gelächelt, das Wort ,Schneechaos‘ hätten sie eher aus Ironie benutzt“, glaubt Jörn-Peter Boll. Denn obwohl sich die Landschaft Richtung Innsbruck immer mehr zum Winterwonderland verwandelte – der ÖBB hatte keine Probleme. „In Österreich gab es zunächst auch Störungen, aber da wird sich einmal kurz geschüttelt, dann läuft alles wieder. Die geben auch das Dreifache pro Kopf für ihre Bahn aus“, sagt Jörn-Peter Boll.
Mit Sommerkleidung am Bahnhof, andere liefen in Skianzügen vorbei
In Innsbruck war trotzdem Schluss. Der Münchner Hauptbahnhof war nicht mehr anzufahren. „In Innsbruck lag fast so viel Schnee wie in München, 30 Zentimeter nämlich, in München waren es 40 Zentimeter. Wir standen am Bahnhof in Sommerklamotten, andere liefen in kompletter Skiausrüstung vorbei. Aber es gab ein Warmabteil auf dem Bahnhof, es war alles so unfassbar voll“, berichtet Jörn-Peter Boll. Der ÖBB öffnete dann zehn Schalter für Informationen.
Es erwies sich, dass der lange Arm der DB, für Verwirrung zu sorgen, bis hierhin reichte. „Es kamen immer wieder Durchsagen: ,Versucht es nicht, man kommt nicht durch nach Bayern‘“, erzählt Jörn-Peter Boll. Einige hatten das Wagnis auf sich genommen, es mit Regionalbahnen zu versuchen. Jörn-Peter Boll rief dann selbst bei der DB-Hotline an: „Ich habe ewig in der Warteschleife gehangen. Dann wurde mir gesagt, man könne noch auf Nebenstrecken nach Bayern fahren. Kurz vorher hatten die Österreicher gesagt, dass es eben nicht mehr gehe.“
Mit dem Schienenersatzverkehr ging es über die Autobahn nach München
Nach einer Übernachtung im Hotel, ging es am nächsten Tag, am 2. Dezember, auf der geräumten Autobahn mit einem Schienenersatzverkehr in Reisebussen nach München, organisiert von der ÖBB. „Am Bahnhof in Innsbruck ging da alles fast wieder. In München sind wir dann im vollendeten Chaos angekommen“, sagt Jörn-Peter Boll.
„Der Bahnhof ist eine Riesenbaustelle. Der ganze warme Bereich ist schon mal dicht. Es war saukalt und voller Menschen“, schildert er die Situation. Und es wurde immer schlimmer. Der Bus traf ein paar Minuten zu spät für die Abfahrtszeit des anvisierten Zuges nach Hamburg ein. Der stand aber noch auf dem Gleis, machte aber die Zugtüren nicht mehr auf.
Jörn-Peter Boll macht das Vorgehen der Bahn fassungslos
Der Zug sei schon abgefertigt, brachte Jörn-Peter Boll in Erfahrung. Er stand dann noch gut eine Viertelstunde auf dem Gleis. Durch die Fenster konnte Jörn-Peter Boll sehen, dass er noch viele Plätze freihatte. „Es kamen immer mehr Leute hinzu, aber er hat aber einfach nicht mehr aufgemacht“, ist Jörn-Peter Boll immer noch fassungslos. Schließlich fuhr der Zug los.
Dann kam eine Durchsage – zu diesem Zeitpunkt war sie noch zu verstehen, aber auch das sollte sich ändern. An Gleis 23 wird ein Zug nach Hamburg bereitgestellt. Es ist das letzte Gleis im Sackbahnhof. Also ging es für alle im Eilschritt dorthin. „Wir hatten Rucksäcke auf, dazu jeder zwei Taschen in den Händen, dazu der bepackte Kinderwagen und die Geschenke für die Verwandten, die in Italien gekauft wurden“, sagt Jörn-Peter Boll.
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Was denn nun? Durchsagen im Widerspruch zur Zuganzeige
Als sie ankamen, fuhr der Zug gerade erst ein. Und schon wieder gab es Verwirrung „Die Durchsage kündigte an, dass der Zug genutzt werden könne. Das Schild am Zug aber besagte: ,Bitte nicht einsteigen.‘ Wir haben uns dann aber trotzdem schon hineingesetzt. Irgendwann kam eine neue Durchsage, es gebe da leider noch ein technisches Problem. Eine halbe Stunde später hieß es: ,Dieser Zug wird ausgesetzt, bitte alle aussteigen“. Grund war wohl der Zug, der niemanden mehr hineinließ, vermutet Jörn Peter Boll. Es soll liegengeblieben sein.
Also alle zurück aufs Gleis. „Dort gab es den nächsten Gag. Auf den Anzeigentafeln stand überall: Zug fällt aus. Ein Mann in DB-Uniform meinte dann, da stünden schon lange keine Infos mehr. Man solle auf die Durchsagen hören. Aber die Lautsprecher waren mittlerweile komplett kaputt, versendeten nur noch Wortfetzen“, sagt Jörn-Peter Boll. Ein anderer schlug vor, man sollte das Ziel an der Anzeige am Zug ablesen. „Dann hätten wir bei jedem einfahrenden Zug von Gleis zu Gleis hetzen müssen“, sagt Jörn-Peter Boll, „und das mit Sack und Pack.“
An den drei Informations-Schaltern standen Trauben von Menschen
Für Informationen waren im ganzen Bahnhof drei Schalter geöffnet. „An jedem Schalter standen bestimmt 200 Leute. Ich habe mich da angestellt und bestimmt 50 Minuten gewartet“, sagt Jörn-Peter Boll. Schließlich gab es ein weiteres Gerücht. Auf Gleis 20 sollte in zehn Minuten ein Zug nach Hamburg einfahren. Es stimmte, das Trio stieg wieder ein. Dann kam eine Durchsage, die sie bereits kannten. Es gebe eine technische Panne, die Abfahrt verzögere sich. Diesmal gab es ein Happy End. Der Zug rollte nach einer Dreiviertelstunde bangem Warten Richtung Heimat.
Dass er zeitweise auf Sicht mit 25 Kilometern pro Stunde fahren musste, weil ein Signal nicht funktionierte – Schwamm drüber. Auch, dass man eine Stunde in Göttingen stand, weil elektronische Fahrplandokumente gefehlt haben sollen. „Wir sind um 11 Uhr angekommen, standen bis um 16 Uhr auf dem Münchner Bahnhof“, sagt Jörn-Peter Boll. „Nachts um 1.30 Uhr fuhr die Bahn schließlich in Hamburg ein, 4,5 Stunden zu spät.“ Die Familie nahm ein Taxi für die Heimfahrt.
Jörn-Peter Boll will aus Klima- und Umweltgründen trotzdem das Bahnreisen nicht lassen: „Wenn es funktioniert, ist es großartig“, sagt er. „Es ist nur schade, dass die DB so runtergewirtschaftet ist.“