Heute will Geißler seinen Schiedsspruch verkünden. Doch der Streit um Stuttgart 21 wird weitergehen. Mappus appelliert an die Grünen.
Stuttgart/Hamburg. 60 Stunden Verhandlung, acht öffentliche Sitzungen, alle live im Fernsehen. Heute um zehn Uhr beginnt das große Finale: Seit Wochen wird gerätselt, welche Empfehlung Heiner Geißler am Ende der Schlichtung zu Stuttgart 21 geben wird. Er selbst sagt, es wird der schwierigste Spruch seiner Laufbahn. Seine Entscheidung ist auch ein Kapitel der deutschen Demokratiegeschichte.
Noch einmal haben sich am Tag vor dem Schiedsspruch Gegner und Befürworter des Bauprojekts positioniert. "Ich bin bereit, über alle Änderungsvorschläge unterhalb des Baustopps zu reden und rechne mit zahlreichen Veränderungs- und Verbesserungsvorschlägen", sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus dem Hamburger Abendblatt. "Von den Grünen würde ich bei möglichen Mehrkosten dann aber auch erwarten, dass sie diese Vorschläge mittragen." Mappus lobte ausdrücklich den Schlichter Heiner Geißler. Er habe "unserer Demokratie einen Dienst getan", hob Mappus hervor. In der Schlichtung und im Schlichterspruch liege eine große Chance.
Als Geißler sich gestern Abend noch einmal mit den Befürwortern von Stuttgart 21 traf, zogen die Gegner des Projekts auf ihrer 54. Montagsdemonstration durch die Landeshauptstadt. Auch die Umweltschutzorganisation BUND gehört zu dem Aktionsbündnis gegen das Bahnprojekt. "Vielleicht ist Heiner Geißler mutig und spricht sich doch noch für einen Baustopp bis zur Landtagswahl aus", sagt Brigitte Dahlbender, Landesvorsitzende des BUND in Baden-Württemberg, dem Abendblatt. Bei unerwünschten Kompromissen werde der Protest weitergehen.
Doch eine Einigung scheint angesichts der verhärteten Fronten unmöglich. Geißler selbst hat das bereits eingeräumt. Und eine Volksabstimmung hält der Jurist aus rechtlichen Gründen für unrealistisch. SPD und Grüne hatten eine Volksabstimmung in Baden-Württemberg gefordert, waren damit aber am Widerstand der Landtagsmehrheit aus CDU und FDP gescheitert. Kaum vorstellbar ist auch, dass Geißler zum endgültigen Baustopp für die 4,1 Milliarden Euro teure Tieferlegung des Hauptbahnhofs und dessen Anbindung an die geplante Schnellbahntrasse aufrufen wird.
Aus Sicht des Freiburger Politikwissenschaftlers Ulrich Eith ging es bei den wochenlangen Schlichtungsgesprächen vor allem darum, die emotionsgeladene Debatte zu versachlichen. "Die Öffentlichkeit sollte durch diese medienwirksame Schlichtung am Streit um Stuttgart 21 beteiligt werden, damit die Debatte um die Lösungen durch die Verhandlungspartner nun wieder sachlicher geführt wird", sagte Eith dem Abendblatt.
Was bleibt vor dem Schlichterspruch ist die Spannung vor dem Stuttgarter "High Noon" - und eine Reihe von Verbesserungen, die Geißler sowohl Gegnern als auch Befürwortern vorschlagen wird. Er selbst hat schon darauf hingewiesen: Behindertenfreundlicher soll der neue Bahnhof werden, Fluchtwege für Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen sollen benutzbar sein. Zusätzliche Gleise könnten vermeiden, dass ICE und S-Bahnen gleiche Trassen nutzen müssen. Auf den Flächen, die durch den Tiefbahnhof frei werden, muss das Wohnen auch für Familien mit Kindern erschwinglich sein. Geißler will kein "Klein-Manhattan" im Schwabenland.
Aus Sicht der Grünen im Landtag wäre mindestens eine Milliarde Euro zusätzlich nötig, um die Kapazitäten des Tiefbahnhofs zu erweitern und Engstellen zu beheben - etwa ein neuntes und zehntes Gleis für den Tiefbahnhof und eine zweigleisige Flughafenzufahrt. "Dann wäre das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei Stuttgart 21 noch schlechter und das beim Kopfbahnhof 21 noch besser", sagte Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann.
Dass Stuttgart 21 mit vielen Nachbesserungen gebaut wird, erscheint derzeit als das plausibelste Szenario. Doch der nächste Streit kündigt sich damit schon an: Wer soll für die Mehrkosten bei Stuttgart 21 aufkommen? Bahn? Bund? Land? Für Ministerpräsident Mappus könnte dies zur entscheidenden Frage bis zur Landtagswahl in Baden-Württemberg im März werden, um das umstrittene Projekt doch noch durchzusetzen.
Auch bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm sind sich Bahn und Bund noch nicht einig, wer für die Mehrkosten von 865 Millionen Euro aufkommen soll. Werden die Nachjustierungen am Bahnprojekt zu teuer, ist es Wasser auf die Mühlen der Gegner - und der Konflikt geht weiter.