Sarrazin-Debatte und Causa Steinbach beleben den Konservativismus-Streit neu. Das kann Bundeskanzlerin Merkel nicht gefallen.
Berlin. Das hat der Kanzlerin gerade noch gefehlt. Da sollte eigentlich auf der zweitägigen Klausurtagung der Unionsfraktion ein neuer Anfang gemacht, ein Strich unter die internen Streitigkeiten gezogen werden. Doch dann sorgte Erika Steinbach für neues Missvergnügen. Und zwar mit Äußerungen zur deutschen Kriegsschuldfrage, mit denen die Vertriebenenpräsidentin zwei Mitglieder ihres Verbandes in Schutz nehmen wollte. In diesem Zusammenhang hatte Steinbach gesagt: "Und ich kann es leider auch nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat."
Hintergrund war eine ähnliche Äußerung des als Stellvertreter für den Beirat der Vertriebenenstiftung benannten Hartmut Saenger, der deshalb CDU-intern ebenso in die Kritik geriet wie ein weiterer Kollege - offenbar sehr zum Ärger von Frau Steinbach, die mit ihrer Äußerung dann aber für erheblich mehr Furore sorgte als ihre Vereinsmitglieder. Als Unionsfraktionschef Volker Kauder im Auftrage Merkels gestern Mittag vor die Presse trat, war die neue Causa Steinbach jedenfalls das alles bestimmende Thema, sodass Kauder sich sichtlich genervt zu einer Klarstellung veranlasst sah. Das ging so weit, dass er glaubte versichern zu müssen, dass es für CDU und CSU keinen Zweifel an der Kriegsschuld der Deutschen gebe. Steinbach selbst kündigte am Nachmittag an, beim CDU-Parteitag im November nicht mehr für den Vorstand kandidieren zu wollen. "Ich stehe dort für das Konservative, aber ich stehe immer mehr allein", beklagte sich Steinbach gegenüber der "Welt".
Für Angela Merkel, die schon seit Monaten Mühe hat, die Frage zu beantworten, wo unter ihrer Führung denn das Konservative in der Union geblieben sei, kann das keine erfreuliche Entwicklung sein. Zumal sich die Empörung über ihre als vorschnell bewertete Kritik an Thilo Sarrazin und seinen Thesen noch nicht gelegt hat. Dabei hatte die CDU-Vorsitzende am Mittwochabend eine Rede gehalten, die nicht nur international registriert, sondern auch vom konservativen Flügel der Partei mit Genugtuung zur Kenntnis genommen worden war. In ihrer Laudatio für den dänischen Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard hatte sich Merkel energisch für die Meinungsfreiheit stark gemacht und erklärt, das Geheimnis dieser Freiheit sei der Mut. Die europäischen Staaten seien ein Ort, wo es möglich sei, derartige Zeichnungen zu veröffentlichen, hatte sie anlässlich der Verleihung des Medienpreises M100 an Westergaard in Potsdam gesagt. "Egal, ob wir die Karikaturen geschmackvoll finden oder nicht, ob wir sie für nötig oder hilfreich halten - oder eben nicht."
Für diese Äußerung gab es gestern erwartungsgemäß scharfe Kritik von muslimischer Seite. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Ayyub Axel Köhler, sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", damit werde "nur wieder Öl ins Feuer gegossen". Merkel gebe der Islamfeindlichkeit ebenso "neue Nahrung" wie Bundesbank-Vorstand Sarrazin, der Volksverhetzung betreibe. Überhaupt sei es ein Problem, dass "viele Politiker die Islamfeindlichkeit nicht wahrnehmen wollen". "Die Lösung des Problems liegt in der Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft", behauptete Köhler. Man müsse mit dem Thema "sensibler umgehen".
Zentralrats-Generalsekretär Aiman Mazyek meinte im ZDF, der Zeitpunkt der Ehrung durch Merkel sei "hoch problematisch". In der durch die Sarrazin-Debatte aufgeladenen Situation könne Merkels Auftritt gerade im islamischen Ausland missverstanden werden. Viele Muslime fühlten sich durch die Mohammed-Karikaturen pauschal als potenzielle Terroristen diffamiert. Mazyek bekannte sich zur uneingeschränkten Pressefreiheit, forderte gleichzeitig aber Rücksicht auf die Gefühle religiöser Menschen. Dieser Kritik schloss sich auch der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, an. Er unterstellte Angela Merkel einen Mangel an "interkultureller Kompetenz".
Diese Reaktionen wird Merkel erwartet haben. Doch dass ihre Westergaard-Laudatio vor dem Hintergrund der prekären Gemengelage stattfand, macht den geplanten Neustart nicht gerade leichter. Dabei sollten eigentlich ab sofort die Sachthemen den Regierungsalltag bestimmen, und zwar nach dem Vorbild der Atom-Entscheidung, die Merkel am vergangenen Wochenende selbst herbeigeführt hatte. Die Wiederbelebung der Konservativismus-Debatte könnte der Parteivorsitzenden dabei nun in die Quere kommen. Merkel muss erkennen: Die Dinge können immer noch unerfreulicher werden, als sie gestern schon gewesen sind.