Kritik vom Paritätischen Wohlfahrtsverband an den Sparplänen der Regierung. Eine neue Studie belegt: Armut kann tödliche Folgen haben.
Berlin/London. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat die geplanten Mehrausgaben für Kinder von Hartz-IV-Familien als deutlich zu niedrig kritisiert. Statt der 480 Millionen Euro pro Jahr, die im Etatentwurf von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) für bessere Bildungschancen von Hartz-IV-Kindern und neue Regelsätze veranschlagt sind, seien mindestens 1,5 Milliarden Euro erforderlich.
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verteidigte den Etat und kündigte das Konzept zur Neuordnung der Hartz-IV-Sätze für Herbst an. Sie sprach von einem ersten groben Schätzwert. Hartz-IV-Kinder würden in der Schule künftig aber besser gefördert.
„Da ist es ein großer Vertrauensvorschuss, dass die Regierung im Sommer über die 20,9 Milliarden Euro für die Hartz-IV-Sätze hinaus bereits eine halbe Milliarde Euro als Vorsorge für zusätzliche Investitionen in die Bildung bedürftiger Kinder in den Haushalt für 2011 eingeplant hat“, sagte von der Leyen.
Offen blieb, ob Eltern zusätzliches Geld für die Bildung ihrer Kinder gezahlt wird. Von der Leyen sagte, es werde diskutiert, dass es eine „Vorsorgeleistung gibt – 20 Euro mehr“. Die Unterstützung gelte von „von der Geburt bis zum Abitur“. Die Ministerin betonte: „Das ist eine Rechtsleistung (...) und keine Ermessensleistung.“
Das Bundesverfassungsgericht hatte Anfang Februar entschieden, dass die Bundesregierung die Regelsätze für alle gut 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher neu berechnen muss. Die Methode sei nicht nachvollziehbar, die Kalkulation intransparent und realitätsfern.
Besonders die 1,7 Millionen Kinder in Hartz-IV-Familien sollten bessergestellt werden. Die Richter rügten, dass Ausgaben für Bildung und das gesellschaftliche Leben ausgeklammert sind. Die Höhe der Regelsätze wurde allerdings nicht beanstandet.
Für die Umsetzung des Urteils hat Schäuble im Etatentwurf für 2011 und den Finanzplan bis 2014 jährlich 480 Millionen Euro als Vorsorge eingeplant. Rein rechnerisch ergeben sich daraus jeweils 23 Euro pro Monat für jedes Hartz-IV-Kind. Offen ist, wie die Neuregelung im Detail aussieht. Zuletzt war auch von Gutscheinen die Rede.
Der Wohlfahrtsverband nannte die Pläne eine „neuerliche Attacke“ gegen Hartz-IV-Empfänger. Schäuble habe offensichtlich gar nicht die Absicht, das Urteil sachgerecht umzusetzen, kritisierte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider. „Lieber scheint er einen neuerlichen Verfassungsbruch in Kauf zu nehmen.“
Dass Kürzungen der Sozialleistungen tödliche Folgen haben können, ist das Ergebnis neuer wissenschaftlicher Studien. Experten sehen auf die Bürger in Europa Kürzungen bei den Renten über Wohnhilfen bis zu Spielplätzen zukommen – alles Bereiche, die einen Einfluss auf die Gesundheit eines Volkes haben. „Diese Einschnitte werden der Gesundheit der Menschen bedeutenden Schaden zufügen“, erklärt der Soziologe David Stuckler von der Oxford University. „Es geht nicht nur um Ärzte und Arzneimittel, um die Kranken zu versorgen – soziale Leistungen und Unterstützung sind wichtig, um zu verhindern, dass die Menschen krank werden.“
Stuckler veröffentlichte vergangene Woche in der Fachzeitschrift „British Medical Journal“ (BMJ) eine Untersuchung zu Einschritten. Demnach führt ein Rückgang der Sozialausgaben von 80 Euro pro Person zu einem Anstieg der alkoholbedingten Todesfälle um 2,8 Prozent und von Todesfällen durch Herzerkrankungen um 1,2 Prozent. Frühere Untersuchungen haben fast sofortige Auswirkungen einer höheren Arbeitslosenquote auf die Gesundheit und auch auf die Selbstmordrate gezeigt.
„Von jeder bislang dazu vorgenommenen Studie wissen wir, dass Arbeitslosigkeit nicht gut für die Gesundheit ist“, sagt John Appleby von dem Institute King’s Fund in London. „Daher, ja, am Rande wird es einen kleinen Anteil geben, der auf katastrophale Art leiden wird“, sagt er. „In anderen Worten: Sie werden sterben.“
Stuckler verweist als Negativbeispiel auf die Situation in Russland in den neunziger Jahren, als die „Schocktherapie“ bei der Übernahme der freien Marktwirtschaft mit der Abschaffung von vielen Hilfen für Arbeiter, Familien und Kinder einherging. Mit den gesundheitlichen Folgen – Selbstmorde, Herzinfarkte und ein Anstieg bei HIV-Infektionen und Tuberkulose – kämpfe das Land bis heute. Und umgekehrt seien die Folgen der Großen Depression der dreißiger Jahre in den USA zum Teil durch den Aufbau der staatlichen Hilfsprogramme abgefangen worden.