Was treibt Thilo Sarrazin, muslimische Migranten schonungslos zu kritisieren? Die Liebe zu Deutschland, wie Sarrazin selbst sagt.
Am Wochenende war Thilo Sarrazin in einem China-Restaurant in Berlin-Wilmersdorf essen. Toll war das, sagt Sarrazin . "Erst mal haben mich alle unglaublich freundlich angeschaut", sagt er. Dann seien Leute von ihren Tischen aufgestanden, zu ihm gekommen und hätten ihn gelobt. Obwohl sie sein Buch noch gar nicht gelesen hatten. Er sagte ihnen, dass sie sein Buch lesen sollen.
An diesem Montag ist Thilo Sarrazin in die Bundespressekonferenz in Berlin-Mitte gekommen. Vor dem Gebäude toben rund 150 Demonstranten. Im Gebäude sitzt in Reihe zwei Michel Friedman, der frühere Vizepräsident des Zentralrats der Juden. Friedman hat schon eine halbe Stunde vor Sarrazins Ankunft angefangen, den Kopf zu schütteln und zu schimpfen. Sarrazin empfiehlt seinen Gegnern das Gleiche wie seinen Anhängern: dass sie sein Buch lesen sollen.
Der Verlag hat die Räume eins bis vier angemietet, Journalisten aus der ganzen Republik, aus der Türkei, Dänemark, Russland und Italien sind gekommen. "Hier ist die Hölle los!", brüllt ein Fotograf mit Totenkopf als Gürtelschnalle in sein Handy, dann stürzt er sich wieder in das blitzende Menschenknäuel.
Es waren vielleicht drei Leute der Deutschen Verlags-Anstalt, die Sarrazin beklatscht haben, als er sich den Weg ans Pult bahnte. Sie haben geklatscht, weil sich das Buch gut verkaufen wird. Aber ein Thilo Sarrazin braucht keinen Applaus. Seine Gefühle zu erahnen ist unmöglich. Sein Gesichtsausdruck ist immer gleich - die Augen versteckt er hinter der Hornbrille. Ist er aufgeregt? Freut er sich über den Rummel? Hat er sich über die Demonstranten geärgert? Ist er besorgt, weil ihn Polizisten bei seinem Auftritt schützen müssen? Über seine Gefühle will der 65-Jährige heute nicht sprechen.
Er faltet die Hände und schaut in die Ferne. Er ist noch nicht dran. Die türkischstämmige Necla Kelek soll sein Buch präsentieren. Sie sagt: "Hier hat ein verantwortungsbewusster Bürger drastische Wahrheiten angesprochen und sich einen Kopf gemacht. Um diesen Kopf soll er jetzt kürzer gemacht werden." Kelek sagt, dass Sarrazin recht hat. "Dieses Buch wird dieses Land verändern", findet sie und übergibt an Sarrazin.
+++Porträt: Ein Volkswirt, der gern provoziert+++
"Ich werde oft gefragt: Warum machst du das eigentlich, warum tust du dir das an?", beginnt der Buch-Autor. Er nuschelt wie immer. Verstehen und Gestalten sei immer seine Motivation gewesen. Und immer gehe es ihm ums große Ganze. In der Wissenschaft, in der er seine Karriere begann, in der Wirtschaft und schließlich in der Politik, in die er ungeplant berufen wurde. "Wenn man dem Staat so lange dient, bleibt es nicht aus, dass man ihn liebt und das Staatsvolk auch", nuschelt er.
Über 400 Seiten - aus Liebe zu Deutschland. Zwei Jahre hat der promovierte Volkswirt an dem Buch gearbeitet. Er hat Statistiken ausgewertet, Tabellen gesammelt. Und hat in all den vielen Zahlen die Bestätigung für die Überzeugungen gefunden, die er seit Jahrzehnten hat. Der Buchtitel, der meterhoch hinter ihm an der Wand prangt, lautet: "Deutschland schafft sich ab". Sarrazin sagt, sein Buch enthalte zum größten Teil Analysen und zu einem kleineren Teil eigene Wertungen. "Es ist ein politisches Sachbuch, aber mehr ein Sachbuch."
Er sagt, dass er keine Menschen sieht, wenn er Statistiken auswertet. Vielleicht ist es gerade das, womit er die Gefühle vieler Menschen getroffen hat.
Sachlich will er an diesem Berliner Vormittag wirken, nicht populistisch. Obwohl er einräumt, dass ihm der Populismus als Mittel recht ist. Natürlich enthalte sein Werk "auch mal eine wertende Zuspitzung". Dies allerdings nur, um möglichst viele Menschen zu erreichen. "Sie können bestimmte Schichten der Bevölkerung mit abstrakten Schilderungen nicht erreichen", doziert er. Und ohnehin sei das "Sachbuch" in seiner Urform noch viel schärfer gewesen. Seine Frau habe es noch entschärft, jetzt sei es "sehr ausgewogen". Gelächter im Saal.
Sarrazin ist überzeugt davon, dass er recht hat. Er sagt, dass er alle einlade, Unstimmigkeiten im Buch zu finden. "Das wird", sagt er genüsslich, "nicht so leicht möglich sein."
Deshalb können ihn die Demonstranten vor der Tür, die kritischen Journalisten, seine SPD und selbst die Bundeskanzlerin nicht aus der Ruhe bringen. Eine Reporterin von einem Berliner Radiosender fragt ihn, was ihn eigentlich von einem verfassungsfeindlichen Rassisten und Sozialdarwinisten unterscheide. Er kontert: "Sie haben mein Buch nicht gelesen. Sobald Sie es gelesen haben, werde ich Sie gerne zu einem Gespräch empfangen."
Auch seine Partei, die an diesem Nachmittag verkündet, dass sie ihn ausschließen will, lässt ihn kalt: "Dort soll sich erst mal jemand hinsetzen und mein Buch lesen und sehen, ob das einen Parteiausschluss rechtfertigt. Es wird nichts zu finden sein." Er werde in der Volkspartei SPD bleiben.
Und auch die Kanzlerin gehöre angesichts ihres engen Zeitbudgets zu den Menschen, die das Buch nicht gelesen haben. Ein weiterer Kommentar erübrige sich. Ohnehin: Wer schon in der Analyse mit ihm, Sarrazin, nicht übereinstimme - der solle ihm den Diskurs bitte schön ersparen.
+++Nahles: Thilo Sarrazin ein Bundesbanker mit Profilneurose+++
Auf dem Podium steht Sarrazin, der sich an seinen Tabellen genauso festhält wie am Rednerpult. Der Probleme wie die Alterung, Bevölkerungs-Schrumpfung und Fachkräftemangel benennt und auch die falschen Anreize des deutschen Sozialstaats erklären kann. Der das Thema Migration nicht den Rechtspopulisten überlassen will, weil er sie für gefährlich hält. Ob er Geert Wilders, den niederländischen Rechtspopulisten, und dessen Anti-Islam-Partei gut finde, will ein niederländischer Journalist wissen. Er bewundere Wilders höchstens für seine blonden Haare, entgegnet Sarrazin. Dass auch Wilders härtere Regeln für Einwanderer fordert, stört ihn nicht. Wenn er, Sarrazin sage, die Erde sei rund, und ein Gegner sage das Gleiche, dann würde er seine Meinung nicht ändern. "Dann sage ich: Die Erde ist rund. Und du bist trotzdem ein Arschloch."
Auf dem Podium steht auch Sarrazin, der Provokateur. Der über die Migranten aus muslimischen Ländern sagt, dass sie das größte Integrationsproblem in Deutschland darstellten. Weil sie von ihrer "muslimischen Kultur" dazu geprägt seien, in "Parallelgesellschaften" zu leben. Migrant sei nicht Migrant - "es gibt dort ja auch sehr unterschiedliche Exemplare". Es sind Sätze wie diese, die provozieren. Und die Sarrazin bewusst ausspricht. Seine Deutschen, die alteingesessenen, nennt er "Staatsvolk" oder "autochthone Deutsche". Er sagt, dass die "ökonomische und gesellschaftliche Bilanz" von Einwanderern aus muslimischen Ländern "per Saldo eindeutig negativ" sei. Auf Migranten müsse "moralischer Druck" zur Integration ausgeübt werden, sie seien in der "Bring-Schuld": "Das ist manchmal hart, aber manchmal sehr gesund", folgert Sarrazin.
Nur in einem Punkt gesteht er einen Fehler ein. Er habe in einem Interview gesagt, dass alle Juden ein bestimmtes Gen teilen, und habe sich damit missverständlich ausgedrückt. Er habe sich zwar auf Studien bezogen, aber mit seiner Bezeichnung "keine positive oder negative Zuschreibung" gemacht. "Ich bin mit dem Begriff jüdischer Gene ganz unbefangen umgegangen. Und das war der einzige Fehler", sagt er. Als ihn eine Journalistin fragt, wie sich die Gene von eingeheirateten Juden verhielten, schweigt er. Er sei ja selbst kein Experte auf dem Gebiet, hatte er zuvor gesagt.
+++ Sarrazin fordert mehr Druck auf muslimische Migranten +++
Dass er auch auf dem Gebiet der Vererbungs-Theorie kein Experte ist, sagt er nicht. 50 bis 80 Prozent der Intelligenz seien erblich, findet er. Deshalb könne man auch nicht alle Probleme mit Bildung lösen. "Der Bildungsfetisch ist die Lebenslüge der Gesellschaft", findet Sarrazin. Ein Intelligenz-Gen, das seiner Theorie zugrunde liegt, sucht die Wissenschaft bislang vergeblich.
"Der Abschied Deutschlands aus der Geschichte berührt mich emotional", beteuert Thilo Sarrazin. Er sieht sich durch die Meinungsfreiheit gedeckt. "Ich bin ein Gestaltungs-Optimist und glaube an den öffentlichen Diskurs. Wäre es anders, hätte ich das Buch nicht geschrieben." Angst um seinen Job im Vorstand der Bundesbank hat er nicht, er habe ja keine "dienstlichen Obliegenheiten" verletzt. Am Mittwoch um 9.30 Uhr will er an der nächsten Vorstandssitzung teilnehmen.
Thilo Sarrazin stellt sich hin, reckt das Kinn und verschränkt die Arme. Er sagt, dass ihn manche als schwierig empfänden. "Das habe ich stets mit Gelassenheit getragen."