Kanzlerin Angela Merkel kommt innerhalb von zwei Jahren der zweite Bundespräsident abhanden. Nun will sie einen Kandidaten für alle Parteien.
Hamburg/Berlin. Um kurz vor 11.30 Uhr stellt Angela Merkel auf der Pressebühne im Kanzleramt auf Kameramodus um. Die Miene steif, Mundwinkel unten, die Augen blicken konzentriert in Richtung Journalisten oder ein wenig über ihr Publikum hinweg. Sie beginnt ihr Statement zum Rücktritt des Bundespräsidenten wie eine "Tagesschau"-Sprecherin die Meldung über eine Haushaltsdebatte im Bundestag. Professionell. Und nüchtern. "Guten Tag."
Sie nehme Wulffs Schritt mit "größtem Respekt und tiefem Bedauern" auf. Wulff habe sich voller Energie für ein modernes Deutschland eingesetzt und deutlich gemacht, dass die Stärke des Landes in seiner Vielfalt liege. Dieses Anliegen werde mit seinem Namen verbunden bleiben. Sie danke Wulff und seiner Frau Bettina dafür, Deutschland im Ausland würdig vertreten zu haben. "Dafür gebührt Ihnen unser aller Dank." Knapp, wenig herzlich, aber ernst. So viel fürs Protokoll.
Es sind andere Sätze der Kanzlerin, die aufhorchen lassen. Als erster dieser: "Mit seinem Rücktritt stellt Bundespräsident Wulff nun seine Überzeugung, rechtlich korrekt gehandelt zu haben, hinter das Amt zurück, hinter den Dienst an den Menschen in unserem Land." Rückhalt ist das nicht, die Kanzlerin geht auf Distanz, leise, aber entschieden. Sie betont in ihrer Rede das kurze Wort "seine" vor Überzeugung. Man kann darin auch heraushören, dass Merkel nicht mehr die Überzeugung teilt, Wulff habe korrekt gehandelt.
+++Die Rücktrittserklärung des Bundespräsidenten im Wortlaut+++
+++Live: Christian Wulff ist zurückgetreten+++
Dann kommt Merkel auf die Frage der Nachfolge. Die Koalition werde nun beraten. Noch am Freitagabend kam Merkel mit CSU-Chef Horst Seehofer und dem Vorsitzenden der FDP, Philipp Rösler, zusammen. Danach, hob die Kanzlerin in ihrer Rede hervor, werde die Koalition "unmittelbar auf die Sozialdemokraten und die Grünen zugehen". Es sei das Ziel, "in dieser Situation einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahl des nächsten Bundespräsidenten" vorschlagen zu können. "Ich danke Ihnen." Dann Abgang nach rechts.
Im Ausdruck der Kanzlerin lassen sich auch Angespanntheit und Gereiztheit ablesen, nicht viel, aber auffällig für Merkel. Wulff war immer auch ihr Bundespräsident. Der Freitag ist auch für sie eine Niederlage. Merkel hatte Wulff auch deshalb ins höchste Staatsamt geholfen, um ihn als Konkurrenten und Kritiker in der CDU loszuwerden. Die Wahl in der Bundesversammlung gelang erst im dritten Anlauf, damals galt Joachim Gauck vielen als der bessere Präsident.
Horst Köhler war ein Jahr nach seiner Wiederwahl zurückgetreten, für Wulff ist schon nach 20 Monaten im Amt Schluss. Einen weiteren Fehlgriff bei der Kandidatenauswahl kann Merkel sich nicht leisten. Also geht die Kanzlerin diesmal offensiv auf die Opposition zu. Wird es am Ende doch Joachim Gauck? Viele Politiker fordern zwar nicht direkt die Kandidatur des früheren DDR-Bürgerrechtlers und Pastors, aber sie sagen Sätze, die nur zu ihm passen. So funktioniert die Kandidaten-Kür im Berliner Politbetrieb. Durch Subtext. Es müsse jetzt ein Kandidat oder eine Kandidatin gefunden werden, die sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen könne, sagte Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Parteichef Sigmar Gabriel will eine "überparteiliche" Person als Kandidaten. Andere sind direkter: "Gauck wäre der bessere Bundespräsident gewesen, dass wissen wir heute mehr denn je, und er wäre immer noch geeignet", sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles.
Gauck genießt auch bei Liberalen hohes Ansehen und findet dort Unterstützer. Es dürfe jetzt nicht um Parteitaktik bei der Suche nach einem Nachfolger gehen, hob der FDP-Fraktionschef in Schleswig-Holstein, Wolfgang Kubicki, hervor. "Die Menschen brauchen vor allem wieder Vertrauen in das Amt des Präsidenten - und das bekommen sie mit einem Kandidaten Joachim Gauck. Ich würde ihn sofort wählen", sagte er dem Abendblatt. Doch eine Kandidatur Gaucks wäre auch für Merkel ein Eingeständnis, dass dieser schon 2010 die bessere Wahl gewesen wäre. Zumal Gaucks Verhältnis zur Kanzlerin als schwierig gilt. "Wir mögen uns, aber wir sagen Sie zueinander", sagte er einmal. Es gibt wohlwollendere Worte.
+++Staatsanwaltschaft hat Aufhebung von Wulffs Immunität beantragt+++
+++Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft im Wortlaut+++
Und es gibt neben Gauck viele weitere Namen, die jetzt kursieren. Doch die, die da genannt werden, sind sämtlich wenig "überparteilich". Merkel hat eine Allzweckwaffe, die schon einmal einsprang, als Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zurücktrat: Thomas de Maizière. Gemeinsam mit dem gesundheitlich angeschlagenen Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) gehört er zu den Schwergewichten im Kabinett. Er gilt als sorgfältiger Arbeiter, fair, sachlich und integer. Und er ist bei den Wählern beliebt. Doch fraglich ist, ob SPD und Grüne die Kandidatur unterstützen.
Das gilt auch für Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Sie war schon 2010 für kurze Zeit Favoritin für das Präsidentenamt. Bis Wulff kam. Von der Leyen hat sicher noch Ambitionen auf ein höheres Amt.
Auch Norbert Lammert taucht jetzt bei den Namen möglicher CDU-Kandidaten auf. Als souveräner und mitunter widerborstiger Bundestagspräsident hat er sich Anerkennung über Parteigrenzen hinweg erworben. Mehr als einmal fuhr er der Kanzlerin in die Parade. So stimmte er 2009 gegen die Hotel-Steuerentlastung. Sollte er Präsident werden, dürfte er für Merkel unbequem sein.
Ebenso wie mögliche Kandidaten aus den Oppositionsparteien. Die SPD hatte Andreas Voßkuhle schon einmal zum Präsidenten gemacht - vor zwei Jahren als Obersten Verfassungsrichter. Voßkuhle widerspricht nicht, wenn ihm Nähe zu "sozialdemokratischen Grundgedanken" nachgesagt wird. Er legt aber Wert auf die Feststellung, er sei "kein Lagerbewohner".
Das ist bei Katrin Göring-Eckardt womöglich anders. Seit fünf Jahren ist die Grünen-Politikerin Vizepräsidentin des Bundestags. Ihre Nominierung wäre eine Überraschung, Schwarz-Gelb wird eine grüne Präsidentin verhindern wollen. Doch Göring-Eckardt hat auch Pluspunkte: Sie ist Frau, ostdeutsch und Präses der Synode der Evangelischen Kirche - eine Kandidatur wäre ein wichtiges Signal für die Gleichstellung der Frau und ein geeintes Deutschland.
Die CSU will keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Und die Linkspartei soll nach Merkels Meinung gar nicht erst einbezogen werden in die Auswahl eines Kandidaten. Das stellte sie in ihrer Rede klar. Empört reagierte Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi. "Ich hoffe, zugegeben etwas naiv, dass es nur ein Versehen der Bundeskanzlerin war, die Linke nicht bei der Kandidatensuche zu nennen", sagte Gysi dem Abendblatt. "Wenn wir das Vertrauen in das Amt wiederherstellen wollen, müssen wir das kleine Wunder vollbringen, gemeinsam eine Kandidatin oder einen Kandidaten zu finden, der von der CSU bis zur Linken akzeptiert wird."
Egal, wer es werden soll, die Berliner Politik hat wenig Zeit. Innerhalb von 30 Tagen braucht Deutschland ein neues Staatsoberhaupt.