Landkreis Harburg. Der Diplom-Psychologe Michael Thiel erklärt im Gespräch, wie Mütter und Väter depressive Kinder erkennen und was sie tun können.
Für die Eltern sind Depressionen bei den eigenen Kindern eine echte Herausforderung. Sie überhaupt zu erkennen, ist gar nicht so einfach. Und dann folgt die Frage: Wie gehe ich mit der Krankheit um?
Ein wichtiger Punkt: Dranbleiben, immer wieder das Gespräch suchen und nachhaken. Das berichtet eine betroffene Mutter aus Winsen im Landkreis Harburg gegenüber dem Abendblatt. Beide Töchter der 54-Jährigen rutschten in eine Depression. Wie sie die Situation meisterte und welche Erkenntnis sie gern früher gehabt hätte, können Sie in diesem Artikel nachlesen.
Auch der Diplom-Psychologe, Fernsehmoderator und Coach Michael Thiel rät dazu, nie den Gesprächsfaden mit den Kindern abreißen zu lassen. Auch wenn es schwierig wird. Im Abendblatt-Gespräch erläutert der Experte, wie sich Depressionen bei Kindern zeigen können, welchen Fehler viele Eltern machen und wie sie noch auf seelische Tiefs ihres Nachwuchses reagieren sollten.
Hamburger Abendblatt: Die Zahl junger Menschen, die an einer Depression erkranken, scheint in letzter Zeit enorm zu wachsen. Was sind mögliche Ursachen?
Michael Thiel: Wissenschaftliche Studien wie die Copsy-Studie am UKE zeigen, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie deutlich verschlechtert hat. Die radikalen Schulschließungen waren bekanntlich ein Fehler. Inzwischen gehen die Zahlen der psychischen Erkrankungen leicht zurück, aber nach wie vor sind Kinder und Heranwachsende vielfältig belastet. Kriege und Wirtschaftskrise machen den Erwachsenen Sorgen und das Gefühl von Unsicherheit überträgt sich automatisch auf die Kinder. Sie spüren, dass die Welt unsicherer geworden ist. Es fehlt vielfach ein optimistisches Denken und lebensbejahendes Vorbild bei den Eltern, das Kindern vermittelt, die Welt ist für mich da wie eine Torte, von der ich mir ein großes Stück abschneiden kann.
Liegt es an den Eltern, wenn Kinder depressiv werden?
Thiel: Kinder können sich auch unter schwierigsten Bedingungen gut entwickeln. Voraussetzung dafür ist, dass sie eine sichere Bindung zu ihren Eltern aufbauen und darauf vertrauen können, dass diese ihre Signale erkennen und dann prompt und richtig reagieren. Ich erlebe in meiner Praxis jedoch vielfach, dass Eltern heute so viel mit sich selbst zu tun haben, dass sie gar nicht mehr die Antennen haben, um auf ihr Kind zu reagieren. Die Kinder werden entweder gar nicht beachtet oder mit Geld, Medien und Süßigkeiten ruhig gestellt. Dabei ist Vernachlässigung ein Nährboden, auf dem psychische Erkrankungen gedeihen. Jeder Mensch braucht mindestens eine Person, von der er sich verstanden und bedingungslos geliebt fühlt, um seelische Widerstandskraft aufbauen zu können.
Woran kann man erkennen, ob ein Kind depressiv ist?
Thiel: Das ist selbst für Fachleute manchmal schwierig. Denn Kinder zeigen ihre Gefühle eher im Spiel oder im Zeichnen, als dass sie darüber reden. Ein seelisches Tief kann auch andere Ursachen haben als eine behandlungsbedürftige Depression. Zum Beispiel Liebeskummer oder Mobbing in der Schule. Auch dann müssen Eltern aufmerksam und aktiv werden. Doch bei einer Depression ist das Stimmungstief dauerhaft. Wenn ein Kind länger als zwei Wochen traurig ist, keinen Spaß mehr an Hobbys hat, wenn kein Freund mehr anruft, das Kind sich ungeliebt und wertlos fühlt, schlecht schläft oder ständig müde und erschöpft ist, zu viel oder gar nichts mehr isst und seine Schulleistungen ohne erkennbaren Grund plötzlich nachlassen, sollte das fachlich abgeklärt werden.
In seinem Podcast „Psychologen beim Frühstück“ spricht Michael Thiel regelmäßig über viele verschiedene psychologische Themen – auch über Depressionen:
Was können Eltern dann tun?
Thiel: Das Gespräch suchen. Und den Gesprächsfaden auch nicht abreißen lassen, wenn es schwierig wird. Gerade wenn Kinder in sich gekehrt wirken und schweigen, sollten Eltern und andere Bezugspersonen besonders aufmerksam sein. Wenn ein Kind offen sagt, was es belastet, ist das ein Zeichen, dass es in Not ist. Eltern sollten das vollkommen ernst nehmen und nicht als übergroße Empfindlichkeit abtun. Sondern vorsichtig vorgehen und dem Kind signalisieren, dass sie, die Eltern, wie eine Löwenmutti oder ein Löwenpapa auf seiner Seite stehen. Der Kinderarzt ist ein guter Ansprechpartner, der eine erste Einschätzung gibt und im Bedarfsfall weitervermittelt. In Notsituationen sollte man die 116117 anrufen. Dort bekommt man schnell einen Termin für die psychologische Sprechstunde, bei der die Diagnose gesichert und eine psychotherapeutische Behandlung eingeleitet werden kann.
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Kann eine Depression vollständig geheilt werden?
Thiel: Je früher eine Depression erkannt wird und je früher die Behandlung mit Psychotherapie und vorübergehend auch mit Medikamenten einsetzt, desto besser sind die Ergebnisse. Wenn man einmal eine Depression gehabt hat, ist die Neigung gegeben, in belastenden Situationen wieder hineinzurutschen. Vielfach spielt auch erbliche Veranlagung eine Rolle. Hatte jemand in der Familie eine Depression, ist die Wahrscheinlichkeit höher, selbst zu erkranken. Dann sollte man doppelt aufpassen und auf seinen Lebensstil achten.
Ihre Tipps für einen ausgeglichenen Seelenhaushalt?
Thiel: Viel Bewegung, viel Spaß bei Sport und Freizeit, viele Kontakte. Ein Netzwerk aus Menschen aufbauen, die einem gut tun und mit denen man gern zusammen ist. Das alles schafft ein Polster, um Schwierigkeiten im Leben abzupuffern. Für Familien ist es außerdem ganz wichtig, einmal am Tag zu einer gemeinsamen Mahlzeit zusammenzukommen, um zu essen und zu erzählen. Das gilt übrigens auch für Paare.