In einer Serie zieht das Abendblatt eine Bilanz der Politik der Großen Koalition. Nach der Gesundheitsreform drohen jetzt höhere Beiträge.
Hamburg. Es fehlen Ärzte und Pfleger. Kinder und Alte werden falsch behandelt und versorgt. Eine "völlige Neuordnung des Gesundheitswesens" sei nötig. "Die Gefahr besteht, dass die flächendeckende primärärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet werden kann." Das ist keine Schreckensvision. So steht es im jüngsten Report, den Prof. Eberhard Wille, der Vorsitzende des Sachverständigenrats, im Auftrag der Großen Koalition im Juni erarbeitet hat.
Dabei sollte das Mega-Projekt Gesundheitsreform, das eng mit dem Namen von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verbunden ist, Probleme lösen. Stattdessen legte es die Nerven des schwarz-roten Bündnisses frei. Der 167 Milliarden Euro schwere Gesundheitsfonds ist das gewichtigste Ergebnis im Bereich Gesundheit, Arbeit und Rente, das diese Regierung hinterlässt. Doch der altgediente Experte Prof. Fritz Beske vom Institut für Gesundheits-System-Forschung (Kiel) sagte dem Abendblatt: "Ich glaube, dass der Gesundheitsfonds schon heute unterfinanziert ist." Heißt: Das Geld reicht vorne und hinten nicht, um die Kranken auf gewohntem Niveau zu versorgen. Beske hat ausgerechnet, dass der Beitrag zur Krankenversicherung bis 2050 von heute knapp 15 auf 27 Prozent des Bruttolohns steigen müsste, wenn man die Zahlen des Statistischen Bundesamts zur Altersentwicklung in Deutschland und weiterer Faktoren zugrunde legt. "Unser medizinischer Leistungskatalog ist der umfassendste weltweit." Doch wenn man sich medizinischen Fortschritt für alle und eine wohnortnahe Versorgung zukünftig noch leisten wolle, müsse man diesen Leistungskatalog einschränken.
Und die Bundesregierung hat mit den Finanzen des Fonds getrickst. Der Fonds hat die Gelder an die Kassen gezwölftelt ausgezahlt. Dadurch stehen die Kassen derzeit finanziell besser da als in den vergangenen Jahren. Der Steuerzuschuss kam sonst erst nach der Mitte des Jahres. Das Finanzloch wird erst nach der Bundestagswahl offensichtlich, sagen Kassen-Insider. Sie rechnen außerdem vor, dass der Zusatzbeitrag, den eine Kasse erheben kann, weitere Bürokratiekosten in Millionenhöhe nach sich zieht. "Um fünf Euro Zusatzbeitrag zu erheben, muss man weitere fünf Euro für die Verwaltung verlangen", heißt es.
Diese Gesundheitsreform war selbst im eigenen Lager umstritten. Gegen das Gesetz stimmten am 2. Februar 2007 unter anderem ein damals nur politischen Kennern bekannter Bayer namens Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Friedrich Merz (CDU), Hamburgs Ex-Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) oder Ulla Schmidts früherer Intimus Karl Lauterbach (SPD).
Auch Große Koalitionen sollten große Reformen nicht übers Knie brechen. Bei der Durchsicht der rot-grünen Hartz-Gesetze bewiesen Kanzlerin Angela Merkel und alle Minister eine ruhige Hand. Doch aus Nordrhein-Westfalen drängten Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und sein Sozialminister Karl-Josef Laumann so lange, bis die Große Koalition das Arbeitslosengeld I für Ältere wieder verlängerte. "Dies ist zwar ein Rückschritt, aber man kann es noch tolerieren", sagte Hilmar Schneider dem Abendblatt. Der Direktor Arbeitsmarktpolitik des Instituts für die Zukunft der Arbeit sagte weiter: "Der Ausstieg aus dem Arbeitsleben wurde vor den Hartz-Reformen prämiert. Das führte dazu, dass manche schon mit Mitte 50 in den faktischen Ruhestand gegangen sind. Firmen und Arbeitnehmer haben das auf Kosten der Sozialversicherungssysteme gerne in Anspruch genommen. Diese Frühverrentung wurde gestoppt." Wegen der guten Kassenlage der Bundesagentur konnte die Große Koalition den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent (2006) auf jetzt 2,8 Prozent vom Monatsbrutto senken.
In Sachen Rente hat die Große Koalition gegen Ende der Amtszeit Aktionismus an den Tag gelegt. Erst wurde an der Rentenformel herumgetrickst, um den Rentnern einen außerplanmäßig hohen Zuwachs zu geben. Dann gab Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) eine blümsche Rentengarantie ab. Trotz Krise würden die Altersbezüge der Ruheständler nicht sinken. Das Gespenst der Altersarmut wehte auch über dieser schwarz-roten Konstellation. Doch die besonnenen Reformen der vergangenen Jahre haben die gesetzliche Rentenversicherung gut gerüstet für den demografischen Wandel.