Seit zehn Jahren führt der Westen, angeführt von den USA, Krieg gegen die Taliban und al-Qaida in Afghanistan. Die Bilanz ist mager.
Hamburg. Im Februar 2011 trat der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates vor die Kadetten der Eliteakademie West Point und erklärte: "Jeder künftige Verteidigungsminister, der dem Präsidenten noch einmal dazu rät, eine große amerikanische Landstreitmacht nach Asien, in den Nahen Osten oder nach Afrika zu schicken, sollte sich seinen Kopf untersuchen lassen." Inzwischen führt das US-Militär seit zehn Jahren Krieg im asiatischen Land Afghanistan. Fast täglich sterben Soldaten im Ringen um die Macht am Hindukusch, dem "Friedhof der Großmächte". Hier scheiterten schon vor 150 Jahren das britische Empire und in den 80er-Jahren die Sowjetunion.
Vor genau einem Jahrzehnt um 21 Uhr abends öffneten amerikanische und britische Kampfflugzeuge ihre Bomben- und Raketenschächte über dem zerklüfteten Land; es galt, die radikalislamische Taliban-Miliz und das mit ihr verbündete Terrornetzwerk al-Qaida zu vertreiben. Die Taliban hatten sich in einem blutigen Bürgerkrieg an die Macht gekämpft. Allerdings keineswegs allein. Pakistans Machthaber Pervez Musharraf - der den Westen später gegen die Taliban und al-Qaida unterstützte - schickte Zehntausende Pakistaner in den Kampf gegen die prowestliche Nordallianz. Von den 45 000 Kämpfern auf Seiten der Taliban waren 28 000 Pakistaner, davon 20 000 reguläre Soldaten.
Die Zukunft Afghanistans entschied sich jedoch nicht erst mit dem Einmarsch der US-Truppen und der Vertreibung der Taliban, sondern bereits am 9. September 2001 - also zwei Tage vor den Al-Qaida-Anschlägen in Amerika. An diesem Tag begehrten zwei angebliche Journalisten ein Interview mit dem Führer der Nordallianz, Ahmed Schah Massud in der Stadt Takhar. Der charismatische Feldkommandeur stimmte zu - und starb durch eine Bombe, die in der Videokamera eines der Attentäter versteckt war. Der Tod Massuds, des "Löwen von Pandschir", der die sowjetische Armee aus dem Land gejagt hatte, war ein unersetzlicher Verlust für Afghanistan. Massud hatte in der Einführung von Demokratie und Frauenrechten die einzige Zukunftschance für Afghanistan gesehen. Damit war er zum gefährlichsten Feind der Taliban geworden, die für einen radikalislamischen Gottesstaat stehen. Kein anderer prowestlicher Politiker Afghanistans hat je wieder die militärische und visionäre Kraft Massuds erreicht.
Seine Ermordung war offenbar eng koordiniert mit den Anschlägen vom 11. September 2001 , die zur westlichen Invasion in Afghanistan führten.
Und dies nicht etwa, weil die Täter Afghanen waren - sie waren Saudis -, sondern weil Taliban-Chef Mullah Omar sich weigerte, sie an die USA auszuliefern. Einige Analysten bewerteten die amerikanische Offensive später als eine blindwütige Racheaktion der traumatisierten USA.
Die ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet geflohenen Taliban führen seit ihrem Sturz einen blutigen Guerillakrieg gegen die westliche Invasionsstreitmacht. Und an dieser ist auch die Bundeswehr seit 2001 beteiligt - aufgrund der "uneingeschränkten Solidarität", die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA zusicherte. Sein Verteidigungsminister Peter Struck prägte den umstrittenen Satz, dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde. 5000 Bundeswehrsoldaten sind als Teil der 130 000 Mann starken Truppe aus 48 Staaten im Einsatz. 52 Deutsche sind am Hindukusch gefallen; fast 3000 Tote hat die Internationale Schutztruppe Isaf insgesamt zu beklagen.
Für die USA liegen die finanziellen Kosten dieses Krieges allmählich im Billionen-Dollar-Bereich; Deutschland könnte nach dem für 2014 geplanten Abzug inklusive aller Folgekosten bis zu 35 Milliarden Euro bezahlt haben, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) errechnete. Afghanistan erhält zudem jährlich bis zu 430 Millionen Euro Entwicklungshilfe.
Die Bilanz von zehn Jahren Krieg ist eher mager. "Die Ziele waren zu hoch", räumte Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) im "Stern" ein. In der Tat: Vor allem die US-Administration unter Präsident George W. Bush hatte geglaubt, Afghanistan die Segnungen von Demokratie und Pluralismus bringen zu können. Eine fatale Fehleinschätzung - das jahrhundertealte Feudal- und Stammessystem, durchtränkt von einer besonders radikalen Variante des Islam, erwies sich als weitgehend immun gegen eine gesellschaftliche Öffnung.
Es ist unwahrscheinlich, dass Karsais Armee den Taliban lange standhält
Der erneute Vormarsch der von Pakistan aus operierenden Taliban - die wohl auch jetzt die Unterstützung von Teilen des mächtigen pakistanischen Geheimdienstes ISI genießen - gefährdet die wenigen Erfolge, die die Nato vorweisen kann. Zwar gehen inzwischen Millionen Mädchen zur Schule, aber die Unterdrückung der Frauen hat wieder zugenommen. Nach Angaben der Organisation medica mondiale werden 80 Prozent der afghanischen Frauen zwangsverheiratet - die Hälfte in einem Alter unter 16 Jahren. Die Verwaltung Afghanistans inklusive der Regierung von Präsident Hamid Karsai gilt als unglaublich korrupt. Karsai streckt zudem eingedenk des baldigen Abzuges der Nato seine Fühler Richtung Taliban aus. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die afghanische Armee, die trotz aller westlicher Ausbildungsbemühungen als unzuverlässig angesehen wird, den Taliban lange standhalten kann.
Nach dem Ende des langen Krieges könnte dem geschundenen Land ein weiterer furchtbarer Bürgerkrieg bevorstehen. "Im Moment haben wir keine Ahnung, wen wir fürchten sollen. Wir fürchten alle", sagte Rangina Hamidi, die Tochter des kürzlich ermordeten Bürgermeisters von Kandahar.