Wer damit nicht mehr aufhören kann, leidet oft unter einer Zwangsspektrumstörung. Eine Selbsthilfegruppe kann unterstützen.
Wenn Kristina Z. Stress hat, dann muss ihre Haut darunter leiden. Sie sucht sich kleine Unebenheiten, Krusten oder große Poren im Gesicht, am Dekolletee oder Oberarm, an denen sie so lange herumdrückt und quetscht, bis eine Wunde entsteht. Seit sie zwölf Jahre alt ist macht die 24-Jährige dieses Hautpulen, auch Skin Picking genannt – manchmal über Stunden. „Das ist vergleichbar mit einer Sucht, wie andere Alkohol oder Nikotin konsumieren. Ich kann einfach nicht aufhören“, sagt die Biologiestudentin. Dass es eine psychische Erkrankung ist, für die es auch einen Namen gibt, hat sie erst 2018 durch eine Therapeutin erfahren.
Sie gehört neben dem zwanghaften Haareziehen und Nägelkauen zu den Körperbezogenen repetitiven Verhaltensweisen, die bei den Zwangsspektrumstörungen subsumiert sind. Bis sie ihrer Diagnose erhielt, war Kristina Z. von einem Hautarzt zum anderen gelaufen, schmierte aggressive Aknemittel ins Gesicht, die die Haut noch mehr angriffen. „Kein Arzt kam auf die Idee, dass dahinter eine Störung stecken könnte.“ Ihre Eltern sagten ihr immer nur, sie solle endlich mit dem schädlichen Verhalten aufhören. „Ich habe das Skin Picking dann immer heimlich gemacht, vor allem im Badezimmer und die Hautschäden mit viel Make-up überdeckt. Ich habe mich sehr geschämt für mein Aussehen und mich immer mehr isoliert“, berichtet Z.
Zu wenige Ärzte sind dafür sensibilisiert
Die Zahl der an einer Zwangsspektrumstörung leidenden Menschen wird auf 0,5 bis vier Prozent einer jeweiligen Bevölkerung geschätzt. „Die Erkrankung ist trotz zunehmender Forschung, internationaler Vernetzung und Internet immer noch nicht großflächig bekannt. Neben Ärzten sind auch Friseure und Kosmetikerinnen dafür nicht ausreichend sensibilisiert“, sagt Linda Hollatz im Podcast „Von Mensch zu Mensch“. Die Psychologin behandelt Menschen mit Zwangsspektrumstörungen, leitet eine Hamburger Selbsthilfegruppe und schreibt gerade an einer Dissertation zum Thema Trichotillomanie (zwanghaftes Haarziehen) und Haarpflege.
Haare sind bei der 56-Jährigen zu einer Art Lebensthema geworden, seit sie mit 13 Jahren anfing, ständig an ihren Haaren zu ziehen und unter Haarausfall litt. „Ich konnte stundenlang nach gespaltenen Haaren suchen, das war wie ein Trancezustand. Es entsteht dabei ein Gefühl von Entspannung und Abbau von Stress. Es hat fast etwas Lustvolles. Aber ich wusste immer, das ist nicht normal“, sagt sie. Sie vermutet, dass es neben erlebten Traumata auch eine genetische Disposition bei ihr gibt. „Meine Mutter hat an ihrer Haut gepult, mein Vater und auch Großeltern haben an den Nägeln gekaut“, sagt Hollatz.
Kristina Z. sieht im Mobbing, das sie jahrelang in der Schule ertragen musste, einen Auslöser für ihre Störung. „Das Skin Picking war für mich eine Art Kompensation für all den Frust, ich wusste einfach nicht wohin mit meinen Gefühlen. Die habe ich an meiner Haut ausgelassen“, berichtet sie offen.
Eltern sollten auf äußerliche Veränderungen achten
Die Pubertät mit ihren vielen Veränderungen ist meistens ein Beginn für das Verhaltensmuster, es sind fast nur Mädchen davon betroffen. „Oft ist es anfangs nur ein Pflegethema, die Mädchen wollen eine schöne Haut und glänzende Haare haben, so wie die Werbung und sozialen Medien das vorgeben. Doch bei manchen verselbstständigt sich das und wird nicht mehr kontrollierbar“, sagt Psychologin Hollatz.
Sie rät Eltern dazu, bei ihren Kindern auf äußerliche Veränderungen zu achten, wenn ein Kind sich zum Beispiel plötzlich die Wimpern ausreiße, sich kahle Stellen an der Kopfhaut bildeten oder immer neue Hautentzündungen auftreten. Auch das stundenlange Verschwinden im Badezimmer sei eine Indikation. Das wichtigste sei dann, das Kind mit Ich-Botschaften darauf anzusprechen, zu schauen, ob es darüber reden möchte. „Denn wenn man immer nur sagt hör auf, das ist eklig oder ähnliches, verstärkt man nur das Schamgefühl bei den Betroffenen“, sagt Hollatz.
In ihrer Hamburger Selbsthilfegruppe BFRB - Hautpulen, Haareziehen - Nägelkauen – , die zur Zeit alle zwei Wochen online stattfindet, sprechen die rund 20 Frauen offen über ihre Schamgefühle, ihre Erfolge und Rückfälle beim Kampf gegen die Zwangsstörung. „Es tut gut zu wissen, dass ich nicht alleine damit bin. Jeder weiß, wovon man redet, da fühle ich mich angenommen.
Und wir geben uns Tipps, was hilft“, sagt Kristina Z.. Sie hat durch eine Verhaltenstherapie gelernt, wie sie gegen das Skin Picking vorgehen kann. Im Badezimmer hat sie die Spiegel abgehängt und am Schreibtisch hat sie einen ganzen Sack voller Gegenstände, die stattdessen ihre Hände beschäftigen.
Die Hände müssen beschäftigt werden
Einen Gummi-Igelball, einen harten, kleinen Ball, ein mit Kugeln gefülltes Netz und ihre Ringe an den Finger, an denen sie konstant dreht. Auch Düfte können sie davon abhalten, sich an der Haut zu pulen. Ganz ohne das Haut pulen kommt sie nicht aus, „aber mehr als 30 Minuten am Tag bin ich damit nicht mehr beschäftigt“, sagt sie. Linda Hollatz hingegen zieht schon lange nicht mehr an ihren Haaren, sie hat sich mehr darauf verlegt, Friseure, Ärzte und Mitmenschen für das Thema körperbezogene zwanghafte Verhaltensweisen zu sensibilisieren und aufzuklären.
Infos zur Selbsthilfegruppe: www.selbsthilfe-bfrb.de, E-Mail: kontakt@selbsthilfe-bfrb.de Linda Hollatz bietet auch Seminare für Friseure zum Thema an. Infos unter www.haarexpertin.de, E-Mail: linda@haarexpertin.de
Den Podcast zum Thema mit Linda Hollatz unter www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch