Podcast „Von Mensch zu Mensch“: Seit 70 Jahren tritt der Kinderschutzbund wie beim Kinderschutzzentrum Harburg für Kinderrechte ein.

Mit zwölf Jahren saß Stella (Name von der Redaktion geändert) das erste Mal bei einem Therapeuten des Kinderschutzzen­trums Harburg. „Beim ersten Termin habe ich überhaupt nichts gesagt, ich war zu schüchtern“, sagt die heute 22-Jährige. Ihre ältere Schwester hatte sie mitgenommen, weil das Leben zu Hause unerträglich war. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter litt an schweren Depressionen.

„Ständig kam es zum Streit mit meinem betrunkenen Vater, der auch mit Gewalt drohte“, sagt Stella. Als er nach langem Drängen endlich auszog, wurde die Lage nicht besser, „meine Mutter war zu krank, um den Haushalt zu führen“. Auch deswegen gab es ständig Auseinandersetzungen. „Ich fühlte mich nicht wohl, weder zu Hause noch in der Schule, die ich oft schwänzte“, sagt Stella. In den Gesprächen mit dem Therapeuten entwickelte sie allmählich Vertrauen: „Mit einer dritten Person außerhalb der Familie zu sprechen half mir, meine Emotionen einzuordnen, wegen der vielen Streitereien hasste ich mich auch selbst.“

Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit gewaltbelasteten Familien

So wie Stella finden pro Jahr mehr als 300 Kinder, Jugendliche und Eltern Hilfe in der Beratungsstelle des Kinderschutzzentrums Harburg. Dessen Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit gewaltbelasteten Familien. „Zu den Themen gehören alle Formen der Gewalt: von der Vernachlässigung und körperlichen Misshandlung bis zur sexuellen und zur psychischen Gewalt, die sich in fortsetzender Demütigung und Verunsicherung des Kindes äußert“, sagt Birgit Ebers-Gößling, Psychologin und Leiterin des Kinderschutzzentrums Harburg.

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Ein siebenköpfiges Team von Psychologen – darunter drei speziell ausgebildete Kinder- und Jugendtherapeuten – sowie Sozial- und Diplompädagogen unterstützt Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. Viele von ihnen sind traumatisiert aufgrund jahrelanger Gewalterfahrungen in Familien oder auf der Flucht. „Wir beraten auch Eltern sowie Lehrer, Erzieher oder Kollegen von Jugendhilfeträgern“, sagt Psychologe und Teammitglied Moritz Lippert. Wenn zum Beispiel ein Lehrer nachmittags anruft, weil ein Kind nach dem Unterricht aus Angst nicht nach Hause gehen will, oder eine Erzieherin vermehrt blaue Flecken auf dem Körper eines Kita-Kindes entdeckt und nicht einzuordnen weiß, können sie sich an uns wenden“, sagt Birgit Ebers-Gößling.

Der Leiter des Kinderschutzbunds, Landesverband Hamburg, Ralf Slüter spricht im Podcast „Von Mensch zu Mensch“ über die wichtige Arbeit des Verbands./ FUNKE Foto Services
Der Leiter des Kinderschutzbunds, Landesverband Hamburg, Ralf Slüter spricht im Podcast „Von Mensch zu Mensch“ über die wichtige Arbeit des Verbands./ FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

„Mit unseren Projekten handeln wir im Sinne der Grundrechte der Kinder“, sagt Ralf Slüter, Geschäftsführer vom Deutschen Kinderschutzbund, Landesverband Hamburg e. V., in der aktuellen Podcast-Folge „Von Mensch zu Mensch“.

Vor 70 Jahren für entkräftete Kinder der Nachkriegszeit gegründet

Der Kinderschutzbund feiert in diesem Jahr Jubiläum. Vor 70 Jahren in der Hansestadt für entkräftete Kinder der Nachkriegszeit gegründet, besteht die Organisation mittlerweile deutschlandweit aus 16 Landesverbänden, die wie der Hamburger Landesverband als Vereine eigenständig für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern eintreten. Und das mit vielfältigen Projekten. Etwa mit der Anlaufstelle „Frühe Hilfen für Eltern mit Säuglingen“. Neben den Beratungsstellen bietet der Kinderschutzbund zudem offene Treffs für arme Kinder in benachteiligten Stadtteilen oder Hilfen für unbegleitete Flüchtlinge an. Finanziert werden die Angebote mit Geldern der Stadt sowie zum großen Teil mit Spenden – auch durch den Abendblatt-Verein. „Wir sehen uns als Lobby für die Kinder“, sagt Psychologe und Familientherapeut Ralf Slüter im Abendblatt-Podcast.

Für das Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen sind die Therapeuten im Harburger Kinderschutzzentrum oft langfristig in Familien im Einsatz. „Viele Familien werden vom Jugendamt zu uns geschickt, andere kommen aus eigenem Antrieb, auch Eltern – etwa aus Sorge, dass die Hand immer öfter ausrutscht“, sagt Ebers-Gößling. Die Therapeuten begleiten dann nicht nur die Kinder, sondern oftmals auch ein oder beide Elternteile. „Ein gewaltbelastetes Umfeld führt meist zu Störungen in der Beziehungsfähigkeit, deswegen wenden wir uns Kind und Mutter oder Vater einzeln zu und schauen, wer was braucht“, sagt Moritz Lippert. Das geschehe nach dem Leitbild des Kinderschutzbundes immer in gegenseitiger Achtung.

Iris Mydlach spricht mit Ralf Schlüter vom Kinderschutzbund im Podcast Von Mensch Zu Mensch
Iris Mydlach spricht mit Ralf Schlüter vom Kinderschutzbund im Podcast Von Mensch Zu Mensch © Hamburg | Podcast Von Mensch Zu Mensch

„Auch Eltern möchten die Erziehung gut machen, haben aber aufgrund schwieriger Biografien nicht die passenden Mittel gelernt“, sagt Ebers-Gößling. Ebenso seien Aggressionen von verhaltensauffälligen Kindern Symptome für Fehlentwicklungen in der Kindheit. „So haben diese Kinder es nicht gelernt, sich zu beruhigen, weil ihre Eltern es ihnen nicht zeigen konnten“, so Ebers-Gößling.

Spezielle Kindertherapiezimmer

Für die Arbeit mit traumatisierten Kindern im Grundschulalter nutzen die Therapeuten ein mit Spielzeug ausgestattetes Kindertherapiezimmer. „Über das therapeutische Spielen mit Figuren oder übers Malen und Basteln kann das Kind seine Gefühle zeigen und lernen, mit ihnen umzugehen“, sagt Ebers-Gößling. Für Jugendliche, die allein, ohne Eltern ins Schutzzentrum kommen können, stehen auch Mittel wie etwa ein Boxsack bereit. „Dort kann beispielsweise Wut über die schwierige Situation heraus- und auch losgelassen werden“, sagt Moritz Lippert.

Für Stella war die Therapie im Kinderschutzzentrum noch bis vor Kurzem eine wichtige Unterstützung. Zwar hatte sich ihre Situation verbessert, nachdem sie die zehnte Klasse in der Stadtteilschule wiederholt hatte. „Das war ein Höhenflug mit guten Noten und neuen Freunden.“ Doch 2020 starb plötzlich ihre Mutter. Ihre drei jüngeren Geschwister zogen zum Vater, sie in eine betreute Jugendwohnung. Es folgten depressive Verstimmungen und mit der Corona-Pandemie und dem für sie schwierigen Online-Unterricht Frust und schlechte Noten.

Selbstmordversuch und Klinikaufenthalt wegen Tod der Mutter

Das alles führte zu einem Selbstmordversuch und einem fünfwöchigen Klinikaufenthalt in der Psychiatrie. „Der gab mir wieder Halt“, sagt Stella. Mit der Fürsorge eines kooperierenden Netzwerks von Ärzten, Schule, Familienhilfe und Kinderschutzzentrum fand Stella zurück ins Leben. Sie zog in eine neue Jugendwohnung mit engerer Betreuung, schaffte ihr Abitur und begann eine Ausbildung, die ihr viel Spaß macht. Sie sei nun angekommen, die Therapie beendet. „Doch ohne sie hätte ich nicht die Stabilisierung bekommen, die ich damals so dringend brauchte“, sagt sie.