Wie die EU-Regierungschefs in einem Wettlauf gegen die Zeit über die Rettung des Euro verhandelten - und warum sich Silvio Berlusconi aus dem Saal schlich
Brüssel. Um kurz nach 4 Uhr am Donnerstagmorgen geht endlich ein Blitzlichtgewitter los. Die Kanzlerin kommt mit gewohnt kräftigem Schritt, zügig setzt sie sich rechts von Regierungssprecher Steffen Seibert an das Mikrofon. Angela Merkel lächelt, und dabei werden ihre Augen noch kleiner. Das Make-up hat den Kampf gegen eine erschöpfte Blässe verloren, aber die deutsche Regierungschefin ist hellwach. Gleich im ersten Satz gibt es dafür den wohl wichtigsten Grund: "Mir ist - ich glaube, das ging jedem so - sehr bewusst, dass die Welt heute auf diese Beratungen geschaut hat und dass die Welt sehen möchte, wie wir uns in unserer tiefen europäischen Krise bewähren." Vielleicht wird dieser frühe Morgen des 27. Oktober 2011 letztlich aber nicht in die Annalen eingehen, weil ein weiteres Mal die gemeinsame Währung aufgefangen wurde, sondern weil Europa ein großes Stück deutscher geworden ist. Beinahe als "Kollateralschaden" der Krise führt der Weg geradewegs in die Tiefen der EU - und damit zu strengeren Regeln für alle. Die Chancen sind nicht ganz schlecht, dass sie in Zukunft auch greifen. Merkel nimmt ihre persönliche europapolitische Erfolgsbilanz mit nach Berlin: die Beteiligung der Banken am Schuldenschnitt für Griechenland und einer permanenten EU-Überwachung Athens. Das Versprechen, dass die Europäische Zentralbank weiter unabhängig entscheidet und damit im deutschen Sinne die Preisstabilität der Euro-Zone garantiert. Und strenge Reform-Hausaufgaben für die schwächelnden EU-Länder im Süden.
Die Regierungschefin liest von ihrem Block ab, was zur gleichen Zeit aus den Druckern der Ratspräsidentschaft rattert: die Punkte des "Gesamtpakets", um das in dieser Nacht in den gesichtslosen Sälen und strikt abgesicherten Sitzungsräumen des Ratsgebäudes verdammt hart verhandelt wurde.
Das zwölfstündige Ringen beginnt, als Merkel, direkt von der EFSF-Abstimmung im Bundestag kommend, am Hintereingang des Justus-Lipsius-Gebäudes vorfährt. Die Kanzlerin gibt nur ein austariertes Statement ab: "Die Arbeit ist noch nicht getan, aber ich glaube, alle reisen heute hier mit dem Ziel an, ein ganzes Stück weiterzukommen." Ein kurzes Lächeln, dann verschwindet die deutsche Kanzlerin, von der Europa und die Welt zuallererst Zusagen und damit Lösungen erwarten, in den dunklen Fluren.
Zunächst trifft sie die Französin Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds. Sie loten aus, wo die Verhandlungen mit den Banken stehen. Diese Frage wird, das wissen alle, zur Schlüsselfrage des Gipfels. Kurz danach ein weiteres "Bilateral", diesmal mit Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy. Frankreich, das wird immer klarer, kann nicht ohne Deutschland. Entsprechend sagt Sarkozy kein Wort, als er kurz vor dem Treffen mit Merkel mit seiner Limousine, die als Einzige eine nationale Standarte schmückt, den Rat erreicht. Gleich danach fährt der "Cavaliere" vor. Ein Bodyguard öffnet die schwere Panzertür, dann streckt sich der 76-jährige Silvio Berlusconi aus dem Fond, spannt den Rücken und drückt eine in dunkelrotes Leder gebundene Mappe an die breite Brust. Ist das der sagenumwobene 15-seitige Brief, den ihm Merkel und Sarkozy am vergangenen Sonntagmorgen beim Frühstück aufgezwungen haben? Der italienische Premier steht unter gewaltigem Druck, sein Land ist "too big to fail". Aber der Schuldenstand der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone ist bedrohlich.
Langsam trudeln alle 27 ein. Zwei Stunden später als geplant, gegen 21 Uhr, ziehen sich die Euro-Chefs mit Ratspräsident Herman Van Rompuy zum Dinner im achten Stock zurück. Die Zeit drängt, Tokios Börse öffnet um 2 Uhr, Hongkong um halb vier. Noch immer gibt es keine Einigung mit den Banken. Auf der anderen Straßenseite, im Gebäude der EU-Kommission, verhandelt Vittorio Grillo, der den Wirtschafts- und Finanzausschuss leitet, mit Charles Dallara, Geschäftsführer des Bankenverbands International Institute of Finance (IIF). Ohne Ergebnis. Um kurz vor Mitternacht wird der IIF-Mann ins Ratsgebäude gebeten: Merkel, Sarkozy und Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker wollen mit ihm in sehr kleiner Runde reden. Bei seinem Eintreffen erklärt Dallara: "Es gibt keine Einigung über irgendeinen griechischen Deal oder einen spezifischen Schuldenschnitt." Man sei aber "offen für einen Dialog auf der Suche nach einer freiwilligen Vereinbarung". Die Fronten bleiben verhärtet.
In der Zwischenzeit hat sich Berlusconi aus dem Saal geschlichen und per Handy live in eine der populärsten TV-Sendungen des Landes geschaltet. "Frau Merkel kam zu mir, um mir ihre Entschuldigung anzubieten und ausdrücklich zu sagen, dass sie keine Absicht habe, unser Land zu beleidigen", verkündet der Premier. Gemeint ist das süffisante Lächeln, das Merkel am Sonntag zuvor nicht unterdrücken konnte, als sie nach Italiens Reaktion auf ihre Forderung nach schärferem Sparen gefragt wurde. Sprecher Seibert dementiert per Twitter: "Keine Entschuldigung der Kanzlerin." Dazu gebe es keinen Anlass.
Um kurz vor 3 Uhr wird IIF-Vertreter Dallara erneut in den Rat gebeten. Die Finanzmarkt-Uhr tickt. Die Botschaft an die Banken ist ganz klar: Entweder sie steigen jetzt freiwillig in den Schuldenschnitt ein - oder die Euro-Chefs zücken die große Keule. "Mit Banken muss man manchmal laut werden", beschreibt Juncker die Stimmung im Raum. "Es gab nur ein Angebot, das war unser letztes Wort. Und das haben wir angstfrei vorgebracht", wird die Kanzlerin später sagen. Kurz darauf blitzen Eilmeldungen im Sekundentakt auf, es ist 3.20 Uhr: "Euro-Gipfel einig über Schuldenschnitt." Der gordische Euro-Knoten, er ist zerschlagen - zumindest für den Moment.