Die Kritik am Einsatz am Hindukusch wird lauter. Ein ehemaliger Elitesoldat berichtet vom harten Kampf und lähmender Bürokratie.
Achim Wohlgethan zuckt zusammen, als plötzlich verzweifelte Schreie über das Feld hallen. Er blickt durch sein Fernglas und sieht eine verschleierte Frau; sie läuft auf ihn zu. In einem Kilometer Entfernung liegt ein kleines Dorf, irgendwo auf der Strecke zwischen dem deutschen Feldlager Kundus und der tadschikischen Grenze. Es ist Ende Dezember in Afghanistan, eiskalter Matsch behindert jeden Schritt. Achim ist Elitesoldat und Teil eines Erkundungstrupps. Vier Tage sind sie mit ihren klapprigen Toyota-Jeeps unterwegs. Gerade haben sie eine Pause eingelegt. Und nun diese Schreie.
Als die Frau noch 250 Meter entfernt ist, bricht sie zusammen. Der deutsche Stabsarzt Tim und sein Assistent rennen los. Achim, der als "Medic" auch eine medizinische Ausbildung hat, und seine Kameraden Gerko und Nils halten die Waffen bereit. Es könnte ja sein, dass die Frau eine Bombe unter ihrer Burka hat. Doch sie windet sich wimmernd auf dem Boden; sie ist hochschwanger. Tim fällt eine brisante Entscheidung und schiebt ihr die Burka hoch, um sie zu untersuchen. Die Männer prallen zurück; ein unbeschreiblicher Gestank wabert ihnen entgegen. "Die Fruchtblase ist vor Tagen geplatzt", sagt der Bundeswehr-Arzt gepresst, "seitdem trägt sie ein totes Kind in sich."
Die Deutschen bereiten sich schon auf einen Noteingriff mitten auf dem schlammigen Feld vor, als ein Mann wild gestikulierend angerannt kommt. Er bedeutet den Soldaten, sofort zu verschwinden. Ein zweiter Afghane erscheint, mit einem Eselskarren. Wie ein Sack Getreide wird die Sterbende aufgeladen und fortgekarrt. Fassungslos bleiben die Bundeswehrsoldaten zurück.
Auf der Weiterfahrt passieren sie das Dorf; am Ortsende liegt ein Bündel im Straßengraben. Es sieht aus wie die schwangere Frau. Stabsarzt Tim sitzt wie versteinert im Wagen. Er ist nach Afghanistan gekommen, um den Menschen zu helfen, und kann es oft doch nicht. Es ist ein hartes, fremdartiges Land.
Auch Achim sitzt lange wortlos da. Und er ist ein Mann, der nicht leicht aus der Fassung zu bringen ist, jemand, den man gern an seiner Seite haben würde, wenn es hart auf hart geht. Gut einsneunzig groß, geschätzte 100 Kilo Muskeln; das T-Shirt ist angesichts der wuchtigen Schultern sichtlich überfordert. Der heute 43-Jährige, der die Bundeswehr 2006 verlassen hat und in Wolfsburg eine Firma für Sicherheits- und Medienberatung betreibt, war ein Elitesoldat der Sonderklasse. Er hat alle denkbaren Lehrgänge als Einzelkämpfer und Fallschirmspringer absolviert, ist Hubschrauberpilot, Medic, ist unter anderem Ausbilder in der kompromisslosen israelischen Kampfkunst Krav Maga.
Er hat fast ein Jahr in gefährlicher Mission in Afghanistan zugebracht, dabei auch Aufträge erfüllt, die immer noch der Geheimhaltung unterliegen. Nach Verlassen der Bundeswehr hat er ein Buch über seinen ersten Einsatz am Hindukusch geschrieben. "Endstation Kabul" wurde ein sensationeller Erfolg und hielt sich lange auf der "Spiegel"-Bestsellerliste.
Nun liegt sein zweiter Bericht vor. "Operation Kundus" schildert seinen zweiten Einsatz in Afghanistan. Auch darin befasst er sich kritisch mit den schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der deutschen Soldaten am Hindukusch, mit der oft mangelnden Unterstützung durch politische und militärische Führung und mit der lähmenden deutschen Bürokratie.
Und die setzte schon mit Wucht beim Flug nach Kundus ein, wo die Bundeswehr nach dem Lager in Kabul einen zweiten Stützpunkt errichtete. Achim gehörte zum Vorauskommando, und es ging immerhin in ein ungesichertes Gebiet. Doch da dort offiziell kein Krieg herrschte, galt das zivile Luftverkehrsgesetz. Der Elitesoldat erzählt, wie ihm und seinen Kameraden von den deutschen Vorgesetzten alle Waffen - selbst kleine Taschenmesser - abgeknöpft wurden. "Die wurden alle auf Europaletten gepackt und eingeschweißt. Kurz vor der Landung haben wir die dann auf eigene Faust an uns genommen." Allerdings ohne Munition.
Der Vorschrift nach durften Personal und Munition nämlich nicht gemeinsam befördert werden. "Wir klebten die durchsichtigen Magazine der G-36-Sturmgewehre ab, damit mögliche Gegner nicht sehen konnten, dass sie leer waren", erzählt Achim. "Als wir in Kundus zwischen ausgebrannten Panzern und allerlei Bewaffneten unsere Sicherungspositionen einnahmen, konnten wir nur böse gucken - unsere Munition kam mit einem späteren Flieger an." Geschützte Militärfahrzeuge hatte ihnen die Bundeswehr mangels Transportkapazität auch nicht zur Verfügung gestellt. Ein mit Glöckchen behängter alter afghanischer Zivilbus, ein "Jingle Truck", holte die Truppe ab - die sich dann schrottreife zivile Toyotas mieten musste, um überhaupt mobil zu sein.
Zum Thema Fahrzeuge und Bundeswehr-Bürokratie kann Achim einiges erzählen. "Wenn wir in Afghanistan nachts Patrouille fuhren, mussten wir die Frontscheiben abklappen, sonst hätten die Nachtsichtgeräte nicht funktioniert", sagt er. "Die Taliban wussten das und spannten Drähte über die Straße. Mein Koautor des ersten Buches, Hauptmann Dirk Schulze, wurde einmal fast geköpft und hat heute noch eine Narbe." Die findigen Soldaten bauten nach dem Vorbild der erfahreneren Verbündeten Kabelabweiser an die Wagen, montierten ein Maschinengewehr aufs Dach, Behälter für Wasserkanister und drehten den hinteren Sitz um, damit ein Soldat nach hinten sichern konnte. "Damit war es ein recht gutes Gefechtsfahrzeug. Aber als der Technische Offizier dies sah, bekamen wir einen Riesenärger. Der TO legte diese Wagen sofort still - wegen Verstoßes gegen die deutschen Sicherheitsbestimmungen. Wir mussten alles wieder abbauen." Im Feldlager - mitten im Krieg am wilden Hindukusch - galt treuherzig die deutsche Straßenverkehrsordnung. "15 km/h Höchstgeschwindigkeit - ich bin mit 18 km/h geblitzt worden und musste Strafe zahlen", entrüstet sich Achim Wohlgethan. "Soweit ich weiß, sind derzeit 70 Prozent der Fahrzeuge in Kundus gesperrt - unter anderem wegen fehlender Abgas-Sonderuntersuchungen." Seine privat beschaffte, dringend benötigte Zusatzausrüstung blieb übrigens bis zum Ende seines Einsatzes auf der Palette. Der zuständige Materialverwalter habe sie unbedingt ungeöffnet wieder abgeben wollen, um eine arbeitsaufwendige Inventur des gesamten Inhalts zu vermeiden, berichtet Wohlgethan.
Dem einstigen Mitglied des "Spezialzugs" geht es bei seiner kritischen Rückbesinnung darum, dass die Einsätze der deutschen Soldaten besser gewürdigt werden, dass sie die beste Ausrüstung bekommen und nicht ständig durch alberne Vorschriften demotiviert werden.
Die Soldaten sind oft stärksten psychischen Belastungen im Einsatz ausgesetzt. Und dies nicht nur bei Anschlägen, wie Achim Wohlgethan sie erlebt hat. Er lag einmal mit drei Kameraden in einem Beobachtungsversteck in Kabul, als er einen Knall hörte. Minuten später folgte eine gigantische Detonation. Achim schildert, wie sie zu einem nahen Marktplatz rannten, der bereits im Blut schwamm. Hunderte zum Teil entsetzlich verletzte Menschen wälzten sich schreiend auf der Erde, die mit Leichenteilen bedeckt war. Helfen konnten die deutschen Soldaten nicht viel. Die Taliban hatten einen kleinen Sprengsatz an einem Fahrrad zur Detonation angebracht, und als eine Menschenmenge zusammenlief, um den Verletzten zu helfen, zündeten sie eine Autobombe.
"Danach fährst du zurück ins Lager", erzählt Achim, "du wäschst immer und immer wieder wie im Zwang das Blut ab, reinigst routinemäßig deine Kleidung und deine Waffen. Doch wenn du dich dann aufs Bett setzt und das Adrenalin abklingt, dann geht das große Zittern los."
Wohlgethan erlebte, wie abgestumpfte Isaf-Soldaten Kinder heranlockten und Äpfel weit in ein minenverdächtiges Gelände warfen. Wenn die Kinder mit den Äpfeln zurückkamen, ohne in die Luft geflogen zu sein, wurde das Gebiet auf den Plänen als minenfrei markiert.
"Es ist auch belastend für die Soldaten, wenn sie sehen, wie etwa eine Frau vor ihren Augen schwer misshandelt wird und sie nicht helfen dürfen. Denn sonst heißt es, die Deutschen respektieren unsere Sitten nicht." Sogar in Deutschland reißt der Stress nicht ab - wenn heimgekehrte Soldaten oder ihre Familien Drohungen an ihren Fahrzeugen finden. Taliban-Komplizen hatten die Mülltüten im Feldlager nach achtlos weggeworfenen Briefen mit Adressen durchsucht und sie an radikale Afghanen in Deutschland gemailt. Am Ende des zweiten Einsatzes war Achim Wohlgethan ausgebrannt und orientierungslos. Seine Beziehung zerbrach, er verbrachte Wochen im Bundeswehr-Krankenhaus in Hamburg. Auf "posttraumatische Belastungsstörungen" spezialisierte Ärzte behandelten ihn.
Wohlgethan hat trotz aller Erlebnisse das Land Afghanistan und seine Menschen lieben gelernt. Das meint er auch so. Und er ist überzeugt: "Wir haben wirklich dort etwas bewirkt." Doch eines ärgert ihn maßlos: "Die deutsche Bürokratie sagte ja immer: Es ist kein Krieg. Also galten am Hindukusch die gleichen Regeln wie im deutschen Kasernenalltag. Da vertrittst du in Afghanistan dein Land - und bist stolz darauf. Und dann bekommst du nicht den Rückhalt, den du benötigst."