Lüneburg/Berlin. Mit ihrer Forschung ermöglicht Anneke de Rudder die Rückgabe von NS-Raubgut an die Verfolgten. Wie sie dem Unrecht auf die Spur kommt.
- Die Nationalsozialisten raubten den von ihnen verfolgten Menschen unzählige Wertgegenstände wie Bücher, Kunstwerke oder auch Möbel
- Dieser Raub wurde 1945 mit der „London Charter of the International Military Tribunal“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft
- Menschen wie de Rudder arbeiten noch heute daran, den Opfern und ihren Familien die gestohlenen Objekte zurückgeben zu können
Es sind oft Dinge, die Anneke de Rudder bei ihren Forschungen zuerst in den Blick nimmt. Bücher, Möbel, Kunstwerke, die jüdischen Familien gehört haben und – nach Enteignung, Zwangsverkauf oder Raub – Jahrzehnte später in Bibliotheken oder auf Dachböden wiederentdeckt werden. „Ohne all diese Dinge wäre vieles nicht herausgekommen“, sagt die Historikerin aus Bad Bevensen, die nun einen wichtigen Preis erhält. „Sie tragen wahnsinnig viele Geschichten in sich.“
Diese Geschichten interessieren Anneke de Rudder, die in Lüneburg und Hamburg forscht, seit vielen Jahren. Sie ermöglicht mit ihren Recherchen die Rückgabe von NS-Raubgut und hält persönlichen Kontakt zu Holocaust-Überlebenden und Nachfahren von Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft.
Gegen das Vergessen: Historikerin aus Lüneburg macht jüdisches Leben sichtbar
Ihr jüngstes Projekt ist eine digitale Datenbank, die das jüdische Leben in Lüneburg anhand persönlicher Lebensverläufe veranschaulicht. Dafür hat sie erforscht, wie jüdische Familien seit dem 17. Jahrhundert in der Stadt gelebt, welche Rolle sie in der Stadtgesellschaft eingenommen, welche Schulen ihre Kinder besucht und in welchen Läden sie eingekauft haben. Und sie hat viel darüber herausgefunden, wie Juden sich um Anerkennung bemüht haben und doch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
Für ihren Einsatz gegen das Vergessen und für die Verständigung wurde die Wissenschaftlerin, die an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg tätig ist, nun in Berlin mit dem Obermayer Award ausgezeichnet - im Rahmen einer offiziellen Veranstaltung anlässlich des Holocaust-Gedenktags in Berlin.
Opfer oder religiöse Juden: Anneke de Rudder will Blick auf jüdisches Leben weiten
Mit dem Preis werden deutsche Einzelpersonen und Gruppen ausgezeichnet, die aufgezeigt haben, welch wichtige Rolle die jüdische Bevölkerung vor der Zeit des Nationalsozialismus über Hunderte von Jahren für die deutsche Gesellschaft spielte. Auch das Engagement gegen Vorurteile und Antisemitismus ist ein Auswahlkriterium.
In Deutschland würden Juden zumeist im Zusammenhang mit zwei Stereotypen gesehen, sagt die Preisträgerin. „Sie werden entweder als Opfer oder als religiöse Juden wahrgenommen.“ Dem will sie eine vielfältigere Sichtweise entgegensetzen.
„Gespräche mit Nachfahren bieten immer auch die Chance, die Hand auszustrecken“
„Die konkrete Erinnerung anhand von Dingen, Orten und Menschen halte ich für äußerst wichtig“, sagt Anneke de Rudder. Deshalb hat sie auch vor einigen Jahren ein großes Treffen in Lüneburg organisiert, zu dem etwa 60 Nachfahren der Familie Marcus Heinemanns kamen, einem prominenten Lüneburger Bürger.
Für ihre Nachforschungen führt sie viele Gespräche mit Urenkeln und Enkeln von Menschen, deren Geschichte sie auf der Spur ist. Dabei geht es ihr nicht nur um die Details, an die sich ihre Gesprächspartner erinnern. „Es ist auch immer die Chance, jemandem die Hand auszustrecken.“
Diese Erfahrung hat Anneke de Rudder schon früh gemacht. Gleich ihr erster Job führte sie Mitte der 1990er Jahre in die Gedenkstätte Sachsenhausen, wo sie für die Ausstellung Hintergründe zu den jüdischen Häftlingen recherchierte. Dafür führte sie unter anderem ein Interview mit dem jüdischen Filmemacher Gyula Trebitsch, das sie tief beeindruckte. „Es war super interessant, er war ein unheimlich warmherziger Typ.“
Als junge Historikerin führte sie in Israel Interviews mit Überlebenden
So wollte die junge Historikerin weiterarbeiten, im direkten Kontakt mit Menschen, die von ihren Erinnerungen erzählen. In Israel interviewte sie Menschen, die als Kinder im Konzentrationslager Sachsenhausen waren. Es war eine prägende Erfahrung für Anneke de Rudder.
Bis heute hat sie gute Kontakte nach Israel. Viele dieser Menschen hätten sich lange für die Verständigung mit den Palästinensern eingesetzt, sagt die Historikerin. „Jetzt herrscht eine große Verunsicherung und ein Gefühl von mangelnder Sicherheit. Die Situation ist in jeder Hinsicht furchtbar, es hat einen Abbruch in der Verständigung gegeben. Doch das heißt nicht, dass das für immer sein muss. Es kann immer wieder eine Annäherung geben. “
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Manchmal zweifle sie, ob angesichts der Relativierung von Fakten ihre wissenschaftliche Arbeit noch helfen kann. Doch sie hat die Hoffnung, mit ihren Ergebnissen zumindest junge Leute ohne festgelegte Meinung zu erreichen. Aus diesem Grund kann sie sich auch vorstellen, dass ihre Lüneburger Website für Rechercheprojekte an Schulen genutzt wird. „Mir geht es darum, Transparenz zu schaffen und Lücken aufzufüllen, sowohl für jüdische Familien als auch in unserer Geschichte.“
„Es ist erschütternd, dass Antisemitismus und Rassismus wieder erstarken“
Dafür erhielt sie am 29. Januar im Roten Rathaus von Berlin den Obermayer Award, der mit einem Preisgeld von 1000 Euro verbunden ist. Zur Begründung sagte Joel Obermayer, Geschäftsführer von Widen the Circle: „In einer Zeit, in der überall in der Welt eine alarmierende Zunahme von Antisemitismus und anderen Formen von Vorurteilen und Hass zu verzeichnen ist, sind die diesjährigen Preisträger*innen weltweite Vorbilder und Inspiration für alle, die sich für die Überwindung von Rassismus, Diskriminierung und Intoleranz einsetzen.“
Lüneburgs Oberbürgermeisterin gratulierte Anneke de Rudder zu der Auszeichnung. „Es ist erschütternd, dass Antisemitismus und Rassismus wieder erstarken, ausgerechnet auch hier bei uns in Deutschland“, sagte Claudia Kalisch. Jüdisches Leben und jüdische Kultur seien selbstverständlich wertvolle Teile unserer Gesellschaft. „Wir sind stolz, dass auch dank der engagierten Forschungsarbeit von Frau de Rudder die Website Jüdisches Leben in Lüneburg als einzigartiges Projekt und digitales Gedächtnis von Lüneburg aus weltweit abrufbar ist.“