Hamburg. Über den Höhepunkt der Hippie-Bewegung von einem, der leider viel zu spät geboren wurde und doch dabei war. In Woodstock 1969.
Zwei Hände mit abgeklebten Knöcheln fliegen über Conga-Trommeln. Klatschen. Ein Schlagzeug setzt ein. Ein Mann hämmert im Rhythmus Bierdosen gegen eine Bretterwand. Ein Bass brummt und eine Orgel jault. Und dann beginnt eine Schlange, Feuer zu speien. In bunten, schillernden Farben und mit sprühenden Funken faucht und zischt sie Carlos Santana an. Nur mühsam kann der 22 Jahre junge Mexikaner sie bändigen, sein Gesicht ist verzerrt von einer Mischung aus Hingabe, Angst, Konzentration und völliger Loslösung von irdischen Zuständen. Er windet sich im Kampf mit Quetzalcoatl, der leuchtenden Schwanzfederschlange, der alten aztekischen Gottheit – die eigentlich nur eine Gibson-Gitarre ist. Aber wer wie Carlos Santana und seine Band kurz vor einem Konzert im Glauben, erst viel später auf die Bühne zu müssen, Drogen von Kiffer-Rockkönig Jerry Garcia (The Grateful Dead) ausprobiert, der kann was erleben. Damals in Woodstock.
Mit 13 sah ich das erste Mal die Filmaufnahmen von Santana, die zugedröhnt bis zur Hutkrempe vor einer unfassbar gigantischen Zuschauermenge „Soul Sacrifice“ spielten. Sat.1 zeigte 1989 zum 20. Jahrestag des legendären Festivals Michael Wadleighs stilbildenden Dokumentarfilm von 1970, der die Ikonographie von Woodstock bis heute bestimmt. Ich hatte keine Ahnung, was Woodstock war. Ich hatte keine Idee, was Mescalin war (neben LSD und Marihuana die beliebteste Droge in Woodstock), und ich wusste auch nicht, wer oder was Santana war. Später erfuhr ich, dass ich bei meiner Geburt 1976 eigentlich Carlos heißen sollte, aber meine Mutter hatte sich durchgesetzt.
Jimi Hendrix klang wie eine Mischung aus Autounfall und Bombenangriff
Nun saß ich einige Tage nach der Sat.1-Sendung mit meinem Vater vor dem Fernseher und schaute ein VHS-Video von „Woodstock“, völlig gebannt von Santanas entfesseltem, virtuosem, mitreißendem Auftritt. Danach spielte noch eine Band im Dunkeln mächtigen Soul und Funkrock (Sly & The Family Stone) und ein anderer Gitarrist, der ähnlich drauf zu sein schien wie dieser Carlos Santana, machte einen Höllenlärm auf seinem Instrument. Es klang wie eine Mischung aus Autounfall und Bombenangriff. „Jimi Hendrix“, seufzte mein Vater, „ach, da wäre ich gern dabei gewesen.“ Damals in Woodstock.
Das Festival „Woodstock Music & Art Fair presents an Aquarius Exhibition – 3 Days of Peace & Music“, das vom 15. bis 18. August 1969 auf einer Wiese bei Bethel, New York, über die wackelige Bühne ging, war offensichtlich ein Sehnsuchtsort der heute sogenannten 68er-Generation. Und je mehr ich über Woodstock herausfand, desto weniger verstand ich zuerst, warum. Okay, Santana war super. Und dieser Zottel, der zitternd und brüllend „With A Little Help From My Friends“ von den Beatles sang (Joe Cocker), war auch sehr lustig. Aber noch verstörender als den Sänger in Sandalen und durchgeschwitztem Kaftan (Richie Havens) und die vielen nackten Menschen fand ich die Aussagen der Polizisten und anderen Festivalbegleiter, die von Hunger, Regen, Chaos, umgerissenen Zäunen, Drogen (was ist „schlechtes Acid“?) und 40 Kilometer Stau auf den Anfahrtswegen erzählten.
Pete Townshend von The Who hat Woodstock gehasst
Also: Da wateten 400.000 Menschen durch den Schlamm, hatten nichts zu Essen abgesehen von Sandwiches, die die örtlichen Omas schmierten oder von der Army eingeflogen wurden. Sie hatten so gut wie keine Toiletten, was aber nicht so schlimm war, weil es ja nichts zu Essen gab. Und auf The Who mussten sie bis 5 Uhr morgens warten. Um es mit Who-Gitarrist Pete Townshend zu sagen: „Wir waren von absolutem Chaos umgeben. Alles schien auseinanderzufallen. Überall um uns herum nur Verrückte“, erzählte er vor zehn Jahren der „Frankfurter Rundschau“. Was war also so großartig an Woodstock? Eigentlich klang es nach einem riesigen Desaster für alle Beteiligten. „Ich habe jede Minute von Woodstock gehasst“, sagte Townshend, aber er war offenbar der Einzige.
Das Feld war bestellt für eine Katastrophe. Alles, was schief hätte gehen können bei der Organisation, ging schief. Das fing schon mit dem Etikettenschwindel des unkommerziellen, alternativen Hippiefestes an. Tatsächlich wollten die Veranstalter, die New Yorker Musikmanager Artie Kornfeld und Michael Lang und die Investoren Joel Rosenman und John P. Roberts kein „Love & Peace“-Zeichen gegen den Vietnamkrieg setzen, sondern an den gutgläubigen Hippies einen schönen Taler verdienen. Aber schon im Vorfeld drohte das Investment zu scheitern, als die geplanten Auftrittsort Saugerties bei Woodstock und im Anschluss auch Wallkill besorgt-bürgerlich die Daumen senkten.
Erst vier Wochen vor dem Festivalauftakt wurde man mit der Weide des Farmers Max Yasgur in Bethel fündig – 100 Kilometer von Woodstock entfernt irgendwo im Nirgendwo. Für den Aufbau von Bühne, Versorgungs- und Telefonleitungen und Zufahrtswegen, der Bekanntgabe der Verlegung und die Nachverhandlung mit den gebuchten Bands blieben drei Wochen. Als die ersten 150.000 Menschen ihre Zelte aufgebaut hatten, standen noch nicht einmal die Tickethäuschen. Alles drängte nach Bethel, die fünf Zufahrtsstraßen verstopften, es gab kein Durchkommen mehr für Versorger, Fans und Bands.
So wurde drei Tage improvisiert, wo es nur ging. Musiker wurden mit Hubschraubern eingeflogen, Richie Havens, der es rechtzeitig bis zur Bühne geschafft hatte, eröffnete spontan den ersten Festivalabend am Freitag um 17.07 Uhr und wurde nach 45 Minuten und dem Song „Motherless Child“ zum Star. Sitar-Virtuose Ravi Shankar spielte im einsetzenden Regen, Folk-Sängerin Melanie im Licht von verteilten Kerzen, Arlo Guthrie völlig high und Joan Baez im sechsten Monat schwanger. Harmonie bestimmte das Bild auf und vor der Bühne, während backstage bis aufs Messer um Gagen, Auftrittszeiten, Technikprobleme und Aufzeichnungsrechte gestritten und gefeilscht wurde. Und immer mehr Menschen strömten aus allen Richtungen auf das Gelände: „Von jetzt an ist das Konzert eintrittsfrei!“, verkündete Ansager Chip Monck das Offensichtliche, die nur lückenhaft vorhandenen Absperrungen waren eh Makulatur.
Der friedliche Festivalverlauf grenzte an ein Wunder
Von Sonnabend Mittag bis in den frühen Montag spielten weitere 24 Bands, darunter Stars wie Janis Joplin, Creedence Clearwater Revival, Grateful Dead, The Who, Sly & The Family Stone, Jefferson Airplane und Crosby, Stills, Nash & Young, aber auch Newcomer, die aus dem Stand zu Legenden wurden wie Santana, Ten Years After und Joe Cocker. Und obwohl beim Finale mit Jimi Hendrix am Montagmorgen nur noch 30.000 Besucher geblieben waren, schuf seine Dekonstruktion von „The Star-Spangled Banner“ den akustischen Moment, der Woodstock am besten beschreibt: friedlicher Protest unter chaotischen Umständen.
Oder auch: das Wunder von Woodstock. Man teilte das Wenige, was man hatte, und seien es Drogen. Man feierte gemeinsam vorher ungeahnte Töne, die Grenzen zwischen Stilen, Kulturen und Hautfarben aufhoben. Die Hippiebewegung, noch unberührt durch die Morde der Manson Family in der Vorwoche, hatte ihren Höhe- und Endpunkt erreicht. Woodstock zeigte, was möglich ist, wenn 400.000 Menschen unter widrigen Umständen zusammenkommen und zusammenstehen. Was hätte alles passieren können! Es passierte: nichts. Berichten nach gab es zwei Tote während des Festivals (eine Überdosis und ein Blinddarmdurchbruch) und ein weiteres Unfallopfer bei den Aufräumarbeiten. Die Gitarre, die Pete Townshend einem auf die Bühne gestürmten Aktivisten über den Kopf zog, war aber der einzige Gewaltausbruch.
Viele kopierten Woodstock, Altamont scheiterte tragisch
Woodstock wurde so zum Synonym des Popfestivals an sich. Schon vor diesem August 1969 gab es ähnliche, kaum weniger sagenumwobene, einflussreiche und tumultöse Großveranstaltungen wie das Newport Folk Festival (1959 bis heute), das Monterey Pop Festival (1967), das Isle Of Wight Festival (seit 1968) oder die von Woodstock-Veranstalter Michael Lang organisierten Miami Pop Festivals (1968). Woodstock aber überstrahlt sie bis heute alle, auch weil die Veranstalter den Mythos im Anschluss geschickt vermarkteten, um die horrenden Verluste wieder einzuspielen. Inspiriert von Woodstock schossen weltweit Open Air Festivals in Reading, Glastonbury oder in Roskilde aus dem Boden und bestehen bis heute.
Oft genug aber wurde die Idee, Woodstock zu kopieren, zum Desaster, beispielhaft auf dem Altamont Speedway in Kalifornien am 6. Dezember 1969. Während Santana, Jefferson Airplane, The Flying Burrito Brothers, Crosby, Stills, Nash & Young und die Rolling Stones kostenlos für 300.000 Menschen spielten, kamen bei Unfällen und Auseinandersetzungen zwischen alkoholisierten, als Ordner eingesetzten Hells Angels und Fans vier Menschen ums Leben. So wurde das Altamont Free Concert zur Antithese von Woodstock und zum Totengräber der Hippiebewegung. Aber auch das Jubiläumsrevival „Woodstock ‘99“ versank in Chaos, Gewalt und sexuellen Übergriffen. Die diesjährige Neuauflage wurde nach diversen Künstlerabsagen und Organisationschaos kurzfristig gestrichen.
Bis heute ist der Geist von Woodstock zu spüren – ein bisschen
Und doch wirken die „3 Days of Peace & Music“ bis heute nach, was ich aber erst 30 Jahre nach Woodstockbei den ersten eigenen Besuchen in Wacken oder in Scheeßel begriffen habe. Obwohl Festivals heutzutage straff organisierte und durchgeplante „Events“ sind, zugebaut mit Sponsoren-Erlebnislandschaften, Discounter-Filialen und Modeketten-Outlets und ganzen Fressmeilen für jeden erdenklichen Geschmack, so ist doch der Geist von Woodstock immer noch zu spüren. Zehntausende werfen den Alltag, gesellschaftliche Normen und Zwänge ab, werfen sich in den Schlamm und geben sich der Musik hin. So wie mein Vater im September 1970 beim letzten Konzert von Jimi Hendrix auf dem chaotischen „Love-and-Peace-Festival“. Da wäre ich gern dabei gewesen. Damals auf Fehmarn.