Am Sonntag wählt die Metropole der Gegensätze ein neues Abgeordnetenhaus. Zeit für eine Annäherung an die deutsche Hauptstadt - und ihre vielen Gesichter.
Einen "sandigen, rauen, urbanen Existenzialismus" hat das Londoner Netzwerk "Hub Culture" den Berlinern gerade bescheinigt. Aufregender, "spaßiger" als dort sei es in Europa zurzeit nirgendwo.
Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall nehmen die Berliner solche Komplimente mit der Gelassenheit derer entgegen, die viel durchgestanden und hinter sich gelassen haben. Die Fremdheit zwischen Ost und West. Den rasanten Umbau der Stadt und die damit verbundenen alltäglichen Überforderungen. Das von den Tugendwächtern der alten Bonner Republik geschürte Misstrauen, nach dem Regierungsumzug werde das vereinte Deutschland schon noch sein preußisch-blaues Wunder erleben.
Lange haben die Berliner ja nur die negativen Folgen der Einheit gesehen: den Zustrom aus dem Osten, das Anwachsen der Kriminalität, das kräftezehrende Verkehrschaos, das Ende einer großzügigen Alimentierung, die jahrzehntelang wie ein warmer Regen auf die Stadt niedergegangen war. Damals hatten die Berliner zuweilen Mühe, aus ihrem Selbstmitleid herauszukommen und sich klarzumachen, dass es realistisch betrachtet ja wirklich nur aufwärtsgehen konnte.
Sie sind mit ihren Aufgaben gewachsen. Sie haben sich - nicht zuletzt dank der Impulse, die von den zu Tausenden zugezogenen Wahl-Berlinern ausgingen - der Zukunft zugewandt. Jenseits einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und ständiger Haushaltsmiseren. Aus einer aktuellen Studie geht sogar hervor, dass nirgendwo in Deutschland optimistischer gedacht wird als in Berlin. Und jetzt passt er wieder, der berühmte Berliner Plusquamperfekt, dem in den Mauerzeiten etwas Resignatives anhing. Der Berliner ist ja nicht, sondern er war immer gerade irgendwo gewesen. Dieser Gebrauch des Plusquamperfekts ist einzigartig in Deutschland und philosophisch nur damit zu erklären, dass es der Natur des Berliners entspricht, ganz und gar in der Gegenwart zu leben.
Erstaunlicherweise entstammt das politische Personal, das sich an diesem Wochenende zur Wahl stellt, noch komplett der grauen Vergangenheit. Einer fernen Zeit, in der Eberhard Diepgen (CDU) die Stadt regierte. Der Marathonmann unter Berlins Bürgermeistern. Damals sind Klaus Wowereit (SPD), Renate Künast (Grüne) und Harald Wolf (Die Linke, früher PDS) Fraktionsvorsitzende ihrer Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus gewesen, und Frank Henkel, der Spitzenkandidat der CDU, leitete Diepgens Büro. Die Hauptstadt scheint seltsamerweise keine neuen politischen Talente hervorzubringen. Dass die Linke mit ihrem alten Personal aufwartet, ist dabei noch am wenigsten verwunderlich, schließlich ist sie auf ihre Ostberliner Hochburgen angewiesen, und da schätzt man keine Experimente. Aber dass die Grünen auf Künast zurückgreifen mussten, die vor zehn Jahren in den Bundestag wechselte, und dass die CDU keinen anderen finden konnte als den blassen Herrn Henkel, lässt dann doch tief blicken. Landespolitik und Lebensgefühl haben sich in Berlin irgendwann voneinander abgekoppelt. Das politische Personal wirkt seltsam gestrig, und daran ändert auch der Umstand nichts mehr, dass mit Klaus Wowereit seit 2001 ein bekennender Schwuler an der Spitze des Senats steht. Das ist längst kalter Kaffee. Jedenfalls für die Berliner.
Die sind schon froh, dass sie sich das Finanzgejammer der rot-roten Landesregierung nicht mehr anhören müssen. Damit ist Schluss, seit Wowereit vor fünf Jahren mit seiner Forderung, der Bund möge einen Teil der Schulden begleichen, vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist. Und ganz so schlecht geht es der Stadt ja nicht, was man daran erkennen kann, dass es in den letzten Wintern keine suppenterrinengroßen Schlaglöcher mehr gab und dass jetzt sogar die Avus erneuert wird. Oder an der restaurierten Siegessäule, auf der die frisch vergoldete Viktoria leuchtet. Oder an den großartig wiederhergestellten großen Museen. Oder an dem milliardenschweren Großflughafen, der seiner Vollendung entgegengeht. Wowereits Bemerkung, Berlin sei "arm, aber sexy", ist überholt.
Die fantastischen Bilder, die während der Fußballweltmeisterschaft 2006 von Berlin aus um die Welt gingen, haben der Stadt einen enormen internationalen Schub gegeben. Nirgendwo, das war die Botschaft, lässt sich besser und entspannter feiern als in der ehemals geteilten Stadt.
Seitdem ist Berlin absolut hip. Der sandige, raue, urbane Existenzialismus wirkt wie ein Magnet auf Menschen aus aller Welt. Genauso wie das Leben-und-leben-Lassen, das die Berliner schon immer praktiziert haben. Kein Wunder, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man in Kreuzberg oder Neukölln eine kleine Wohnung mit Ofenheizung für weniger als 200 Euro kriegen konnte. Der Trend zur Luxussanierung hält an, und die Mieten haben entsprechend angezogen. Es gibt Berliner, die sich das Leben in Prenzlauer Berg nicht mehr leisten können. Die Entwicklung vom Arbeiterviertel zum bevorzugten Wohnquartier der Jungen und Kreativen hat zu einem Bevölkerungsaustausch geführt. Mehr als zwei Drittel derer, die vor der Wende hier zu Hause waren, sind schon weggezogen.
In den Bezirken Mitte und Friedrichshain ist dieser Verdrängungsprozess, den die Soziologen Gentrifizierung nennen, ebenfalls im Gange.
Mit großer Sorge verfolgt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auch den anhaltenden Trend, dass Mietwohnungen erst in Eigentums- und anschließend in "Ferienwohnungen" umgewandelt werden. Wohnungen, die dann tageweise untervermietet werden. Die Kreuzberger haben von diesem Geschäftsmodell, das für immer mehr nächtliches Remmidemmi sorgt, so die Nase voll, dass sie den einfallenden Party-Touristen mit unfreundlichen Aufklebern begegnen; und im Senat wird bereits eine Neuauflage des ehemaligen Zweckentfremdungsverbots für Wohnungen geprüft.
Trotzdem ist Berlin im Vergleich zu anderen Weltstädten nach wie vor ein billiges Pflaster. Selbst in Mitte gibt es noch Restaurants, in denen man sich für sieben, acht Euro satt essen kann. Von so was kann man in Paris, London oder New York nur träumen.
Berlin hat sich nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und der Stagnation der Mauerjahre noch einmal selbst erfunden. Frei nach Brecht, der mal gemeint hat, das Talent zur Veränderung unterscheide Berlin von anderen Städten: "Was heute schlecht ist, kann morgen besser werden."
Die Berliner haben dieses Talent exemplarisch unter Beweis gestellt. Inzwischen bröckeln sogar Vorurteile, die lange in Stein gemeißelt schienen. Alte Westberliner verharren nicht mehr bockig in den Lokalitäten rund um den Stuttgarter Platz, den sie liebevoll "Stutti" nennen, sondern sie stoßen auch mal in die Rosenthaler Straße vor oder in die Kastanienallee. Und selbst Hardcore-Ostberliner können inzwischen zugeben, dass die Berliner Philharmoniker das Spitzenorchester der Stadt sind.
Andererseits gehört das Verharren im eigenen Kiez offenbar zu den Berliner Eigenheiten. Auch vor dem Krieg hat sich ein Wilmersdorfer so gut wie nie nach Friedrichshain begeben. Spätestens am Alex war Schluss mit den Exkursionen. Und umgekehrt zog es die Lichtenberger nicht nach Schöneberg oder Zehlendorf. Vermutlich war es gar kein Desinteresse, vermutlich lag es einfach an der Größe der Stadt.
Nach dem Mauerfall waren es vor allem die Wahl-Berliner, die als Verbindungsleute fungierten. Und bis heute sind es die Jungen, die sich über alte Grenzen hinwegsetzen und neues Terrain erschließen. Oft in den düster dreckigen Ecken, von denen Berlin immer noch mehr hat, als jede andere westliche Metropole. Und oft mit dem Erfolg, dass die Location irgendwann weltberühmt wird. Wie das "Berghain", das vor zwei Jahren auf Platz eins der Klubszene gewählt wurde.
Apropos Teilung: Als am Donnerstag im Tränenpalast an der Friedrichstraße die Dauerausstellung "GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung" eröffnet wurde, wurde einmal mehr öffentlich beklagt, dass von der Mauer kaum noch etwas übrig geblieben sei. Die Berliner hätten sie "besinnungslos beseitigt", hieß es in einer Zeitung.
Stimmt. Es gibt nur noch letzte Reste an der Bernauer Straße und ein paar Hinterlandmauern. Warum auch nicht? Die Berliner hatten 1989 für alle Zeit genug von dieser Monstrosität. Sie haben sie zu Recht abgetragen. Ihnen langt die Doppelreihe von Pflastersteinen, die den einstigen Mauerverlauf heute in ihrer Stadt markiert, völlig. Sie finden übrigens auch den Disney-Rummel am ehemaligen Checkpoint Charlie entbehrlich.
Die Berliner sind eben unsentimental. Dabei sind sie hinter ihrer zuweilen ruppigen Fassade überaus herzlich. Und gemütvoll! Wer mit einem Berliner Krach anfängt, kann es erleben. "Wohl lange nich mehr mit 'n vabundenen Kopp aus 'n Charité-Fenster jekiekt, wa?", wird er teilnehmend fragen. Oder ob man schon mal überlegt hätte, wie einem ein "Jlasooge" stehen würde? Dem wunderbar trockenen Witz, den der echte Berliner jederzeit entfalten kann, muss man einfach erliegen.
Allerdings ist nicht immer mit ihm zu spaßen. Einer, der davon ein Lied singen kann, ist der amtierende Zoodirektor. Der hat mit der Mitteilung für Empörung gesorgt, dass er Knut zum Ausstopfen gegeben habe. Und mit der herzlosen Bemerkung, dass er "schon einen neuen Eisbärenmann besorgen" werde. Diesen Herrn Blaszkiewitz würden die Berliner gern mal "mit'n jefrorenen Waschlappen totstechen", wie man hier zu sagen pflegt.
Das alles ist Berlin. Eine Stadt im Fluss, in der sich das Schöne, Großzügige, Elegante neben dem Hässlichen, Prolligen und Kaputten findet. Wo jeder sein kann, was er will, egal, ob Spinner oder Spießer. Wo einem die Menschen, an denen man vorbeigeht, in die Augen schauen, wo aber keiner guckt, wenn einer beschlossen hat, mal eben im Schlafanzug in die U-Bahn zu steigen. Eine Stadt, die in den Bombardements des Zweiten Weltkrieges fast in die Knie gegangen ist und anschließend 40 Jahre lang unter Kuratel gestanden hat. Eine Stadt, die jetzt endlich wieder erwachsen geworden ist.
Berlin, hat Heinrich Heine einst geschrieben, sei eigentlich gar keine Stadt - Berlin gebe "bloß den Ort dafür her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele von Geist, versammeln". Heine konnte nicht ahnen, dass das 170 Jahre später immer noch wahr sein würde.
Tatsächlich ist Berlin bis heute eine Stadt, die jeden mit offenen Armen aufnimmt, der sich mit ihrer Größe und ihren Verwerfungen in Einklang bringen will. Gesellschaftlichen Dünkel oder Klassenschranken kennt man hier nicht.
Als Berliner muss man nicht geboren sein - Berliner kann jeder werden.