Winsen. Ritzen, Pulen, Essen verweigern: Eine Frau aus Winsen erzählt, wie ihre Kinder zurück ins Leben fanden – und was ihr selbst guttat.

„Ein bisschen deprimiert“: So fühlen sich bei trübem Wetter viele. Und meinen damit, dass sie – antriebslos, freudlos, müde – einfach schlecht drauf sind. Doch mit helleren Tagen bessert sich die Stimmung meist. Nicht so bei depressiv Erkrankten.

Eine echte Depression ist eine ernste, behandlungsbedürftige Krankheit. Mehr als jeder zehnte Deutsche macht im Laufe seines Lebens eine depressive Phase durch. Auch Kinder sind darunter. Für die Eltern eine echte Herausforderung. Tipps für den Umgang mit erkrankten Kindern gibt der Psychologe Michael Thiel in diesem Abendblatt-Interview.

Eine, die diese Situation aus eigener Erfahrung kennt, ist Susanne K.* aus Winsen im Landkreis Harburg. Ihre beiden Töchter rutschten während der Pubertät in ein tiefes seelisches Loch. Im Gespräch mit dem Abendblatt erzählt die 54-jährige Mutter, wie sie die Veränderung ihrer Kinder erlebte, was sie dagegen getan hat und wie gezielte Hilfe die Mädchen zurück ins Leben brachte.

Depression bei Kindern: Es begann mit Rückzug und Essensverweigerung

Als „perfektionistisch und ehrgeizig“ und gleichzeitig als „sehr sensibel“, so beschreibt Susanne K. ihre erstgeborene, inzwischen 21-jährige Tochter. Während ihrer Schulzeit an der IGS Roydorf habe sich das Mädchen zunehmend verändert, sei immer verschlossener geworden. Die Teenager-Tochter aß und sprach nur noch wenig, zog oft die Tür zu ihrem Zimmer zu und vermied es, wann immer sie konnte, mit ihren Klassenkameraden zusammenzutreffen.

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Nach Schulschluss ging sie lieber eine halbe Stunde durch den Regen zu Fuß, als in den Bus zu steigen, berichtet die Mutter weiter. Ständig rieb das Mädchen an ihrer Haut, vor allem im Gesicht und an den Armen, bis diese wund wurde und sich löste. „Sie hat sich buchstäblich abgepellt“, so Susanne K. Die besorgte Frau drang in ihre Tochter, fragte und fragte, bis sie erfuhr: Das Mädchen wurde in der Schule gemobbt. Spitze Bemerkungen über ihr „Strebertum“, Gesprächsrunden, die sich auflösten, sobald sie näherkam, Getuschel hinter ihrem Rücken und schließlich schon fast rohe Gewalt machten ihr das Leben zur Hölle. Mehrfach habe man ihr den Zutritt zum Bus versperrt.

Durch langen Atem fand die Mutter heraus, dass ihre Tochter in der Schule gemobbt wurde. (Symbolfoto)
Durch langen Atem fand die Mutter heraus, dass ihre Tochter in der Schule gemobbt wurde. (Symbolfoto) © pololia - stock.adobe.com | stock.adobe.com

„Mein Kind tut so was nicht“: Andere Eltern reagieren mit Ablehnung

Susanne K. sprach mit den Eltern der Mitschüler, die mit brüsker Ablehnung reagierten – „mein Kind tut so was nicht“, – mit den Lehrern ihrer Tochter, die sie als „überfordert“ erlebte, und wurde schließlich an die Sozialarbeiterin verwiesen, die an der Schule Dienst tut. Die Gespräche mit der Fachfrau hätten dem drangsalierten Mädchen gutgetan. Weniger gut war, dass diese während der Schulstunden stattfanden, „was jedes Mal für Aufsehen und neues Getuschel sorgte“, so die Mutter.

Schließlich habe man ihr mitgeteilt, dass ihrem Kind so nicht zu helfen sei, dass ihre Tochter eine psychologische Behandlung benötige, und ihr dann eine Liste mit den Kontaktdaten von Praxen in die Hand gedrückt.

Ein Therapieplatz war schwer zu bekommen – doch er änderte alles

Susanne K. telefonierte die Liste ab. Mit erschütterndem Ergebnis: Trotz der Notsituation hatte keine der Praxen einen freien Termin. Wartezeiten zwischen neun Monaten und einem ganzen Jahr wurden Susanne K. genannt. Mit viel Ausdauer und noch mehr Glück fand die Winsenerin im 23 Kilometer entfernten Südergellersen eine Psychologin, die ihre Tochter kurzfristig aufnahm in den Patientenkreis.

Sie können sich nicht vorstellen, was sich auf Whatsapp und TikTok abspielt.
Mutter aus Winsen

Für die berufstätige Mutter bedeutete die Fahrerei – pro Strecke eine halbe Stunde, plus Wartezeit während der Therapie – eine große Belastung. Doch eine, die sie gern auf sich nahm. Denn während der Corona-Jahre hörte das Mobbing nicht auf. Im Gegenteil: „Sie können sich nicht vorstellen, was sich auf Whatsapp und TikTok abspielt“, sagt Susanne K. Vier Jahre wurde die Tochter therapiert. Inzwischen ist sie eine ausgeglichene junge Frau, die ihre Verwaltungsausbildung ein Jahr früher als vorgesehen erfolgreich abgeschlossen hat, gegenwärtig ein duales Studium absolviert und mit ihrem Partner in einer eigenen Wohnung lebt.

Die Therapie hat geholfen, die seelische Last abzubauen.
Die Therapie hat geholfen, die seelische Last abzubauen. © Nailia Schwarz - stock.adobe.com | Nailia Schwarz

Auch die zweite Tochter wurde Mobbing-Opfer

Als ihre zweite Tochter in der Pubertät ebenfalls besorgniserregende Verhaltensänderungen zeigte und den inneren Rückzug antrat, war die Mutter vorgewarnt. Auch diese Tochter berichtete von üblem Mobbing an der IGS Roydorf. Vermutlicher Auslöser: Das Mädchen leidet an einer genetisch bedingten Fettverteilungsstörung, dem Lipödem. In der Schule war sie nur die „Dicke“. Auch sie erlebte Hänseleien, Ausgrenzung und Isolation. Die vielfältigen Kränkungen kompensierte der Teenie mit überreichlichem Essen, was die Sache nicht besser machte.

Als das Mädchen begann, sich zu ritzen, also großflächig die Haut der Arme mit Messer und Rasierklinge einzuschneiden, suchte Susanne K. erneut Hilfe. Aber diesmal nicht mehr bei der Schulsozialarbeit, sondern direkt bei einer auf Kinder und Jugendliche spezialisierten Praxis in Buchholz, wo die Tochter als Notfall aufgenommen und zeitnah behandelt wurde. Inzwischen hat eine Psychologin in Winsen ihre Betreuung übernommen. Das ehemals so verzweifelte junge Mädchen hat inzwischen eine Ausbildungsstelle, wo sie sich wohlfühlt, seit vier Jahren einen Freund und kontert verbale Attacken ebenso prompt wie selbstbewusst.

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„Offen sprechen zu können, das tut schon gut und entlastet“

„Von mir fällt eine Last ab“, atmet Susanne K. auf. Erst, als ihre Töchter auf einem guten Weg waren, erfuhr sie von der Selbsthilfegruppe für Angehörige von depressiv Erkrankten, die es in Winsen gibt. „Ich habe dort erkannt, dass wir nicht die einzige Familie sind, in der so etwas passiert“, sagt sie. „Offen sprechen zu können, das tut schon gut und entlastet“, schildert sie ihre Erfahrung.

Susanne K. rät Eltern, sich bei unerklärlichem Rückzug ihrer Kinder zeitnah Hilfe zu holen. „Denn das Beispiel meiner Töchter zeigt, dass sich mit rechtzeitiger Behandlung doch noch alles zum Guten wenden lässt.“

Kontaktmöglichkeiten: Hier gibt es Hilfe bei seelischen Problemen

Erste Anlaufstelle für alle von einer Depression Betroffene und ihre Angehörigen sollte der Hausarzt sein. Folgende Beratungsstellen gibt es im Bezirk Harburg und in den Landkreisen Harburg, Lüneburg und Stade:

Landkreis Harburg

  • Sozialpsychiatrischer Dienst Winsen: Schlossplatz 6, 21423 Winsen. Tel. 04171-693517, E-Mail: SozialpsychiatrischerDienstWinsen@lkharburg.de
  • Sozialpsychiatrischer Dienst Buchholz: Lindenstraße 12, 21244 Buchholz. Tel. 04181-201980, E-Mail: SozialpsychiatrischerDienstBuchholz@lkharburg.de
  • Krisendienst für den Landkreis Harburg: Wochentags von 16 bis 22 Uhr, feiertags von 14 bis 22 Uhr, Tel. 0170-480 61 36
  • Gemeindepsychiatrisches Zentrum GPZ „Kiek In“: Schmiedestraße 3, 21423 Winsen. Tel.: 04171-8483860, E-Mail: kiek.in@hipsy.de, Website: www.hipsy.de
  • Selbsthilfegruppe für Angehörige von depressiv Erkrankten: Jeden ersten Montag eines Monats im Kiek In, Schmiedestraße 3, 21423 Winsen. Telefonische Beratung donnerstags von 16 bis 17 Uhr unter 04171-8484980

Bezirk Harburg

  • Harburger Bündnis gegen Depression e.V.: Ole Schumacher, Koordinator in der Asklepios Klinik Harburg, c/o Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Eißendorfer Pferdeweg 52, 21075 Hamburg. c/o Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie hamburg-buendnis-depression@t-online.de
  • Brücke Harburg: Treffpunkt für seelische Gesundheit, Hölertwiete 5, 21073 Hamburg-Harburg. Tel.: 040 / 519000 955, E-Mail: bruecke-harburg@kirche-hamburg-ost.de, www.brueckeharburg.de.Sprechzeiten: Mo. 15:00-17:00 Uhr, Di. und Do. 10:00-12:00 Uhr
  • Der Hafen - Verein für psychosoziale Hilfe: Fährstraße 70, 21107 Hamburg-Wilhelmsburg, Tel. 040-524-7729-220, E-Mail lotse@der-hafen-vph.de. Sprechzeiten: Di. und Do. 10:00-13:00 Uhr,. Mo.-Do. 15:00-18:00 Uhr. Fr. 13:00-17:00 Uhr
  • KISS Harburg: (Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen), Neue Strasse 27, 21073 Hamburg-Harburg. Tel.040395767, kissharburg@paritaet-hamburg.de. Beratungszeiten: Di. und Do. 10:00-13:00 Uhr, Do. 15:00-17:00 Uhr

Landkreis Lüneburg

  • Sozialpsychiatrischer Dienst: Am Graalwall 4, 21335 Lüneburg. Tel. 04131 26 - 1497, E-Mail: spdi@landkreis-lueneburg.de, www.landkreis-lueneburg.de. Sprechzeiten: Mo. - Do. 8:30 Uhr bis 12:00 Uhr und 14:00 Uhr bis 16:00 Uhr, Fr. 8:30 Uhr bis 12:00 Uhr
  • Psychiatrischer Krisendienst: Freitag 16:30 Uhr bis Montag 8:00 Uhr und an Feiertagen unter 04131- 60260

Landkreis Stade

  • Sozialpsychiatrischer Dienst des Landkreises Stade: Große Schmiedestraße 1/3, 21682 Stade. Telefon: 04141 12-5380, E-Mail: sozialpsychiatrie@landkreis-stade.de. Sprechzeiten: Mo, Di, 8.00 bis 12.00 Uhr und 14.00 bis 15.30 Uhr, Mi, Fr. 8.00 bis 12.00 Uhr, Do. 8.00 bis 15:30 Uhr und nach Vereinbarung unter Telefon 04141 12-5381 auch außerhalb dieser Zeiten.
  • KIBIS des Paritätischen, Selbsthilfekontaktstelle im Landkreis Stade, Tel. 04141 - 3856, E-Mail:kibis-stade@paritaetischer.de , www.kibis-stade.de
  • Die Brücke, Treffpunkt für seelische Gesundheit: Schiefe Straße 3,21682 Stade, Tel. 04141-2747, E-Mail: info@die-bruecke-stade.de, Öffnungszeiten: Mo-Fr. 9.30 . 17.00 Uhr, Sa. 14.00 - 17.00 Uhr

Bundesweit

  • Notrufnummer Tel. 116 111: Vermittelt Ärzte und Psychotherapeuten in der Nähe des Wohnorts
  • Online-Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche: krisenchat.de
  • Online-Portal für Jugendliche mit Suizidgedanken: u25-deutschland.de
  • Anonyme Online-Beratung für Jugendliche mit psychischen Problemen: jugendnotmail.de
  • Beratung für Betroffene und Angehörige: bravetogether@deutsche-depressionshilfe.de

* Name von der Redaktion geändert.