Lüneburg. Menschen, Geschichten und Orte: Neue Website gibt detaillierte Einblicke in das jüdische Leben in der Stadt über drei Jahrhunderte.
- Neue digitale Datenbank gibt Einblick in das Leben jüdischer Familien in Lüneburg
- Sie umfasst etwa 450 Namen und 200 Orte in der Stadt aus drei Jahrhunderten
- Historikerin zeigt viele Verbindungen, auch nach Harburg und Hamburg, auf
Ruth Lustig wurde 1927 in Lüneburg als Ruth Marx geboren, ihr Vater und Großvater betrieben in der Stadt eine gutgehende Zahnarztpraxis. Die Töchter hatten eine unbeschwerte Kindheit, mit häufigen Besuchen im Kurpark, fröhlichen Kindergeburtstagen und Kostümfeiern. Erst bei ihrer Einschulung 1933 wurde Ruth klar, dass sie als „anders“ galt. Die Jüdin überlebte den Holocaust. 1936 emigrierte ihre Familie nach Palästina und ließ sich in Haifa nieder.
Ruth Lustig ist einer von bisher etwa 450 Namen, der auf einer neuen Website mit dem dahinterstehenden Leben verknüpft wird. Wie lebten jüdische Familien in Lüneburg? Wer ging in der Synagoge ein und aus? In welchen Schulen lernten ihre Kinder? Und wer waren die Männer und Frauen, die den Nationalsozialisten zum Opfer fielen? Die Website soll Antworten auf diese und ähnliche Fragen geben. Sie stellt Menschen, Orte und Geschichten zum jüdischen Leben in Lüneburg vor.
Jüdisches Leben in Lüneburg: Website bringt persönliche Geschichten zutage
Das digitale Erinnerungsprojekt ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Die Historikerin Anneke de Rudder hatte bereits in früheren Projekten viele Details über jüdische Familien in Lüneburg herausgefunden, die sie nun weiter vertiefte. Durch ihre vielfältigen Kontakte zu den Nachfahren in verschiedenen Ländern konnte sie die Lebensgeschichten sehr anschaulich zusammentragen und zahlreiche Verbindungen zwischen den Familien aufdecken.
„Es ist wichtig, dass die Namen genannt werden, um an diese Menschen zu erinnern“, sagt Anneke de Rudder. Denn heute gibt es keine jüdische Gemeinde mehr in Lüneburg, es sind nur noch Spuren von diesem Teil der Geschichte zu finden. Auf diese Spuren hat sich die Historikerin begeben. Sie hat sich in das Melderegister vertieft und in die Fotosammlungen des Stadtarchivs und des Museums Lüneburg. Und sie hat mit zahlreichen jüdischen Familien gesprochen.
Karte zeigt 200 Orte in der Stadt, an denen Juden lebten oder arbeiteten
Herausgekommen sind bewegende Lebensgeschichten, die nun jeder Laie und Forschende im Internet nachlesen kann. „Die schönsten Biografien sind die, bei denen ich mit den Nachfahren der Menschen geredet habe“, sagt Anneke de Rudder.
Zusätzlich werden rund 200 Orte in der Stadt vorgestellt, an denen jüdischen Familien gelebt oder gearbeitet haben. Oft waren dies Eckhäuser, sagt sie. „Ich habe vorher nicht geahnt, dass so viele Orte in der Stadt eine jüdische Geschichte haben. Viele Familien haben ihre Häuser an Verwandte oder Vertraute weitergegeben. Dies könnte ein Hinweis sein, dass es schon in früheren Jahrhunderten schwierig für sie war, als Mieter akzeptiert zu werden.“
Erst persönliche Kontakte der Historikerin ermöglichte das Detailreichtum
„So eine umfangreiche Darstellung ist nur durch persönliche Kontakte möglich“, betont Prof. Dr. Heike Düselder, Leiterin des Museums Lüneburg. „Auf diese Weise hat Anneke de Rudder viele Geschichten eingebracht, die in den Akten nicht zu finden sind. Das ist sehr wertvolles Material.“ Dieses Material soll nun in dem in Niedersachsen einmaligen Digitalprojekt gut verständlich vermittelt werden.
Auf der Website sind kürzere und längere Porträts zu lesen, es werden Verwandtschaftsbeziehungen aufgezeigt und private Erinnerungen wiedergegeben. Auf einer interaktiven Karte sind Wohnorte, Orte der Gemeinde und Arbeitsstätten eingetragen und mit weiteren Informationen verbunden. So stellte sich heraus, dass viele Lüneburger Juden enge Kontakte nach Harburg und Hamburg pflegten, nicht wenige lebten selbst eine Zeit lang dort.
Erinnerungsprojekt umfasst auch jüdische Geschichte vor und nach dem Holocaust
Zahlreiche historische Fotos geben einen Einblick in das jüdische Leben in der Hansestadt vom 17. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre. Auch wenn die Vernichtung jüdischen Lebens in der Stadt durch das NS-Regime wichtigen Raum einnimmt, soll das Projekt ganz bewusst auch die jüdische Geschichte vor und nach dem Holocaust umfassen.
So wird die Großfamilie Ahrons/Behrens vorgestellt, die fast zweihundert Jahre lang die jüdische Geschichte in Lüneburg bestimmte. Besucher der Seite können sich auch auf die Spuren der jüdischen Einwanderer aus Osteuropa begeben, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Armut und Pogromen flohen und sich in Lüneburg eine neue Existenz aufzubauen versuchten. Und Lüneburger Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung werden hier durch ihre persönlichen Geschichten wieder in Erinnerung gerufen.
Internetseite soll die Gedenkstätte am Standort der früheren Synagoge ergänzen
Die Idee für die Seite entstand im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Synagogengedenkstätte in Lüneburg 2018. Dort erinnern heute große Kupfertafeln an die Namen örtlicher jüdischer Familien und der Lüneburger Opfer des Holocaust. „Das ging uns noch nicht weit genug“, sagt die Museumschefin. „So ist die Idee entstanden, einen digitalen Ort zu schaffen, auf dem alle jüdischen Menschen, die in Lüneburg gelebt haben, einen Platz finden – und zwar über die NS-Zeit hinaus.“
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Die Website dient nun als viel weiter gefasste Ergänzung und lebendige Fortführung des gebauten Erinnerns. Sie enthält zudem Verknüpfungen zu anderen Foren digitaler Erinnerung. Für das dahinter stehende Team ist die Seite noch nicht abgeschlossen. In Zusammenarbeit mit den Nutzern und Nutzerinnen sollen die Informationen weiter ergänzt und vertieft werden. „Es ist ein atmendes Projekt“, betont Düselder. „Das ist ein großer Vorteil des Digitalen.“
Jüdisches Leben in Lüneburg: Spenden finanzieren digitales Erinnerungsprojekt
Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Lüneburg, dem Museum Lüneburg und der Geschichtswerkstatt Lüneburg. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hatte Spenden und Fördermittel in Höhe von rund 20.000 Euro gesammelt. Rund die Hälfte des Geldes stammt von privaten Spendern. Unter dem Dach des Museums soll die Seite nun einen dauerhaften Platz in der digitalen Erinnerungskultur erhalten.
Während Historikerin Anneke des Rudder die umfangreichen Informationen aufwendig zusammengetragen hat, hat der Informatiker Ralf Friedrich die Menge der Details in eine übersichtliche Datenbank gebracht. Die Website www.jüdisches-leben-in-lueneburg.de steht vollständig sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch zur Verfügung, sodass Nachfahren jüdischer Familien und Forschende auf der ganzen Welt die Ergebnisse des Projekts lesen und nutzen können.
1995 besuchte Ruth Lustig noch einmal Lüneburg. Für ein Buch schrieb sie ihre Erinnerungen auf: „Sie fragen mich, was mir einfällt, wenn ich an Lüneburg denke. Die Antwort wird Sie sicher wundern oder vielleicht können Sie sie nicht verstehen: Eine alte, wunderschöne Stadt, in der ich eine herrliche Kindheit hatte. Und gerade deswegen habe ich eine große Wut in mir, daß all das geschehen konnte.“