Keine vier Monate stand Margot Käßmann an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. In dieser Zeit hat sie viel bewegt.
Hannover. Ein Fehlverhalten, das wohl manchem passieren kann, führte zum Ende der kurzen Karriere von Margot Käßmann (51) als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zu schwer wog nach reiflicher Abwägung bei der Bischöfin und ihren Ratgebern die Sorge, dass durch eine Autofahrt unter Alkoholeinfluss ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit schaden nehmen würden. Nach gut drei Monaten gibt sie das Spitzenamt der 25 Millionen deutschen Protestanten und auch den Posten als Bischöfin der hannoverschen Landeskirche zurück, den sie seit mehr als zehn Jahren innehatte.
Noch am Mittwochmorgen hatte der Rat der EKD nach einer nächtlichen Telefonkonferenz seiner Vorsitzenden einmütig das Vertrauen ausgesprochen. Wie es weitergeht nach Käßmanns Rücktritt dürfte das Treffen der Ratsmitglieder im bayerischen Tutzing bestimmen, das ohnehin für Freitag und Sonnabend angesetzt ist. Führungslos ist die evangelische Kirche allerdings nicht: Bei einem vorzeitigen Ausscheiden eines Ratsvorsitzenden, so ist es geregelt, übernimmt der Stellvertreter den Vorsitz bis zu einer Neuwahl. Damit rückt der rheinische Präses Nikolaus Schneider (61) zunächst an die EKD-Spitze. Eine Nachwahl erfolgt durch die Synode, das Kirchenparlament, und die Vertretung der Landeskirchen. Deren nächste reguläre Tagung ist für November in Hannover angesetzt. Aber auch eine vorgezogene außerordentliche Sitzung ist denkbar.
Erst Ende Oktober war die 51jährige Bischöfin, die schon zehn Jahre an der Spitze der hannoverschen Landeskirche stand, als erste Frau zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt worden. In dem Spitzenamt löste sie den Berliner Bischof Wolfgang Huber (67) ab, der aus Altersgründen ausschied. Das Gespann von zwei Frauen – Käßmann und Katrin Göring-Eckardt als Präses der EKD-Synode – versprach frischen Wind und neuen Stil. In ihrer kurzen Amtszeit hielt Käßmann alle auf Trab. Und nicht nur die eigene Kirche, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einem Empfang für die neue EKD-Spitze vorausgesagt hatte. 83 Interviews, so notierten Beobachter, habe Käßmann in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit gegeben. Babyklappen, Pflege, Armut, Sterbehilfe, Hartz-IV – gerade in diesen sehr lebenspraktischen Themen bezog die profilierte Protestantin Position.
Die politische Debatte mischte die temperamentvolle Theologin durch zugespitzte Wortmeldungen auf. „Nichts ist gut in Afghanistan“, sagte Käßmann an Neujahr in der Dresdner Frauenkirche und stieß damit eine Debatte über den Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch an. Mit ihrem Einspruch gegen ein „Weiter so“ in Afghanistan erfuhr sie heftigen Widerspruch aus unterschiedlichen politischen Lagern. Doch die evangelischen Bischofskollegen scharten sich um die attackierte Käßmann und gaben ihr Rückendeckung. Für die Forderung, dem zivilen Engagement Vorrang vor militärischer Gewalt einzuräumen, gab es viel Zuspruch beim Kirchenvolk, aber auch von Kirchenfernen für die Bischöfin. Denn Käßmann ist populär. Ihren unverblümten und mitunter politisch nicht ausgewogenen Wortmeldungen finden große Wertschätzung an der Kirchenbasis. Ihr jüngstes Buch „In der Mitte des Lebens“, in dem Käßmann sehr viel von sich selbst preisgibt, kletterte rasch in die Bestseller-Listen.
Persönliche Integrität, authentisches Auftreten, Emotionalität und Spiritualität gelten als ihre Stärken, mit ihren Beiträgen und Ratschlägen findet die Theologin und Seelsorgerin Gehör in Kreisen, denen die Wortmeldungen Vorgängers Wolfgang Huber zu akademisch geprägt erschienen. Ein Beispiel ist Käßmanns Predigt in der ökumenischen Andacht nach der Selbsttötung des Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke in Hannover.
Es gab auch manche kirchendiplomatische Aufreger in der kurzen Amtszeit. Enttäuschung rief die Ratsvorsitzende in Rom hervor mit ihrer Aussage, sie erwarte von Papst Benedikt XVI. ökumenisch nichts. Das Urteil wird zwar von vielen Ökumene-Kennern geteilt. Dass sie es aber ausgerechnet im Talk mit Gregor Gysi von der Linkspartei äußerte, erschien in Kirchenkreisen als nicht besonders geschickt. Der vatikanische Ökumene-Minister Walter Kasper reagierte prompt verärgert. Die Papst-Kritik sei „unfair“, „ungerecht“ und „zutiefst unökumenisch“, rügte der Kurienkardinal. Käßmann sah sich gehalten, weiterer ökumenischer Verstimmung vorzubeugen. Ihr sei nicht an einem Streit mit der katholischen Kirche gelegen, versicherte sie. Sie hatte ganz bewusst bei Robert Zollitsch, dem Vorsitzenden der katholischen Bischöfe, ihren ersten Antrittsbesuch, gemacht.
Zuvor hatte die Russische Orthodoxe Kirche der Spitzenfrau des deutschen Protestantismus die kalte Schulter gezeigt. Das Moskauer Patriarchat setzte den offiziellen Dialog mit der EKD aus. Die orthodoxe Kirche lehne eine Frau an der Spitze der EKD als Gesprächspartnerin ab, hieß es zur Begründung. Patriarch Kyrill I. legte vor wenigen Tag nach und hielt der evangelischen Kirche Mitschuld am Werteverfall vor. Margot Käßmann ist nun nicht über politische Kontroversen oder ökumenische Verwicklungen gestolpert. Eine durch und durch menschliche Schwäche setzte ihrer steilen Karriere einen Schlusspunkt. Vorläufig zumindest – denn ob sie sich nach dem Doppelrücktritt ganz aus der Öffentlichkeit zurückzieht, wird abzuwarten sein.