Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle fordert eine Debatte um den Nutzen von Immigranten und geht mit den Stuttgart-21-Gegnern hart ins Gericht. Den Grünen wirft er Heuchelei vor.

Berlin. Innerhalb nur eines Jahres ist die FDP von ihrem Bundestagswahlergebnis von 14,6 Prozent auf vier Prozent in den Umfragen gefallen. Würde der Bundestag neu gewählt werden - die Liberalen müssten um den Einzug ins Parlament bangen. Zumindest außenpolitisch läuft es für den Parteichef besser: Am Dienstag wurde Deutschland in den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt.

Hamburger Abendblatt:

Herr Minister, Deutschland hat einen Platz im Weltsicherheitsrat für 2011 und 2012 errungen. Warum müssen wir in diesem Gremium sitzen, wenn wir nicht einmal ein Vetorecht haben?

Guido Westerwelle:

Deutschland gehört in den Sicherheitsrat, weil es kein anderes Gremium gibt, in dem so viel für Frieden und Konfliktlösung in der Welt getan werden kann. Weil wir als drittgrößter Beitragszahler und mit unserem weltweiten Engagement schon jetzt viel Verantwortung tragen, wollen wir auch an den politischen Entscheidungen mitwirken. Diese Arbeit ist auch im Interesse unserer Bürger. Auf jedem regionalen Konfliktfeld können Fundamentalismus, Extremismus und oft genug Terrorismus gedeihen. Es dient der Sicherheit unseres Landes, wenn wir im Sicherheitsrat an diesen Konfliktlösungen mitarbeiten.

Fünf ständige Mitglieder, zehn nichtständige Mitglieder - welche Struktur wäre Ihnen lieber?

Westerwelle:

Die heutige Struktur der Uno spiegelt die Lage der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder. Aber die Gewichte haben sich verändert. Kontinente wie Lateinamerika und Afrika haben an wirtschaftlichem, kulturellem und politischem Gewicht gewonnen und müssen besser vertreten sein. Auch Asien ist noch wichtiger geworden. Wir streben langfristig einen Sitz der EU im Weltsicherheitsrat an. Bis dahin ist Deutschland bereit, auch als ständiges Sicherheitsratsmitglied mehr Verantwortung zu übernehmen.

Ist das schon die deutsche Agenda für die kommenden zwei Jahre?

Westerwelle:

Nein, das ist unser langfristiges Engagement. In den kommenden zwei Jahren geht es uns vor allem um die Lösung von Konflikten wie in Afghanistan, im Nahen Osten oder in Afrika, um Klimaschutz und Entwicklung, um Abrüstung und nuklearer Nichtverbreitung. Wir wollen im Sicherheitsrat eine werteorientierte Außenpolitik vertreten.

Wirtschaftsminister Brüderle fürchtet einen Krieg der Märkte, wenn Länder wie China weiterhin ihre Währungen unterbewerten. Teilen Sie die Furcht?

Westerwelle:

Der Bundeswirtschaftsminister hat zu Recht auf diese wichtige Frage der Weltwirtschaft hingewiesen. Die künstliche Unterbewertung einer Währung verschafft einem Land Exportvorteile gegenüber anderen Ländern. Darunter kann auch die Exportnation Deutschland leiden.

Die USA kündigen bereits Strafzölle gegen chinesische Waren an.

Westerwelle:

Ich bin kein Anhänger von Protektionismus. Auch ich habe mit der chinesischen Regierung vor Kurzem das Problem der Währungsbewertung besprochen. Wir werden das Thema weiter beharrlich verfolgen.

Wir jubeln an einem Tag über den Friedensnobelpreis für einen inhaftierten chinesischen Bürgerrechtler, am anderen Tag bejubeln wir den Absatzboom von VW in China. Ist das deutsche Doppelmoral?

Westerwelle:

Gerade Handel und Austausch sind ein Instrument, um andere Länder bei inneren Reformen voranzubringen. Wir haben es nicht nur mit einer Globalisierung der Wirtschaft zu tun, sondern auch mit einer Globalisierung von Ansichten und Haltungen, von Werten und rechtstaatlichen Grundsätzen. Wandel kann man auch durch Handel bewirken. Ohne diesen Grundsatz hätten wir Deutsche unsere Wiedervereinigung 1990 vermutlich nicht feiern können.

Sie vermuten also, dass sich in einem Riesenreich wie China durch Handelsbeziehungen auch Rechtsordnungen ändern können. Mit Verlaub: Sind Sie naiv?

Westerwelle:

Internationale Beziehungen sind sehr kompliziert. Aber wir haben in Europa bewiesen, dass es so funktionieren kann. Die Ostpolitik nach 1969 hat gezeigt, dass man mit intensivem Dialog und Handelsaustausch sehr wohl auch nach innen einen Reformprozess in Gang setzen kann. Aus wirtschaftlichem Austausch erwächst auch Horizonterweiterung. Einsichten vermitteln sich besser. Unsere interessengeleitete und zugleich werteorientierte Politik sind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich gut.

Soll Liu Xiaobo seinen Nobelpreis in Oslo entgegennehmen dürfen?

Westerwelle:

Wir setzen uns für Liu Xiaobos Freilassung ein. Und wir würden es begrüßen, wenn er seinen Preis in Oslo persönlich entgegennehmen kann. Diese Auffassung ist auch der chinesischen Regierung bekannt.

Die FDP regiert seit fast einem Jahr. Das zentrale Wahlversprechen, nämlich Steuersenkungen, ist vorerst verschoben. Wann werden die Bürger entlastet?

Westerwelle:

Die Bürger wurden in diesem Jahr bereits um rund 25 Milliarden Euro entlastet. Allein die Erhöhung des Kindergeldes hat einer vierköpfigen Familie 480 Euro mehr gebracht - und zwar netto. Unsere Entlastungen haben zu einer positiven Wirkung auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum geführt. Jetzt machen wir uns an das Thema Steuererleichterungen. Natürlich sind die Umfragewerte der Bundesregierung in Anbetracht schwieriger, aber notwendiger Entscheidungen, wie dem Schutz unserer Währung oder der Notwendigkeit zu sparen, nicht gerade komfortabel. Aber die Ergebnisse unserer Politik sind gut für unser Land. Die ganze Welt bestaunt unseren Aufschwung.

Die FDP liegt in den Umfragen bei vier Prozent. Sind die Deutschen undankbar?

Westerwelle:

Ich bin jetzt zehn Jahre Parteivorsitzender und war schon oft Umfragekönig. Das versüßt einem das trockene Brot der Opposition. Aber die Wahlergebnisse sahen danach leider oft ganz anders aus. In der Demokratie entscheiden Wahlen und nicht Umfragen oder eine Beliebtheitsdemoskopie.

Mit der Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers haben Sie sich besonders unbeliebt gemacht.

Westerwelle:

Es ist müßig zu philosophieren, ob man die Mehrwertsteuerermäßigung für die mittelständische Tourismuswirtschaft besser als Teil eines Gesamtpakets zur Mehrwertsteuer beschlossen hätte. Tatsache ist, dass diese und viele andere Maßnahmen zu dem Ergebnis geführt haben, dass der Mittelstand weiter entlastet wurde und wir eine so niedrige Arbeitslosigkeit haben, wie es keiner für möglich hielt. Wenn wir diesen Erfolg auch vor den Landtagswahlen 2011 vermitteln können, werden wir gute Wahlergebnisse für die bürgerlichen Parteien haben. Die Alternative aus SPD, Grünen und Linkspartei ist jedenfalls nicht verlockend, wenn ich an die neue Schuldenpolitik in Nordrhein-Westfalen denke oder das Bildungsfiasko der Grünen in Hamburg.

Reicht das, um die Landtagswahlen im kommenden Jahr für Schwarz-Gelb noch zu retten?

Westerwelle:

Jetzt geht es vor allem darum, ein Klima zu verhindern, das unser Land zu einer Dagegen-Republik werden lässt. Wenn man in Deutschland keine Straßen mehr bauen kann, keine Flughäfen, keine Stromleitungen und demnächst auch keine Bahnhöfe mehr, dann verspielen wir die Grundlagen unseres Wohlstands.

Ihr Verständnis für die Proteste in Stuttgart hält sich offenbar in Grenzen. Muss Stuttgart 21 um jeden Preis gebaut werden?

Westerwelle:

Dieses Bauprojekt wurde seit 15 Jahren geplant, auch SPD und grüne Verkehrspolitiker haben zugestimmt, und alle Gerichte haben den Bau bestätigt. Das ist für den Rechtsstaat verbindlich. Das Demonstrationsrecht ist ein heiliges Gut in der Demokratie, aber die Zuverlässigkeit des Rechtstaates ist es nicht weniger. Die Politik muss jetzt Haltung und Statur beweisen. Hätten Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher beim Nato-Doppelbeschluss nicht Statur gezeigt, auch gegenüber Millionen Demonstranten, wir hätten weder Gorbatschows Perestroika noch eine friedliche Revolution 1989 bekommen.

Möglicherweise geht es den Menschen in Stuttgart gar nicht so sehr um den Bahnhof, sondern um die Art, wie Entscheidungen kommuniziert werden.

Westerwelle:

Die grüne Dagegen-Partei nutzt das Thema Stuttgart 21 für ihren Wahlkampf auf Kosten der Zukunft Baden-Württembergs. Wenn eine grüne Senatorin in Hamburg Bäume fällen lässt, soll es ökologisch korrekt sein. Wenn eine andere politische Mehrheit in Stuttgart Bäume fällt, dann ist das gleich ein Verbrechen. Das ist eine bemerkenswerte Heuchelei. Würde der Bahnhof nicht gebaut, hätten wir eine europäische Verkehrsachse von Brüssel nach Budapest und mittendrin einen Sackgassenbahnhof in Deutschland. Das scheint mir wenig sinnvoll.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat sich gegen weitere Zuwanderung aus "fremden Kulturkreisen" ausgesprochen. Hat er damit der deutschen Außenpolitik Schaden zugefügt?

Westerwelle:

Ich empfehle, dass wir uns dem Thema Integration differenziert nähern. Der Staat muss ein klares Integrationsangebot machen, es gibt aber auch eine ebenso klare Verpflichtung zur Integration. Wenn Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult werden, beschädigt das deren Chancen im weiteren Leben und sorgt oft genug dafür, dass die ganze Schulklasse nicht genügend vorankommt.

Wie sollen die Kinder denn sprachsicher werden?

Westerwelle:

Wir brauchen bundesweit nicht nur Angebote für Sprachkurse vor der Einschulung, sondern auch verbindliche Sprachtests. Wenn die Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um dem Unterricht folgen zu können, sollte ein Kind noch ein Jahr die Vorschule besuchen. Lieber ein Jahr später anfangen als in der Schule unglücklich zu werden, weil man dem Unterricht nicht folgen kann.

Und die erwachsenen Migranten?

Westerwelle:

Ich bin für eine Integrationspolitik, die fördert, aber auch fordert. Die Multikulti-Wertebeliebigkeit vergangener Jahre ist gescheitert. Wir brauchen eine Demokratie, die Integration einfordert. Wer in Deutschland leben will, sollte unsere Sprache lernen und muss unsere Werte respektieren. Wir sollten auch keine Toleranz zulassen, wenn mit angeblich kulturellen Wurzeln oder religiöser Identität die Diskriminierung von Frauen und Mädchen gerechtfertigt werden soll.

Stimmt es, dass Zuwanderer aus der Türkei und dem arabischen Raum sich schwerer tun in Deutschland als andere, wie Seehofer sagt?

Westerwelle:

Es gibt Schwierigkeiten bei der Integration insgesamt, die wir nicht leugnen dürfen. Es gibt in vielen Ländern zahlreiche Beispiele gelungener Integration. Dort arbeiten sich junge Menschen aus Zuwandererfamilien mit überragendem Fleiß nach oben. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, warum andere Länder uns voraus sind. Ich bin überzeugt, dass ein Schlüssel zu erfolgreicher Integration das Erlernen der Sprache ist.

Müssen wir uns konkreter fragen, was uns ein Einwanderer nutzt?

Westerwelle:

Wir haben als Staat ein wohlverstandenes nationales Interesse zu fragen, wen wir einladen wollen, in Deutschland zu leben. Und wir haben ein Recht zu fragen, welchen Beitrag Einwanderer leisten wollen, damit nicht nur sie, sondern das ganze Land einen Gewinn davon haben. Wir brauchen eine Einwanderung, die sich an klaren Kriterien orientiert. Wir brauchen aber ebenso eine Debatte über die Auswanderung. Deutschland ist kein Einwanderungs-, sondern ein Auswanderungsland.

Inwiefern?

Westerwelle:

In den letzten Jahren hatten wir mehr Auswanderung als Einwanderung. Viele Talente und fleißige aufstiegsorientierte Familien haben unser Land verlassen, Menschen, die sich in ihrer Schaffenskraft nicht frei genug fühlten und mehr erreichen wollten. Die Frage, was wir gegen diese Auswanderung tun können, ist genauso wichtig wie die Frage, welche Einwanderungspolitik wir wollen. Ich wundere mich, warum das so wenig debattiert wird.