Scheitert die schwarz-rote Koalition doch noch, dann hätte Christine Lieberknecht das zurück, wonach sie sich eigentlich sehnt: Freiheit.
Erfurt. In der Werner-Seelenbinder-Straße, weit draußen in der südlichen Peripherie von Erfurt, noch hinter dem Steigerwaldstadion des Drittligisten FC Rot-Weiß, steht einsam eine fahle Ministeriumssiedlung. Vier Ressorts sind in einem mächtigen Gebäude-Karree angeordnet. Ein Haus ist deutlich größer als die anderen, das Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit. Hier im zweiten der vier Stockwerke hat Christine Lieberknecht ihr Büro. Eines, in dem Bodenbelag und Mobiliar aufeinander abgestimmt sind: petrolgrüne Ledergarnitur auf petrolgrünem Teppich. So richtete man 1990 die Ministerbüros ein, als das Bundesland Thüringen gerade geboren war. Offenbar hat sich seitdem auch in diesem Amtszimmer nicht viel getan.
Die Ministerin hat sich verspätet. Um genau fünf Minuten - und doch entschuldigt sie sich vielmals. Es seien nun mal spannende Zeiten in dem Land und obendrein Koalitionsverhandlungen, sagt sie, während sie eilig ihr Büro betritt. Sie lässt sich auf einen der petrolgrünen Sessel fallen, aber dort hält es sie nicht lange. Immer wieder springt sie auf, kramt mal in Regalen und Schränken nach Akten, läuft mal zum Schreibtisch, dann hinaus zu ihrem Büroleiter. Christine Lieberknecht ist ständig in Bewegung. In den 19 Jahren ihrer politischen Karriere war sie in Thüringen so ziemlich alles, was man werden kann: Kultusministerin, Ministerin für Bundesangelegenheiten, Landtagspräsidentin, Fraktionschefin, seit Mai 2008 wieder Ministerin.
Wenn alles gut geht, zieht Lieberknecht in ein paar Tagen aus dem petrolgrünen Ambiente wieder aus und übergibt das Büro vermutlich in SPD-Hand. Dann wechselt sie ein paar Kilometer stadteinwärts in die herrschaftliche Staatskanzlei. Noch will sie nicht an den 30. Oktober denken. Noch ist der Tag, an dem die 51-Jährige zur Ministerpräsidentin gewählt werden soll - die erste Frau in diesem Amt seit Heide Simonis - unendlich fern. Dabei ist dieser Tag schon in zwei Wochen. Aber im Moment sind zwei Wochen im politischen Thüringen eine Ewigkeit.
Normalerweise müsste alles klar sein. Die SPD hat sich entschieden, mit der CDU zu koalieren. Und die CDU hat sich entschieden, die Sozialministerin für das Amt der Regierungschefin zu nominieren. Aber so einfach sind die Dinge nicht seit der Landtagswahl am 30. August, die die CDU die absolute Mehrheit gekostet und als einzige Machtoption das Bündnis mit den Sozialdemokraten gelassen hat. Die sind aber im Richtungsstreit zerrissen. Rot-Rot-Grün könnte schließlich auch regieren. Das Linksbündnis scheiterte Anfang Oktober allein an der Frage, wer Ministerpräsident werden soll.
Selbst Lieberknecht will nicht ausschließen, dass SPD-Landeschef Christoph Matschie auf seinem Parteitag am 25. Oktober scheitert und die Basis den ausgehandelten Koalitionsvertrag doch noch ablehnt. Wenn es so kommt, dann wäre die schwarz-rote Koalition beendet, bevor sie begonnen hätte. "Es ist noch nicht hundertprozentig klar, dass die Koalition zustande kommt. Es kann noch etwas passieren", gibt die Ministerin zu. "Ich ertrage diese Unsicherheit in großer Offenheit und Gelassenheit." Wenn es am Ende nicht klappt, "dann habe ich zumindest meine Pflicht getan. Dann sollen es andere richten." So viel Gleichmut vor dem wichtigsten Karriereschritt mag verblüffen. Andererseits fand Lieberknecht diesen Schritt vor sechs Wochen selbst noch undenkbar. Sie hatte für sich ausgeschlossen, Ministerpräsidentin werden zu wollen. Aber dann kam der 7. September. Dieter Althaus hatte am Wochenende zuvor in zwei Sätzen seinen Rücktritt erklärt, aber kurz danach angekündigt, verfassungsgemäß die Geschäfte weiter führen zu wollen. Damit hatte er die Thüringer CDU gegen sich aufgebracht, und an jenem 7. September, einem Montag, wollte die Partei endlich Klarheit.
Lieberknecht hatte an dem Tag eigentlich ganz andere Sorgen. Sie leitete in Berlin in der Thüringer Landesvertretung die Gesundheitsministerkonferenz. Es ging um die Schweinegrippe und Impfbestellungen - ein heikles, teures Thema. Und die Runde brauchte länger als erwartet.
Der Stellvertreterin von Dieter Althaus, Finanzministerin Birgit Diezel, war das ziemlich egal. Immer wieder schickte sie Lieberknecht Kurzmitteilungen aufs Handy oder rief an. Später wurde Diezel deutlich: "Christine, komm zurück, wir müssen eine Entscheidung treffen." Lieberknecht übergab die Verhandlungsführung an die niedersächsische Amtskollegin. "Ich habe in die Runde gesagt: In Thüringen brennt die Luft. Ich muss zurück." Die Runde zeigte Verständnis, und Lieberknecht fuhr nach Erfurt mit einer klaren Vorstellung. "Ich wollte Birgit Diezel überzeugen, das Ministerpräsidentenamt zu übernehmen." Die Monate, in denen sich Althaus nach dem Skiunfall erholte, hatte Diezel die Regierung effizient geführt. Was Lieberknecht auf dem Heimweg nicht ahnte: Diezel wollte nicht noch einmal in diese Position. "Birgit Diezel hat mit aller Autorität gesagt: Ich bin stellvertretende Landesvorsitze, und ich schlage dich jetzt vor." Da habe sie nicht mehr Nein sagen können. Zuerst ging es ohnehin mehr um die Parteiführung und weniger um das Amt der Regierungschefin. Rot-Rot-Grün war noch genauso denkbar wie Schwarz-Rot. Am nächsten Morgen erklärte Lieberknecht selbst im Radio "die Ära Althaus" für beendet.
Heute sagt sie: "Es stand auch eine Furcht im Raum vor hessischen Verhältnissen. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass die auch in Thüringen entstehen. Hätte ich Nein gesagt, hätten wir keine Lösung gehabt." Persönliche Befindlichkeiten müssten da hintanstehen. Denn die persönliche Befindlichkeit sagt ihr: "Das ist noch mal ein Verlust an Lebensqualität." Sie hat eng mit drei Ministerpräsidenten zusammengearbeitet und weiß: "Es wird ein anstrengendes Amt mit vielen Pflichten, die nicht so sehr meinem Wesen entsprechen, Repräsentation zum Beispiel", sagt sie. "Auch auf jeden Halbsatz zu achten wird mühsam. Die Freiheit wird nicht größer."
Wieder springt Lieberknecht unvermittelt auf. Sie holt ein gerahmtes Foto. Darauf zu sehen sind ihre drei Enkeltöchter. "Ich hätte gern viel mehr Zeit für die Mädchen", sagt Lieberknecht. Was, wenn es doch nicht mit der Koalition klappt? Sie denkt nicht lange nach. "Es wäre eine Freiheit." So ein Satz einer Politikerin, die kurz vor der bedeutendsten Aufgabe ihrer Karriere steht, könnte ihr übel genommen werden, sowohl von der CDU als auch von der SPD. Aber dieser Satz ist ein typischer Lieberknecht. Gerade weil sie schon immer offen sagte, was sie denkt, wird sie in Thüringen über alle Parteigrenzen hinweg geachtet. Wenn jemand eine so schwierige Koalition wie mit der SPD führen könne, dann nur sie, heißt es allenthalben. "Ich bin verbindlich, und man kann mir vertrauen", sagt sie von sich selbst.
Eigentlich müsste Lieberknecht langsam mal sagen, wie reizvoll das Amt der Regierungschefin sei, wie viel Gestaltungsspielraum sie nun bekomme. Aber stattdessen sagt sie: "Ich habe das Ministerpräsidentenamt nie gewollt." Und: "Ich habe mich in die Pflicht nehmen lassen." Weil es die Pflicht verlangt, verhandelt sie nun mit der SPD. Aber die Pflicht allein hat Schwarz und Rot sicher nicht zusammen führt. Lieberknecht und Matschie mögen sich einfach. Beide sind Pastoren und stammen aus Pastoren-Familien. Lieberknecht drückt es so aus: "Protestantische Freiheit und Vertrauen bilden die Basis, die Christoph Matschie und mich verbindet. Wir haben ein gemeinsames Grundverständnis für das Herangehen an unsere Aufgabe." Beide seien sie beharrlich und geduldig, sagt die Ministerin. "Das sind Eigenschaften, die man in der DDR in der christlichen Minderheit lernen musste. In einem kirchenfeindlichen Umfeld zu leben stärkt den Charakter. Das kann man auch an Angela Merkel sehen."
Zu DDR-Zeiten fand Lieberknecht trotz Kirchenfeindlichkeit einen Weg, in ihrem Heimatdorf Ramsla im Weimarer Land Gehör zu finden. Die junge Pastorin trat in die Blockpartei CDU ein. "Ich wollte die DDR verändern, sie offener machen. Ich wollte jenseits der Kirchenmauern Debatten führen, über Frieden und Demokratisierung reden", sagt Lieberknecht zurückblickend. Sie weiß heute, dass das naiv war. Die CDU sei nicht in der Lage gewesen, diesem Anspruch gerecht zu werden, sagt sie. "Aber das wusste ich da noch nicht." Lieberknecht blieb in der DDR-CDU ohne besondere Funktion. "Ich war verantwortlich für die gemeindliche Rosenpflege, das war mein CDU-Auftrag." So hatte sie ihre Ruhe vor dem Staatsapparat, konzentrierte sich auf ihr Pastorenamt und verbrachte viel Zeit mit ihrem Ehemann, auch ein Pastor, und ihren zwei Kindern. "Obwohl wir eingesperrt waren hinter Mauer und Stacheldraht, waren meine Jahre als Pastorin in der DDR die freiesten überhaupt. So viel Freiheit habe ich nie wieder gehabt. Das gibt allein mein jetziger Alltag nicht her", sagt sie heute. "Aber ich habe mir die innere Freiheit des Christenmenschen bewahrt."
Diese innere Freiheit bahnte sich 1989 ihren Weg, als Lieberknecht eine der vier Autoren des "Weimarer Briefs" war. Darin forderte sie die Erneuerung der Partei und durchgreifende Reformen in der DDR. Spätestens jetzt war sie bekannt in Thüringen. Nach der Wende wurde sie in den Parteivorstand der Ost-CDU gewählt und 1990 Kultusministerin in einer schwarz-gelben Koalition. Ihr Nachfolger in dem Amt wurde später Dieter Althaus. Und jetzt folgt sie ihm. "Wir stehen im engen Kontakt", sagt sie. "Ich unterrichte ihn über die Koalitionsgespräche. Und er begleitet das sehr aktiv. Wir können jederzeit miteinander reden. Ich hole mir auch Rat bei ihm ein."
Althaus ist bald nur noch einfacher Abgeordneter. Auch er hatte sich das vor sechs Wochen so nicht vorgestellt. "Er geht sicher durch ein Wechselbad der Gefühle", sagt Lieberknecht. Sie weiß, wie es ihm wirklich geht, aber so genau will sie es nicht sagen. Aber ein politisches Comeback, das würde sie ihm schon wünschen. "Ich sehe viele Möglichkeiten für ihn, sich weiter mit seinen Fähigkeiten und seiner Erfahrung einzubringen", sagt sie. "Dieter Althaus sollte weiter Politik gestalten, zuerst natürlich im Landtag, aber warum nicht auch darüber hinaus." Ob sie jetzt auch Heide Simonis um Rat gefragt habe? Das nicht, aber "ich kenne sie". Im Bundesrat hatten sie viel miteinander zu tun. "Das hat allein das Länder-Alphabet vorgegeben. Schleswig-Holstein und Thüringen sitzen nebeneinander."
Ein letztes Mal springt Lieberknecht auf. Die Limousine wartet bereits vor dem Ministerium. Gleich trifft sie wieder Christoph Matschie. "Ich bestärke ihn, wo ich kann, dass er sich in der SPD durchsetzt." Thüringen stehen noch turbulente Tage bevor.