Die Gegner und Befürworter debattieren über die Zukunft des Bahnprojekts Stuttgart 21. Protest-Zaun kommt ins Museum, aber der Widerstand bleibt.
Stuttgart/Hamburg. Der Zaun um den Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs steht bald im Museum. Vorsichtig schnitten gestern Mitarbeiter des Hauses für Geschichte die Protestplakate ab. Brecht-Zitate, verwelkte Blumen, Teddys, Mappus-Schmähungen. Am Anfang war der Zaun, an den die Gegner von Stuttgart 21 ihre Parolen hefteten. Im August war die Absperrung aufgestellt worden, noch bevor die Abrissarbeiten begannen. An diesem Zaun sammelte sich der Widerstand. Den Demonstrationen folgten Polizeieinsätze und 70 Stunden Schlichtung live im Fernsehen. Der Metallzaun ist Sinnbild geworden für das Scheitern einer Basta-Politik. Wenn sich Gegner und Befürworter in einem Punkt einig sind, dann in der Symbolwirkung dieser 125 Meter.
Geht es aber nach den Gegnern von Stuttgart 21, ist ihr Protest noch nicht museumsreif. Sie wollen weiter Widerstand gegen Stuttgart 21 leisten. Auch die Schlichtung Heiner Geißlers konnte keine Weihnachtsruhe ins Schwabenland bringen. Gestritten wird vor allem über die zusätzlichen Kosten durch die Nachbesserungen, die Geißler in seinem Spruch gefordert hat. In einer mehrmonatigen Simulation soll die Bahn nachweisen, dass ein Tiefbahnhof zu Spitzenzeiten um 30 Prozent leistungsfähiger ist als der alte Kopfbahnhof. Ein unabhängiges Ingenieurbüro soll nach Angaben der Bahn die Simulation bewerten. "Es ist sehr ungewöhnlich, dass man zehn Jahre vor Inbetriebnahme einer Eisenbahninfrastruktur einen kompletten - fiktiven - Fahrplan konstruiert", sagte Volker Kefer, Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn, dem Hamburger Abendblatt. "Sollte sich dennoch herausstellen, dass das Projekt punktuell angepasst werden muss, werden wir das in den Planungen berücksichtigen", so Kefer. Eine Abschätzung der Kosten vor den Ergebnissen des Stresstests sei aber reine Spekulation. Bei der Umsetzung des Schlichterspruchs erwarte die Bahn "ein konstruktives und friedliches Verhalten aller", hob Kefer hervor. Doch von schneller Umsetzung wollen die Gegner von Stuttgart 21 wenig wissen. "Der Schlichter hat unter anderem einen Stresstest und ein neuntes und zehntes Gleis gefordert", sagte Winfried Hermann, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Das erfordere ein neues Planfeststellungsverfahren, das zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen könne, sagte Hermann dem Abendblatt. "Setzt man alle Geißler-Forderungen um, kostet das mindestens 500 Millionen bis eine Milliarde Euro. Stuttgart 21 ist daher meiner Meinung nach tot", hob er hervor.
Die baden-württembergische Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) hat ein Scheitern des Bauprojekts aufgrund zusätzlicher Kosten ausgeschlossen. Gönner sagte im Bayerischen Rundfunk, sie habe Verständnis dafür, dass "die Kritiker dies als ihren letzten Strohhalm nehmen". Man habe gesehen, dass "jetzt Horrorzahlen genannt werden, die aber weit weg von der Realität sind".
Einerseits hat die Schlichtung die Haltung der Baden-Württemberger zu dem Milliarden-Bauvorhaben klar verändert. Nach einer Umfrage im Auftrag des Südwestrundfunks und der "Stuttgarter Zeitung" befürworten jetzt 54 Prozent der Bürger das Bahnprojekt. 38 Prozent sind dagegen. Vor zwei Monaten waren noch 54 Prozent gegen und 35 Prozent für den Umbau des Kopfbahnhofs.
Andererseits kochen nur wenige Tage nach der Schlichtung die Emotionen in Stuttgart schon wieder hoch. Der Unions-Fraktionsvize Arnold Vaatz hatte wegen des anhaltenden Grünen-Widerstands gegen Stuttgart 21 gesagt, die Grünen meinten, über den Ergebnissen der repräsentativen Demokratie zu stehen. "Das ist der übliche Anspruch von totalitärem Denken, den wir auch aus DDR-Zeiten kennen." Die Grünen forderten eine Entschuldigung.
Doch nicht nur über die Folgen des Schlichterspruchs wird in Stuttgart debattiert. Eine Protokollnotiz des Staatsministeriums hat im Untersuchungsausschuss des Landtags für Aufregung gesorgt. Demnach hat Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) vor dem harten Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner am 30. September ein "offensives Vorgehen gegen Baumbesetzer" verlangt. Die Opposition sieht darin einen Beleg für den Einfluss der Landesregierung auf den Einsatz. Der stellvertretende Einsatzleiter der Polizeiaktion, Norbert Walz, wies eine Einflussnahme der Politik auf die Polizeitaktik klar zurück.