Als erster deutscher Bundespräsident darf Wulff am Dienstag in Ankara eine Rede halten. Die Islam-Debatte wirft Schatten auf den Besuch.
Berlin/Ankara. In Deutschland geht der Streit um die Zuwanderung weiter, Bundespräsident Christian Wulff ist indes fünf Tage auf Staatsbesuch in der Türkei. Als erster Bundespräsident spricht er am Dienstag vor dem türkischen Parlament in Ankara. Wulff selbst hatte am Tag der Einheit gesagt, der Islam sei inzwischen Teil der deutschen Lebenswirklichkeit. Er erntete damit großes Lob von der türkischen Führung und Kritik aus Teilen der Union.
Wulff reist in Begleitung seiner Frau Bettina und einer 15-köpfigen Wirtschaftsdelegation. Am Dienstag sind zunächst Gespräche mit Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geplant. Dabei dürfte auch der EU-Beitritt der Türkei eine große Rolle spielen. Wulff hatte bereits nach seiner Wahl im Juli einen fairen Umgang der EU mit der Türkei angemahnt. Er will sich auch für mehr Religionsfreiheit in dem ganz überwiegend islamisch geprägten Land einsetzen.
Der Besuch werde sich nicht nur auf ein Thema konzentrieren, sondern die ganze Bandbreite der Beziehungen von der Politik über die Wirtschaft bis zur Kultur umfassen, wurde im Bundespräsidialamt betont.
Türkische Zeitungen versprechen sich von dem Besuch Wulffs frischen Wind für eine Vertiefung der deutsch-türkischen Beziehungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei dazu nicht in der Lage, weil sie Rücksicht auf die Machtverhältnisse in ihrer Partei nehmen müsse, schrieb die regierungsnahe türkische Zeitung „Zaman“ am Montag.
Mehrere Blätter wiederholten die Äußerung Wulffs, wonach inzwischen auch der Islam ein Teil Deutschlands sei. Die auflagenstärkste Zeitung „Hürriyet“ druckte zudem auf der ersten Seite ein Foto von Wulffs Ehefrau Bettina und die Schlagzeile: „Fünf Tage Türkei mit tätowierter First Lady.“
Grünen-Chef Cem Özdemir forderte Wulff am Montag im Abendblatt auf, sich bei seinem Staatsbesuch von „Rechtspopulisten“ wie CSU-Chef Horst Seehofer zu distanzieren. Seehofer hatte einen faktischen Zuwanderungsstopp für Türken und Araber verlangt. Der SPD- Integrationsexperte Rüdiger Veit sagte: „Angesichts der unverständlichen Äußerungen von Horst Seehofer sollte Wulff den Türken sagen, dass sie hier in Deutschland willkommen sind.“
Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP) ermunterte die Türkei zu weiteren Reformen. „Der Weg Richtung Europa ist ein Weg Richtung Menschenrechte“, sagte Löning der Nachrichtenagentur dpa. Vor allem bei der Gleichstellung aller Religionen sieht Löning noch Defizite.
Auch Wulffs dritter Staatsbesuch – nach der Schweiz und Russland - in seiner dreieinhalbmonatigen Amtszeit geht noch auf Initiative seines Vorgängers Horst Köhler zurück. Der letzte Besuch eines Bundespräsidenten in der Türkei liegt zehn Jahre zurück.
Vor seiner Abreise bezeichnete Wulff den Auftritt vor dem Parlament in Ankara „als eine Ehre und als ein Zeichen für die besonders freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland“.
Der Bundespräsident wird die zentralanatolische Stadt Kayseri besuchen. In Güls Heimatstadt findet ein Wirtschaftsforum statt. Am Donnerstag ist ein ökumenischer Gottesdienst in der Paulus-Kirche von Tarsus geplant. In Istanbul wird er an der Grundsteinlegung für die erste Deutsch-Türkische Universität teilnehmen.
Das sagte Grünen-Chef Cem Özdemir im Abendblatt - ein Bericht von Roman Heflik:
Streit um Zuwanderung: Qualifizieren statt anwerben
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer bleiben im Streit um die Zuwanderung hart. Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union am Wochenende erklärte die CDU-Vorsitzende den Multikulti-Ansatz für gescheitert und forderte mehr Integrationsanstrengungen von Migranten. Die Qualifizierung deutscher Arbeitskräfte müsse Vorrang vor der Anwerbung von Zuwanderern haben. Währenddessen beharrte Seehofer in einem vom Magazin "Focus" veröffentlichten Sieben-Punkte-Plan darauf, dass "Deutschland kein Zuwanderungsland" sei. Auch ein prognostizierter Fachkräftemangel kann nach Ansicht Seehofers "kein Freibrief für ungesteuerte Zuwanderung sein".
Während in der deutschen Politik noch über Integrationsprobleme heftig gestritten wird, scheint sich das in dieser Frage oft problematische Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei, dem Heimatland der meisten Zuwanderer in Deutschland, schrittweise zu verbessern. So lobte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), den Appell des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül an seine Landsleute in Deutschland, fließend Deutsch zu lernen, als "ein wichtiges und ermutigendes Signal". Teilhabe und Aufstieg seien nur mit guten Deutschkenntnissen möglich - "dieser Konsens sollte von der Türkischen Gemeinde in Deutschland nicht infrage gestellt werden", fügte sie hinzu. An Schulen, wo Kinder aus verschiedenen Herkunftsländern zusammenkommen, sollte man sich nach Einschätzung Böhmers auf eine Sprache einigen - "und dies kann in unserem Land nur Deutsch sein". In einem Interview in der "Süddeutschen Zeitung" hatte Gül seine Landsleute in Deutschland aufgerufen, Teil der Gesellschaft zu werden. Sie sollten Deutsch lernen, "und zwar fließend und ohne Akzent".
Am heutigen Montag reist nun Bundespräsident Christian Wulff zum Staatsbesuch in die Türkei. Wulff, der bei seiner Rede zur deutschen Einheit gesagt hatte, dass auch der Islam zu Deutschland gehört, will sich am Bosporus für die Rechte der rund 100 000 Christen einsetzen. Bei dem Staatsbesuch werde "die Religionsfrage eine wichtige Rolle spielen", hieß es aus dem Bundespräsidialamt. Nach Ansicht von Grünen-Chef Cem Özdemir könnten die bisherigen moderaten Äußerungen Wulffs bei einem Dialog über die Integrationspolitik behilflich sein. "Christian Wulff hat für sein Bekenntnis zur Einbürgerung von Menschen mit muslimischem Hintergrund zu Recht viel Anerkennung in der Türkei erfahren", sagte Özdemir dem Abendblatt. Auch die aktuellen Äußerungen des türkischen Präsidenten Gül und des Europaministers Bagis seien gute Beiträge für einen konstruktiven deutsch-türkischen Dialog zur Integration gewesen.
Der Bundespräsident habe nun die Gelegenheit, diesen Dialog zu vertiefen, betonte Özdemir. "Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass Christian Wulff deutlich macht: Die Integrationsdebatte in Deutschland wird nicht von den Rechtspopulisten Seehofer und Sarrazin dominiert, sondern von einem parteiübergreifenden Interesse an einer rationalen Debatte um die beste Integrationspolitik."
Der integrationspolitische Sprecher der SPD, Rüdiger Veit, sagte dem Abendblatt: "Angesichts der unverständlichen Äußerungen von Horst Seehofer sollte Wulff den Türken sagen, dass sie hier in Deutschland willkommen sind." Die derzeitige Integrationsdebatte werde nicht auf Basis von Fakten geführt, kritisierte Veit: "Eine Panik vor einem Zuviel an Zuwanderung ist unangebracht, wenn man sieht, dass die Zahl der Türken, die von Deutschland in ihre türkische Heimat zurückgegangen sind, im letzten Jahr um 9000 Personen höher lag als die Zahl der Türken, die nach Deutschland gekommen sind."
Nach einem Bericht des "Spiegel" will Innenminister Thomas de Maizière (CDU) bis Mitte der Woche mit einer Umfrage in den Ländern feststellen lassen, wie viele Ausländer nach ihrer Einreise den verpflichtenden Integrationskurs schwänzen oder abbrechen. Ein erstes Zwischenergebnis aus Niedersachsen deutet dem Bericht zufolge darauf hin, dass die Zahl der Unkooperativen offenbar nicht besonders hoch ist. Demnach hatten etwa 3,8 Prozent der vorgesehenen Teilnehmer ihren Pflichtkurs ohne ausreichenden Grund nicht angetreten oder nicht beendet.
Bei 2,6 Prozent kam es zu Sanktionen oder zu der Androhung davon. Ein Problem besteht nach Ansicht der niedersächsischen Behörden allerdings darin, dass Kursanbieter die Verweigerer oft nicht an die Ausländerbehörden weitermelden und es dadurch eine Dunkelziffer gibt.