Schwarz-Gelb könnte eine historische Entscheidung treffen, die zehn Jahre nach dem rot-grünen Ausstieg endgültig das Thema Atom besiegeln dürfte.

Berlin. Sonntagabend findet im Kanzleramt das mögliche Finale um den Ausstieg aus der Atomenergie statt. Ein paar Demonstranten skandierten ein müdes „Sofort abschalten“. Es waren längst nicht mehr so viele, wie noch im Herbst, als hier im Schnitt zwölf Jahre längere Laufzeiten besiegelt wurden. Die Demonstranten verlieren gerade ihr Kampfthema. Am Brandenburger Tor hatten Greenpeace-Aktivisten am Morgen ein riesiges Banner mit einem schwarz-gelben Totenkopf aufgehängt, darüber der Schriftzug „Jeder Tag Atomkraft ist einer zu viel“. Es wirkt wie die Folklore, die zu so einem Tag dazugehört. Die Aktivisten von Greenpeace fordern einen Ausstieg bis 2015. Doch das wäre selbst Kanzlerin Angela Merkel (CDU) als Konsequenz aus dem GAU im japanischen Fukushima etwas zu schnell.

Drinnen schreiben Merkel und ihre Koalition an diesem Sonntag gerade ein klein wenig Geschichte. Ausgerechnet die einstigen Kernenergiefreunde von Union und FDP feilen bis spät in den Abend an einem Atomausstieg bis etwa 2021/2022. Das wäre mit dem Konsens zwischen Rot-Grün und den AKW-Betreibern im Jahr 2001 nicht gelungen.

Der Beginn der Beratungen im Koalitionsausschuss über den Atomausstieg hatte sich am Sonntagabend zunächst stark verzögert. Rund drei Stunden nach dem ursprünglich für 18 Uhr geplanten Start der Verhandlungen dauerten die Vorgespräche im Bundeskanzleramt zunächst an, hieß es aus Koalitionskreisen in Berlin. Vor allem die FDP müsse offenbar noch intern beraten; die liberalen Politiker hätten sich zeitweise auf einen Balkon zurückgezogen.

Viel schneller, als es jetzt Schwarz-Gelb vorhat, kann man nicht aussteigen - das geben sogar die Grünen zu. Bis 2021 oder 2022 will man nach dpa-Informationen raus aus der Kernkraft. Allerdings könnte eine Hintertür eingebaut werden. Gibt es bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht genug Netze und Speicher, soll der Ausstieg notfalls um ein Jahr verschoben werden. Wegen Drosselung des Betriebs und Stillständen wäre nach dem rot-grünen Beschluss mit Neckarwestheim II der letzte Meiler nicht vor 2023 vom Netz gegangen.

Die sieben ältesten Anlagen, die im Rahmen des Moratoriums nach der Katastrophe im japanischen Fukushima abgeschaltet worden waren, könnten dauerhaft stillgelegt werden. Auch Krümmel, wo 2007 ein Trafo-Brand die Atom-Angst der Deutschen verstärkte, könnte abgeklemmt bleiben.

Doch hier gibt es ein Hintertürchen: Wenn tatsächlich bis zu acht der derzeit noch 17 AKW als Konsequenz aus der Kernschmelze von Fukushima abgeschaltet bleiben, weiß niemand, ob das gerade im Winter machbar ist. Um Stromengpässen vorzubauen, wird möglicherweise die von FDP-Chef Philipp Rösler ins Spiel gebrachte Idee von „stand by“-Atomkraftwerken aufgegriffen.

Ein bis zwei AKW würden startklar gehalten, für den Fall, dass sich Engpässe oder Netzprobleme abzeichnen. Dies könnte vor allem in Süddeutschland im Winter passieren. Da netztechnisch der Raum Frankfurt als Flaschenhals gilt, könnte etwa der RWE-Meiler Biblis B infrage kommen. Bis zu 50 Millionen Euro jährlich würde eine „kalte Reserve“ pro AKW kosten.

Um 22 Uhr trafen die Spitzen von SPD und Grünen ein, weil Merkel gerne einen Konsens mit der Opposition will.

Relativ schnell war klar, dass sich FDP-Wirtschaftsminister Rösler wohl in wichtigen Punkten durchsetzen könnte. Die Atomsteuer soll bleiben, denn Union und FDP wissen nicht, wo sie das Geld sonst herbekommen sollen. Dabei hatte CSU-Chef Horst Seehofer vor wenigen Tagen noch gesagt, die Steuer sei vom Tisch, nur so könnten Konzerne genug in Ökoenergien investieren. Wennn acht AKW abgeschaltet werden, bringt sie ohnehin statt 2,3 nur noch 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.

Die größte Achillesferse bei der Energiewende bleibt das alte Stromnetz. Die angedachte Hintertür „2021/2022 plus ein Jahr“ könnte auch den Druck auf die Bürger erhöhen, beim Stromnetzausbau zu kooperieren – schließlich droht sonst ein Verschieben des Ausstiegs nach hinten.

Bei ihrem Atomausstieg könnte sich die Regierung ziemlich genau an die Vorschläge der von Merkel nach Fukushima eingesetzten Ethikkommission halten. „Wir wollen einen Energiekonsens, der länger hält als nur eine Legislaturperiode“, bekräftigt auch SPD-Chef Sigmar Gabriel seinen Willen zum Konsens.

Merkel macht allen Unkenrufen zum Trotz das, was sie nach der Kernschmelze von Fukushima angekündigt hatte. „Die Geschehnisse in Japan, sie sind ein Einschnitt für die Welt“, sagte sie damals. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sekundierte: „Die Kernenergie ist ein Auslaufmodell.“ Ob Union und FDP so Glaubwürdigkeit bei den Bürgern zurückgewinnen, muss sich zeigen.

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Wenige Tage vor dem Koalitionsausschuss am Sonntag verschärft sich der Streit zwischen Union und FDP um den Fortbestand der Brennelementesteuer . In der „Bild“-Zeitung warnte Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) den Koalitionspartner vor einer Abschaffung der erst jüngst neu eingeführten Brennelementesteuer. Die Union müsse „offen sagen, ob sie die Brennelementesteuer wirklich abschaffen will – und wie sie das gegenfinanzieren will. Die FDP ist jedenfalls dagegen“, sagte Rösler der Zeitung und fügte hinzu: „Wir sollten die Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt so gering wie möglich halten.“

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnt vor einem zu schnellen Atomausstieg. „Wir müssen seriös entscheiden. Ich rate dringend davon ab, sich jetzt auf ein Datum festzulegen“, sagte Hundt der „Passauer Neuen Presse". Einen Ausstieg aus der Kernenergie kann es laut Hundt erst geben, wenn ausreichend alternative Energien, sichere Netze und genügend Speicherkapazität zur Verfügung stünden. „Das Tempo des Ausstiegs muss sich nach den Fortschritten beim Umstieg auf Alternativ-Energien richten und nicht nach gegriffenen politischen Jahreszahlen.“ Das Atommoratorium nach Fukushima „hat zu großen Irritationen geführt“, beklagte Hundt. „Die deutschen Kernkraftwerke quasi über Nacht für nicht mehr sicher zu erklären, ist rational nicht begründbar.“

Ein schneller Atomausstieg führt nach Einschätzung des Umweltbundesamts (UBA) nur zu moderaten Strompreissteigerungen von 0,6 bis 0,8 Cent pro Kilowattstunde und wird „keine nennenswerten Einbußen“ beim Wirtschaftswachstum bringen. Zu diesem Ergebnis kommt eine UBA-Studie, die der „Frankfurter Rundschau“ vorliegt. „Ein vollständiges Abschalten der AKW bis 2017 verringert die Gefahren und Risiken der Atomenergie deutlich. Dies hätte erhebliche gesellschaftliche Vorteile, die die moderaten Strompreiserhöhungen aufwiegen“, schreibt das Umweltbundesamt in dem Papier.

Das UBA hat das Hintergrundpapier als Grundlage für die seit Fukushima neu begonnene Atom-Debatte erarbeitet. Es wurde bisher nicht veröffentlicht – nach Presseinformationen auf Wunsch von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU). Nun soll das Papier offenbar Anfang nächster Woche publiziert werden – also erst, nachdem die von Ex-Minister Klaus Töpfer (CDU) geleitete Ethikkommission zur Energiewende ihren Schlussbericht vorgelegt hat.

(dpa/dapd/abendblatt.de)