Gewerkschaftschef Frank Bsirske kritisiert im Interview den Deutschland-Plan von SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier.

Hamburg. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, hat scharfe Kritik am Regierungsprogramm von SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier geäußert. „Der Deutschlandplan kommt vom Spitzenkandidaten einer Partei, die seit elf Jahren mitregiert. Da fragt man sich, warum die SPD das nicht früher angepackt hat als acht Wochen vor der Bundestagswahl“, sagte Bsirske im Interview des Hamburger Abendblatts.

Außerdem sehe er Finanzierungslücken. Der geplante Bildungssoli reiche nicht aus, um die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. „Das Ziel, vier Millionen Jobs in den nächsten zehn Jahren zu schaffen, ist nicht utopisch“, sagte Bsirske, der Mitglied der Grünen ist. „Die Glaubwürdigkeitsprobleme des Konzepts liegen an anderer Stelle.“

Verdi werde zur Bundestagswahl keine Empfehlung für eine Partei aussprechen, kündigte Bsirske an. „Die Bürger sollten ihre Wahlentscheidung davon abhängig machen, ob eine Partei für gesetzliche Mindestlöhne eintritt.“ Die Sozialdemokraten hätten „ihr Kernprofil der sozialen Gerechtigkeit schwer beschädigt“, so der Gewerkschaftschef. Dies erkläre, warum sich der Zuspruch für die SPD seit 1998 nahezu halbiert habe.

Der SPD-Kanzlerkandidat hatten vor einigen Tagen seinen sogenannten Deutschlandplan der Öffentlichkeit vorgestellt und dabei unter anderem die Schaffung von vier Millionen Arbeitsplätzen versprochen, sollte die SPD die Bundestagswahl im kommenden September gewinnen.

Das Interview im Wortlaut:

Hamburger Abendblatt:

Herr Bsirske, Sie sind Gewerkschaftsführer und Mitglied der Grünen. Wem geben Sie am 27. September Ihre Stimme?

Frank Bsirske:

Ich bin nicht zufällig Mitglied der Grünen.

Abendblatt:

Die Gewerkschaften haben traditionell empfohlen, SPD zu wählen ...

Bsirske:

Ver.di wird nicht dazu aufrufen, bei der Bundestagswahl eine bestimmte Partei zu wählen. Unsere Wahl-Kampagne trägt den Titel "Stimmen für den Mindestlohn". Arbeit darf nicht arm machen und entwürdigen. Die Bürger sollten ihre Wahlentscheidung davon abhängig machen, ob eine Partei für gesetzliche Mindestlöhne eintritt.

Abendblatt:

Also empfehlen Sie, SPD, Grüne oder Linkspartei zu wählen.

Bsirske:

Wir raten den Bürgern, keine Kandidaten und keine Parteien zu wählen, die als Hungerlohnlobbyisten auftreten und eine Brandschutzmauer gegen den gesetzlichen Mindestlohn errichten wollen. Deutschland sollte sich die europäischen Nachbarländer zum Vorbild nehmen, die Mindestlöhne zwischen acht und neun Euro haben.

Abendblatt:

Die SPD sieht sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit. Ist sie das?

Bsirske:

Die Sozialdemokraten haben ihr Kernprofil der sozialen Gerechtigkeit schwer beschädigt. Hartz IV und Rente mit 67 haben ihnen ein massives Glaubwürdigkeitsproblem beschert. Das erklärt, warum sich der Zuspruch für die SPD seit 1998 nahezu halbiert hat.

Abendblatt:

SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier hat sein Team vorgestellt, das einen "Aufbruch zum Besseren" schaffen will. Glauben Sie, das gelingt?

Bsirske:

Die Zielsetzung, mehr Arbeitsplätze zu schaffen durch eine ökologische Industriepolitik und durch Investitionen in den Dienstleistungssektor, ist zu begrüßen. Diejenigen, die sich über Steinmeiers Vorschläge lustig machen, sollten sich schämen.

Abendblatt:

Wer sollte sich schämen?

Bsirske:

Herr zu Guttenberg zum Beispiel, der erklärt, er würde sich das Ziel von vier Millionen neuen Arbeitsplätzen gar nicht erst setzen. Ich bin ziemlich empört, dass der SPD mangelnder Realitätssinn ausgerechnet von den Leuten unterstellt wird, die sich überbieten mit unseriösen Steuersenkungsversprechen.

Abendblatt:

Sie ziehen Politiker vor, die unseriös sind bei der Schaffung von Jobs?

Bsirske:

Das Ziel, vier Millionen Jobs in den nächsten zehn Jahren zu schaffen, ist nicht utopisch. Allein das Gesundheitswesen hat erhebliche Wachstumsreserven. Die Glaubwürdigkeitsprobleme des Konzepts liegen an anderer Stelle.

Abendblatt:

Nämlich?

Bsirske:

Der Deutschland-Plan kommt vom Spitzenkandidaten einer Partei, die seit elf Jahren mitregiert. Da fragt man sich, warum die SPD das nicht früher angepackt hat als acht Wochen vor der Bundestagswahl. Außerdem sehe ich Finanzierungslücken: Steinmeier will die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Dafür braucht man 50 Milliarden Euro. Der Bildungssoli, der zur Finanzierung vorgeschlagen wird, bringt aber höchstens 10 Milliarden Euro.

Abendblatt:

Wir nehmen an, Sie würden die Steuern stärker erhöhen.

Bsirske:

Nicht bei den sogenannten kleinen Leuten. Aber Deutschland ist eine Steueroase, was die Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung angeht. Ich empfehle, dass wir uns an den anderen europäischen Industriestaaten orientieren. Die Einführung einer Vermögenssteuer könnte 28 Milliarden Euro jährlich bringen. Außerdem sollten wir eine deutlich höhere Besteuerung großer Erbschaften anstreben, denn bis 2015 werden hierzulande nach Berechnungen des Finanzministeriums 1,4 Billionen Euro vererbt. Dabei geht es nicht um "Oma ihr klein Häuschen". Ich rede von der Villa mit Park und Seezugang. Das ist zugleich eine Antwort auf die Frage, wer die Zeche zahlen soll zur Bewältigung dieser Krise.

Abendblatt:

Haben wir den schlimmsten Teil der Krise schon hinter uns?

Bsirske:

Wir bewegen uns am Rande einer Deflation, darin sehe ich das Hauptrisiko. Die Preissteigerungsrate wird glaubhaften Prognosen zufolge in diesem und im nächsten Jahr bei 0,3 Prozent liegen. Ich halte es für völlig absurd, in dieser Situation Inflationsängste zu schüren. Was uns droht, ist das japanische Szenario: eine lang anhaltende Stagnation mit deflationärer Grundtönung.

Abendblatt:

Ökonomen wie der frühere Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck werfen den Gewerkschaften vor, die Krise mit verursacht zu haben ...

Bsirske:

Diese Kritik zielt auf die zurückhaltenden Lohnabschlüsse. In der Tat hat die deutsche Lohnpolitik in den vergangenen Jahren einen Sonderweg eingeschlagen. Die moderaten Abschlüsse haben unseren Binnenmarkt geschwächt. Eine einseitige Fixierung auf den Export werden wir uns nicht länger leisten können.

Abendblatt:

Ihr Vorgänger Heinz Kluncker hat Lohnsteigerungen im zweistelligen Bereich durchgedrückt ...

Bsirske:

Ich mache gern den Kluncker, wenn es geht. Aber zu Tarifabschlüssen gehören immer zwei Seiten, und man muss die Kräfteverhältnisse sehen.

Abendblatt:

Wie stellen Sie sich unsere Wirtschaftsordnung nach der Krise vor?

Bsirske:

Wir brauchen einen Systemwechsel. Wir müssen eine regulierte Marktwirtschaft errichten, die sozial-ökologisch geprägt ist. Nach Jahrzehnten der Deregulierung, die uns in ein Desaster geführt hat, ist eine massive Reregulierung dringend notwendig. Andernfalls droht uns die nächste, noch schlimmere Krise.

Abendblatt:

Hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt?

Bsirske:

Helmut Schmidt hat das Wort vom Raubtierkapitalismus geprägt. Die Raubtiere laufen immer noch frei herum. Sie müssen eingefangen und gebändigt werden. Bisher gibt es nur Absichtserklärungen. Die internationalen Finanzmärkte brauchen strenge Regeln. Es muss Schluss sein mit einer Politik, die Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Die Politik muss der Versuchung widerstehen, den Spielern das Kasino zu renovieren. Es ist Zeit, das Kasino zu schließen.

Abendblatt:

Systemwechsel - was bedeutet das für die Banken?

Bsirske:

Die Rettung angeschlagener Banken muss dem Prinzip folgen: Keine Leistung ohne Gegenleistung. Ich kritisiere entschieden, dass Finanzminister Steinbrück darauf verzichtet, Einfluss auf die Geschäftspolitik von Banken zu nehmen, die durch den Steuerzahler gestützt werden. Wer Milliarden aus Steuermitteln zuschießt, muss Banken notfalls auch verstaatlichen können. Was sonst passiert, können wir derzeit bei mehreren Landesbanken beobachten.

Abendblatt:

Das wäre?

Bsirske:

Die bekommen dreistellige Millionenbeträge als Kapitalspritzen und die Vorstände stopfen sich weiter die Taschen voll mit Bonuszahlungen. Damit muss Schluss gemacht werden.

Abendblatt:

Wirtschaftsminister zu Guttenberg arbeitet an einem Gesetz, um marode Banken unter Zwangsverwaltung zu stellen.

Bsirske:

Wenn Banken mit Steuergeld stabilisiert werden, muss der Staat die Möglichkeit haben, ihre Geschäftspolitik zu lenken. Reift beim Wirtschaftsminister diese Erkenntnis, hat er meine Unterstützung.

Abendblatt:

Wie kann die Kreditklemme überwunden werden?

Bsirske:

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau sollte eine zentrale Rolle übernehmen. KfW-Geld für Unternehmen könnte zur Überwindung der Kreditklemme beitragen. Genauso wichtig sind allerdings Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur.

Abendblatt:

Woran denken Sie?

Bsirske:

Die neue Regierung muss gleich nach der Bundestagswahl ein drittes Konjunkturprogramm beschließen. 100 Milliarden Euro müssen in den nächsten drei Jahren investiert werden - vor allem in Bildung, Umwelt und Infrastruktur. Die Große Koalition hat die Dimension der Krise über Monate systematisch unterschätzt. Die ersten beiden Pakete waren völlig unzureichend.

Abendblatt:

Und wenn die neue Regierung nicht auf Sie hört?

Bsirske:

Dann wird sie die Verantwortung übernehmen müssen für einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit - bis an die Fünf-Millionen-Marke.