Vom Antrag auf Aufhebung der Immunität bis zum Rücktritt vergingen nur gut 15 Stunden. Das Protokoll des letzten Arbeitstages einer Präsidentschaft.
Berlin. 598 Tage. Viel ist das nicht. Seit Freitagvormittag kann Christian Wulff auf eine Amtsperiode als Bundespräsident zurückschauen, die kürzer ist als die Amtszeiten aller seiner Vorgänger.
19 Monate hat der heute 52 Jahre alte Wulff als Staatsoberhaupt im Schloss Bellevue gewirkt. 19 Monate, in denen er zuerst seine Rolle finden musste und zuletzt einem immer größer werdenden Druck ausgesetzt war, immer neuen Vorwürfen und desaströsen Umfragewerten.
66 Tage tobte ein gewaltiger Sturm über Wulff - eine Kreditaffäre, die zur Medienaffäre wurde und dann zu einem immer dichter werdenden Netz aus Verstrickungen, fragwürdigen Freundschaftsdiensten, Verdachtsfällen auf unredliches Verhalten und zuletzt auf eine Straftat. Doch Wulff wollte das alles aussitzen. Er wollte aushalten, bis der Sturm vorüberzieht, überzeugt von seiner eigenen Unschuld. Doch diese Taktik hat nicht funktioniert.
Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten für die Vermutung, dass die letzten 15 Stunden und 24 Minuten die wohl schwersten im politischen Leben des Bundespräsidenten Christian Wulff waren. So lange hat es zwischen dem Rücktritt und der Nachricht am Vorabend gedauert, dass die Staatsanwaltschaft Hannover gegen den Bundespräsidenten ermitteln will. Auch dies ist eine kurze Zeitspanne. Obwohl das Ende von Wulffs Amtszeit wegen der wochenlangen Diskussionen und dem schwindenden Vertrauen der Deutschen nicht gänzlich unüberraschend kam, hat es an diesem Morgen dennoch für ein politisches Erdbeben in Deutschland gesorgt. Das Protokoll eines außergewöhnlichen Tages - und eines Vorabends, an dem das Karriereende Wulffs mit einer einzigen Nachricht endgültig besiegelt wurde.
+++ Leitartikel: Typisch deutsch +++
+++ Halten Sie den Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff für richtig? +++
+++ Reaktionen zum Rücktritt des Bundespräsidenten +++
Donnerstag, 19.39 Uhr: In Niedersachsen hatte man es den Nachmittag über schon gemunkelt, erste Gerüchte hatten die Runde gemacht. Doch erst am Abend wurde es offiziell: Die Staatsanwaltschaft Hannover beantragt die Aufhebung von Wulffs Immunität. "Nach umfassender Prüfung neuer Unterlagen und der Auswertung weiterer Medienberichte" gebe es nun einen Anfangsverdacht wegen Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung, hieß es in einer Mitteilung der Behörde. Ermittelt werde auch gegen den Filmfondsmanager David Groenewold, der mit Wulff unter anderem auf Sylt Urlaub machte. Das Land Niedersachsen hatte unter Wulffs Amtszeit als Ministerpräsident für Groenewolds Firma eine Bürgschaft bereitgestellt, die aber doch nicht in Anspruch genommen wurde.
Der Schritt der Staatsanwaltschaft ist hochbrisant und beispiellos. Bis zuletzt hatte man in Wulffs Umfeld gehofft, die Ermittler würden zu einem anderen Ergebnis kommen. Doch nun gelangt der Fall auf eine neue Ebene. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik soll gegen einen Bundespräsidenten strafrechtlich ermittelt werden. Das schlägt Wellen. Schnell erreichen sie Berlin.
20.17 Uhr: Union und FDP sind in Schockstarre. Niemand rührt sich oder wagt, öffentlich ein Wort zu den Entwicklungen zu sprechen. Auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) lehnt eine Stellungnahme zu seinem Vorgänger Wulff ab.
Anders als Schwarz-Gelb zieht nun die Opposition ins Feld. Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, fordert die Aufhebung von Wulffs Immunität. Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele fordert als Erster an diesem Abend den Rücktritt des Bundespräsidenten.
21.16 Uhr: Wie Kreise in Berlin berichten, zweifelt man nun auch in der FDP zunehmend an Wulff - mit Namen lässt sich allerdings niemand zitieren. Auch Unionsabgeordnete sollen sich besorgt und aufgeregt über die Entwicklung geäußert haben. Es gelte als unzumutbar für all jene, die Wulff 2010 gewählt hätten, nun über seine Immunität zu entscheiden, hieß es. Die Koalition stellt sich auf ein verheerendes Medienecho und schärfste Kritik der Opposition ein. Die Nacht beginnt. Die Ruhe aber bleibt aus.
Aus Wulffs Umgebung heißt es später, dass er an diesem Abend bereits seine Entscheidung zum Rücktritt fällt - nicht wegen des Drucks, sondern wegen der anstehenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Die Aufhebung der Immunität wäre eine Demütigung für das höchste Amt im Staat.
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Freitag, 4.25 Uhr: Das Presseecho ist wie erwartet vernichtend. Fast einstimmig kommt die deutsche Medienlandschaft zu dem Schluss, dass der Bundespräsident politisch am Ende ist. In Berlin glaubt an diesem Morgen kaum noch jemand, dass Wulff um eine persönliche Erklärung noch herumkommt. Aus der CSU heißt es, es werde jetzt mit einem Rücktritt gerechnet, auch aus der CDU-Landesgruppe Niedersachsen wird das Ende von Wulffs Amtszeit nicht mehr ausgeschlossen.
7.07 Uhr: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nimmt die neuen Ereignisse um Wulff "zur Kenntnis", wie das ARD-Morgenmagazin Regierungssprecher Steffen Seibert zitiert. Eine dünne Aussage, die viel Platz für Spekulationen lässt. Eine geplante Reise nach Rom werde die Kanzlerin an diesem Tag wie vorgesehen unternehmen, heißt es weiter. Die Opposition pocht nun fast unisono auf Rücktritt - oder eine Niederlegung der Amtsgeschäfte, bis die Angelegenheit geklärt ist.
8.50 Uhr: Es ist so weit. Das Bundespräsidialamt kündigt die Erklärung Wulffs an. Beginn 11 Uhr, Einlass ist ab 9.45 Uhr. Bei Wulffs letzter Erklärung kurz vor Weihnachten gab es deutlich weniger Vorlauf. Eine halbe Stunde später kündigt auch die Bundeskanzlerin einen Presseauftritt für 11.30 Uhr an. Die Italienreise ist abgesagt. Jetzt also doch.
10 Uhr: Schon eine Stunde vor Wulffs Auftritt ist das Gedränge vor Schloss Bellevue groß. Es nieselt einen leichten Schneeregen auf die Köpfe der wartenden Journalisten. Die Schlange vor dem Eingang ist lang, jeder muss seine Taschen durchleuchten lassen und durch einen Metalldetektor gehen. Beim Einlass in den Großen Saal kommt es im Treppenhaus zum Tumult. Zu viele Kameraleute sind zu schnell losgestürmt - jeder will den besten Platz ergattern. Währenddessen melden die Nachrichtenagenturen, dass Wulff gleich seinen Rücktritt verkünden wird.
11.02 Uhr: Die großen weißen Flügeltüren auf der rechten Seite des Saals gehen auf. Doch statt Wulff kommt zunächst ein dunkelhaariger Mann heraus, der einen Zettel auf das aufgestellte Rednerpult legt. Die Fotografen lassen die Kameras kurz sinken. Erst als der Mitarbeiter weg ist, betreten Christian Wulff und Ehefrau Bettina den Saal. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ist deutlich schmaler im Gesicht und fahler als vor ein paar Monaten. Anders als seine Frau ist sein Blick weniger starr, weniger bestimmt. Wulff sagt, es sei ihm nicht mehr möglich, "das Amt des Bundespräsidenten nach innen und nach außen so wahrzunehmen, wie es notwendig ist". Er trete "deshalb heute vom Amt des Bundespräsidenten zurück, um den Weg zügig für die Nachfolge frei zu machen".
Bettina Wulff steht an seiner linken Seite und schaut leicht lächelnd und fast maskenhaft auf die Journalisten. Sie trägt ein schwarzes Kostüm mit weißem Saum, das man schon öfter an ihr gesehen hat. "Sie hat mir immer, gerade auch in den vergangenen Monaten, und auch den Kindern, starken Rückhalt gegeben", sagt ihr Mann. Es wird hinterher darüber spekuliert, ob sie in diesem Moment Tränen in den Augen hat.
11.07 Uhr: Es ist vorbei. Die Amtszeit des Bundespräsidenten und eine quälende Affäre. Die Wulffs gehen durch dieselbe Tür, durch die sie gekommen sind, und versammeln sich im angrenzenden Langhans-Saal mit ihren Mitarbeitern. Hier hatte 2010 Wulffs Vorgänger Horst Köhler seinen Rücktritt verkündet. Es soll Applaus für Wulff gegeben haben, einige Mitarbeiter hätten sogar geweint, heißt es von Anwesenden. Die Journalisten packen zusammen. Einige warten vor den Toren von Schloss Bellevue auf die Abfahrt von Wulffs Limousine, andere eilen zum Kanzleramt.
11.31 Uhr: Angela Merkel ist nüchtern und sachlich, wie man sie kennt, als sie auf Wulffs Rücktritt reagiert. Mit "größtem Respekt und tiefem Bedauern" habe sie diesen Schritt aufgenommen, sagt sie. Schnell hat sie ihre wenigen Sätze hinter sich gebracht, Fragen sind nicht erlaubt. Zeitgleich werden die ersten Namen für die Nachfolge diskutiert.
12 Uhr: Die Reaktionen auf den Rücktritt sind geteilt. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), der als amtierender Bundesratspräsident Wulff nun die nächsten vier Wochen bis zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten vertreten wird, zollte Wulff "ungeteilten Respekt". Niemand habe sich "diesen bedauerlichen Gang der Dinge gewünscht. Aber alle sind jetzt dazu aufgerufen, dieser Situation gerecht zu werden und mit Achtung vor dem Amt des Bundespräsidenten zu handeln." SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles ist "erleichtert über die Entscheidung von Christian Wulff. Dieser Schritt war notwendig und längst überfällig." Der schleswig-holsteinische FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki, Spitzenkandidat für den Landtagswahlkampf im Mai, sagte dem Abendblatt: "Die schwarz-gelbe Regierung wird von dem Rücktritt Christian Wulffs keinen Schaden nehmen, denn Christian Wulff war ein Problem der gesamten politischen Klasse in Berlin, nicht nur ein Problem der Koalition."
13 Uhr: Unbemerkt von den wartenden Journalisten und offenbar im Privatwagen eines Mitarbeiters verlässt das Ehepaar Wulff ein letztes Mal Schloss Bellevue und lässt sich in seine Villa in den Berliner Stadtteil Dahlem zurückfahren. Christian Wulff ist jetzt kein Politiker mehr. In Berlin-Mitte beginnt zeitgleich die Bundespressekonferenz. Dreimal in der Woche kommen die Sprecher von Kanzlerin und Ministerien mit den Hauptstadtjournalisten zusammen. Regierungssprecher Steffen Seibert hat dem Statement der Kanzlerin vom Vormittag allerdings nichts hinzuzufügen. Wann Merkel von Wulffs Rücktrittsabsicht erfahren hat? Ebenfalls Schweigen. Für den abgesagten Italienbesuch soll aber alsbald ein neuer Termin gefunden werden.
14.34 Uhr: In Perus Hauptstadt Lima erfährt Außenminister Guido Westerwelle auf einem Staatsbesuch vom Rücktritt Wulffs. "Ich respektiere die Entscheidung des Herrn Bundespräsidenten", sagte der FDP-Politiker.
Wenig später ringt sich auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister zu einer Erklärung durch und bekundet "vollen Respekt" für die Entscheidung Wulffs und lobt die Bilanz seiner politischer Arbeit. "Als niedersächsischer Ministerpräsident von 2003 bis 2010 hat Christian Wulff sehr viel Positives für Niedersachsen geleistet."
15.53 Uhr: Die nächste Eilmeldung: Da für Wulff nur noch am Freitag die Immunität gilt, kündigt die Staatsanwaltschaft Hannover an, ab Sonnabend gegen ihn zu ermitteln. Kurz zuvor hat Wulff in einem Dienstfahrzeug seine Villa in Berlin-Dahlem verlassen. Das Ziel: Niedersachsen.
18 Uhr: In Berlin gibt es erste Gespräche der schwarz-gelben Parteispitzen um einen Nachfolger, die am Sonnabend fortgesetzt werden sollen. Christian und Bettina Wulff kommen derweil in ihrem Einfamilienhaus im niedersächsischen Großburgwedel an. Es ist ein denkwürdiger Ort für das Ziel dieser allerletzten Dienstfahrt. Es war die umstrittene Privatfinanzierung ebenjenes gelben Klinkerbaus, die die gesamte Affäre um den nun ehemaligen Bundespräsidenten ins Rollen gebracht hatte - und damit den Anfang vom Ende der Karriere des Christian Wulff.