Die Taliban schienen geschlagen, Afghanistan für den Westen eine einfache Mission. Beides stellte sich als falsch heraus. Zehn Jahre nach Beginn der Intervention herrscht Krieg am Hindukusch.
Neu Delhi. Als die ausländischen Truppen nach Beginn des Konflikts vor zehn Jahren nach Afghanistan kamen, wurden sie von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung freudig begrüßt. Kinder winkten den Patrouillen selbst in einstigen Taliban-Hochburgen zu. Die Afghanen glaubten den Versprechen des Westens, dem geschundenen Land Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu bringen. In den Truppenstellernationen ging man von einem kurzen Einsatz aus, die Taliban galten als geschlagen. Ein Jahrzehnt später sind die Hoffnungen auf allen Seiten enttäuscht worden.
Zwar gibt es etwa im Bildungswesen unbestreitbare Fortschritte, doch Milliarden Dollar an Hilfsgeldern flossen in die falschen Taschen. Der Westen ging blauäugig und mit überhöhten Erwartungen in die Mission am Hindukusch. Vorgesehen war ein „Light Footprint“, also ein möglichst zurückhaltendes internationales Engagement – während eigentlich ein massiver Einsatz notwendig gewesen wäre. Als einer der größten Fehler gilt der Irak-Krieg, der Ressourcen band, die in Afghanistan fehlten. Dabei hätte das Land am Hindukusch nach Einschätzung von Experten in den ersten Jahren noch relativ leicht stabilisiert werden können. Stattdessen schaute die Staatengemeinschaft hilflos zu, wie die Taliban sich nach dem Sturz ihres Regimes in Pakistan neu formierten. Zwei Jahre nach Beginn des Einsatzes waren in Afghanistan nicht einmal 20 000 ausländische Soldaten im Einsatz. Inzwischen umfasst die Schutztruppe Isaf 130 000 Soldaten – und die Lage ist dennoch nicht unter Kontrolle.
Selbst die westlichen Ausländern trauen ihren eigenen Versprechen von Sicherheit und Stabilität schon lange nicht mehr. Die Botschaften gleichen nach zahlreichen Anschlägen Festungen, die mit Mauern und Sprengschutzwällen von der Außenwelt abgeschirmt sind. Deutsche und andere Diplomaten mussten bereits vor Jahren auf ihre Botschaftsgelände ziehen. Zu Terminen fahren Botschafter nur mit Personenschützern, auch bekannt als Close Protection Teams. Auch Präsident Hamid Karsai – dessen Verhältnis zu den USA seit seiner von schwerem Betrug überschatteten Wiederwahl 2009 dramatisch abgekühlt ist – kann sich in seinem eigenen Land nicht frei bewegen. Mehrfach wurde er zum Ziel von Anschlägen, zu denen es auch immer wieder in der Nähe seines Amtssitzes in Kabul kommt. Für das Diplomatenviertel, in dem auch der Präsidentenpalast liegt, macht neuerdings die Bezeichnung „Green Zone“ die Runde – in Anlehnung an die abgeriegelte Grüne Zone im umkämpften Bagdad.
Zwar ist die Sicherheitslage in Kabul nicht so schlecht, wie sie es in den schlimmsten Zeiten in der irakischen Hauptstadt war. Doch ist es den Taliban in den vergangenen Wochen mehrfach gelungen, spektakuläre Anschläge in Kabul zu verüben. Friedenshoffnungen erlitten einen herben Rückschlag, als Burhanuddin Rabbani ermordet wurde – der Ex-Präsident sollte im Auftrag Karsais mit den Aufständischen verhandeln. Mit einer Turbanbombe riss ein Selbstmordattentäter den Vorsitzenden des Hohen Friedensrates in seinem Haus im Kabuler Diplomatenviertel mit in den Tod. Nur eine Woche zuvor beschossen Aufständische die US-Botschaft und das Isaf-Hauptquartier in der Hauptstadt, der Angriff konnte erst nach mehr als 20 Stunden niedergeschlagen werden. US-Botschafter Ryan Crocker tat die Attacke verächtlich als „Belästigung“ ab und sagte mit Blick auf die Aufständischen: „Wenn das alles ist, was sie drauf haben, dann ist das eigentlich ein Zeichen ihrer Schwäche.“
Auch nach dem Beschuss ihres Hauptquartiers hielt die Nato-geführte Isaf an ihrer Analyse fest, dass sich die Sicherheitslage verbessert habe und es gelungen sei, „den Trend der Vorjahre zu brechen“. Selten dürfte die Wahrnehmung der Afghanen einerseits sowie westlicher Militärs und Diplomaten andererseits weiter auseinandergelegen haben. „Wir haben Angst, sobald wir aus dem Haus gehen“, sagt etwa der 21-jährige Kabuler Student Wahidullah. Und sein Kommilitone Turyalay meint: „Die Ausländer haben versagt.“ Auch Isaf-Sprecher Carsten Jacobson räumt ein, dass die Afghanen sich nicht sicher fühlen. Von Anschlägen seien besonders Zivilisten betroffen, sagt der Bundeswehr-General. „Deswegen haben die Menschen draußen das Gefühl, die Gewalt habe zugenommen.“ Statistisch aber sei die Zahl der Vorfälle in den vergangenen Monaten zurückgegangen.
Der Krieg in Afghanistan ist längst auch zur Schlacht um die Deutungshoheit geworden. Isaf und US-Regierung werten die neue Taktik der Aufständischen, spektakuläre Angriffe mit gut ausgerüsteten Selbstmordkommandos zu verüben und Regierungsvertreter gezielt zu ermorden, als Zeichen der Schwäche. Die Argumentation: Die Taliban trauten sich nicht mehr in die offene Schlacht gegen die Truppen. US-Verteidigungsminister Leon Panetta sieht die Bemühungen in Afghanistan trotz „Herausforderungen“ auf dem richtigen Weg. Die Taliban sprechen von feindlicher „Propaganda“ und teilten vor wenigen Tagen mit, sie seien „stärker und vereinter als je zuvor“. Die Aufständischen kontrollierten die Hälfte des Landes und würden von der Bevölkerung unterstützt. „Es wäre besser für Amerika und seine Alliierten, die Besatzung Afghanistans schnellstmöglich zu beenden und jetzt zu tun, was unweigerlich getan werden muss.“
Auch Abdul Hakim Mudschahid glaubt nicht daran, dass der Aufstand austrocknet. Der frühere inoffizielle Gesandte des Taliban-Regimes bei den Vereinten Nationen ist führendes Mitglied im Hohen Friedensrat, er sagte noch vor dem Mord an Rabbani: „Die Stimmung bei der bewaffneten Opposition ist sehr gut.“ Die Kämpfer seien nicht müde. Zwar tendierten hochrangige Aufständische zu einer politischen Lösung. „Aber die sehr jungen Leute sind voller Eifer dafür, den Heiligen Krieg gegen die ausländischen Truppen fortzuführen.“