Die Volksparteien Union und SPD wollen die Geister, die Thilo Sarrazin rief, schnell wieder loswerden. Mehr muslimische Lehrer sollen an die Schulen
Berlin. Der Bestseller des Bundesbankers Thilo Sarrazin (SPD) und die von ihm angestoßene Debatte über Integrationsmängel haben im Berliner Regierungsviertel hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die eigentlich geplant hatte, nach der Sommerpause den Neustart ihrer Koalition zu wagen und bis Weihnachten durchzuregieren, sieht sich gezwungen, das Kabinett statt mit der Aussetzung der Wehrpflicht oder der Hartz-IV-Reform nun kurzfristig mit der Migrationsproblematik zu befassen.
Überraschend wurde gestern ein angeblich bereits vor Jahren in Auftrag gegebenes Papier aus dem Hut gezaubert, das als "bundesweites Integrationsprogramm" bezeichnet wurde. Darin waren auf 200 Seiten alle Integrationsangebote aufgelistet, die man in Berlin kennt, Vorschläge zu deren Fortschreibung inklusive. Albert Schmid, Präsident des dabei federführenden Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge BAMF, warf Sarrazin Stimmungsmache vor. "Mich ärgert, dass Probleme benannt werden, ohne dass Lösungen beschrieben werden", sagte Schmid. "Das schafft Angst." Die Probleme seien aber lösbar. "Das ist machbar in weniger als einer Dekade", versprach Schmid. Auch Sarrazins demografische Prognosen zeugten von der "Stimmungsmache dieses Papiers".
Schmids Bericht empfiehlt, bestehende Angebote zu "vernetzen" und die "gesellschaftliche Teilhabe" der Zuwanderer zu verbessern. Das Kabinett formulierte dazu gestern bereits eine Idee: Künftig sollen mehr Muslime auf Lehramt studieren. Kleiner Schönheitsfehler: Die Bildungshoheit liegt bei den Ländern - und die Wahl der Studienfächer ist in Deutschland frei.
Den Liberalen schwebt unterdessen ein neuer Integrationsgipfel im Herbst vor. "Wir brauchen beim Thema Integration immer wieder eine neue Bestandsaufnahme", sagte der FDP-Vorsitzende und Vizekanzler der "Passauer Neuen Presse". Die Politik müsse die Probleme "konsequent anpacken".
Das sagte viel und gar nichts, aber die Versäumnisse der Vergangenheit und der Umgang mit der Causa Sarrazin fallen ja ohnehin vor allem den beiden großen Volksparteien auf die Füße. In der Union regt man sich an der Basis darüber auf, dass ausgerechnet Angela Merkel, die sich bei heiklen Themen sonst gerne aus Debatten heraushält, Sarrazin wegen seiner Thesen früh scharf anging. Und die SPD-Zentrale wird seit Tagen mit Briefen und E-Mails bombardiert, in denen sich der Zorn der Genossen über den geplanten Rauswurf des langjährigen Parteimitglieds Thilo Sarrazin entlädt.
Umfragen bescheinigen der SPD-Führung inzwischen nicht nur, dass jeder zweite Genosse richtig findet, was Sarrazin sagt - nämlich, dass "ein Großteil der arabischen und türkischen Einwanderer weder integrationswillig noch integrationsfähig" sei -, sondern auch, dass sich die Wähler deshalb wieder von der Partei abwenden. Im Vergleich zur Vorwoche ist die SPD um zwei Prozent auf 25 Prozent abgesackt, nachdem sie in den zurückliegenden Wochen auf Erholungskurs zu sein schien.
Die offensichtlich in den Berliner Parteizentralen gehegte Hoffnung, das unangenehme Thema werde mit der Entfernung Sarrazins aus dem Bundesbankvorstand und aus der SPD von der Tagesordnung wieder verschwinden, teilt Oswald Metzger nicht. Der 55-Jährige, der zunächst Mitglied in der SPD und später bei den Grünen war, bevor er 2008 zur CDU wechselte und jetzt im Bundesvorstand der Mittelstandsvereinigung MIT sitzt, sieht in der Causa Sarrazin einen Beleg für die "Entfremdung der Politik vom Wahrnehmungshorizont viele Bürgerinnen und Bürger". In "guten Wohnlagen" lasse sich die gesellschaftliche Realität leicht verdrängen, sagte Metzger in einem Interview mit "Focus Online". Doch auf Dauer könnten Politiker in einer Demokratie die Stimme des Volkes nicht ausblenden. Gerade beim Migrationsthema, aber auch in der Hartz-IV-Debatte, nehme die Mehrheit der Bevölkerung andere Positionen ein als das politische Establishment, sagte Metzger. Während die Politik und viele politische Meinungsbildner mit Abscheu und Empörung auf Sarrazins Fundamentalkritik an der gescheiterten Integrationspolitik reagierten, sei sich Vox populi einig: "Der Mann sagt die Wahrheit und wird dafür abgestraft!"