Schavan will 300.000 Fachkräfte anlocken. Ihre Unionskollegen planen Strafen für Zuwanderer, die Integrationskurse schwänzen.
Berlin/Hamburg. Der eine ruft nach einem Punktesystem für Zuwanderer à la Kanada, die andere verspricht 300.000 neue Fachkräfte aus dem Ausland – und eine leichtere Anerkennung von Schul- und Studienabschlüssen. Und auf der anderen Seite der schwarz-gelben Koalition regt sich Widerstand gegen Zuwanderung. Die Debatte um die Integration und die Zuwanderung überschattet den Besuch des Bundespräsidenten Christian Wulff in der Türkei. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte Wulff im Hamburger Abendblatt auf, er solle seinen Staatsbesuch in der Türkei nutzen, konstruktiv über Integration zu reden und sich von „Rechtspopulisten“ wie Seehofer distanzieren. Wulff sollte deutlich machen, „die Integrationsdebatte in Deutschland wird nicht von den Rechtspopulisten Seehofer und Sarrazin dominiert, sondern von einem parteiübergreifenden Interesse an einer rationalen Debatte um die beste Integrationspolitik“.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) plädiert angesichts des erwarteten Fachkräftemangels in Deutschland für ein Punktesystem für Einwanderer. Er verwies im ZDF auf Erfahrungen in Kanada oder Australien. Entscheidend müsse sein, wo es Engpässe in der Wirtschaft gebe. Die Punkte könnten etwa nach Schul- oder Berufsausbildung vergeben werden. Gefragt, ob es das System in Deutschland noch in dieser Legislaturperiode geben werde, antwortete Brüderle: „Ich hoffe sehr.“
Zugleich wandte sich Brüderle gegen die Vorstellung, wegen des Fachkräftemangels nur auf die Qualifizierung von Arbeitslosen zu setzen. Man müsse sie zwar einbeziehen. Man könne aber nicht aus jedem Schulabbrecher einen IT-Spezialisten machen . Auch habe man viele deutsche Fachkräfte und Wissenschaftler in den vergangenen Jahren verloren.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) versprach der Wirtschaft bis zu 300.000 Fachkräfte durch die leichtere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. „Wir wollen das Potenzial, das in unserem Land schlummert, aktivieren“, sagte sie der „Financial Times Deutschland“. Sie verspreche sich vor allem in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, Pflegeberufen und in der Medizin Fachkräfte. Bis Jahresende solle das entsprechende Gesetz verabschiedet werden.
CSU-Chef Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatten sich am Wochenende in die Debatte um Integration eingeschaltet und vor einer romantischen Betrachtungsweise gewarnt. Die Idee von „Multikulti“ sei gescheitert, weil sich viele gar nicht integrieren wollten. Grünen-Chefin Claudia Roth warf Seehofer Hetze gegen Menschen vor, denen Deutschland eine Heimat geworden ist. Zuvor hatte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin erklärt, Seehofer bereite den Boden für Rechtsextremismus. Seehofers ablehnende Haltung zur weiteren Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer löste auch bei FDP-Generalsekretär Christian Lindner Widerspruch aus.
CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt stellte sich an die Seite Seehofers. Statt einer „ungezügelten Zuwanderung“ müssten Integrationsdefizite abgebaut werden. Bei drei Millionen Arbeitslosen in Deutschland brauche das Land „eine Qualifizierungsoffensive und keine Zuwanderungsoffensive“.
Dem widersprach der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann. „Es gibt massive Handlungsnotwendigkeiten“, sagte er. „Im Augenblick kommen 700.000 Menschen pro Jahr rein, aber mehr als 700.000 Menschen verlassen uns auch wieder. Wir sind ein Auswanderungsland.“ Das sei eine gefährliche Entwicklung, die in den nächsten 20 bis 30 Jahren zu erheblichen Anpassungsschwierigkeiten führen werde, sagte Zimmermann. Nötig seien „jährlich 500.000 Menschen netto mehr im Land“.
Nach Angaben des CSU-Innenpolitikers Hans-Peter Uhl will die Koalition noch in diesem Monat ein Gesetzespaket für ein härteres Durchgreifen gegen Integrationsverweigerer auf den Weg bringen. Danach sollen die Träger von Integrationskursen gesetzlich verpflichtet werden, den Sozial- und Ausländerbehörden sofort zu melden, wenn Migranten Kurse trotz Teilnahmepflicht fernbleiben. Die Koalitionspläne zielen nach Angaben des Vorsitzenden des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), zudem darauf ab, Zwangsehen unter Strafe zu stellen und Scheinehen einen Riegel vorzuschieben.