61 Menschen sollen gestorben sein, weil die Nato nicht geholfen habe. Zeugen berichten außerdem von einem Unglück mit 600 Toten.
Brüssel. Auf dem Weg von Libyen nach Italien sollen 61 Flüchtlinge ums Leben gekommen sein, weil sie von Schiffen und Flugzeugen der Nato nicht gerettet wurden. Eine Sprecherin der Nato bestritt am Montag in Brüssel einen entsprechenden Bericht der britischen Zeitung „The Guardian“. „Die Nato-Schiffe sind sich ihrer Verantwortung gemäß dem internationalen Seerecht voll und ganz bewusst“, sagte sie.
Das Blatt berichtete, von 72 Passagieren eines Flüchtlingsbootes aus der Nähe von Tripolis – darunter Frauen, Kinder und politisch Verfolgte – hätten nur elf überlebt. Die anderen 61 seien umgekommen, obwohl die besorgniserregende Lage ihres kleinen Bootes den vor der Küste Libyens patrouillierenden europäischen Streitkräften klar gewesen sei. „Das Mittelmeer darf nicht zum Wilden Westen werden“, wurde eine Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissars zitiert.
Das Flüchtlingsboot trieb laut Zeitung nach einem Ausfall des Motors wegen Treibstoffmangels 16 Tage im Mittelmeer. „Jeden Tag wachten wir auf und fanden neue Leichen, die wir nach 24 Stunden über Bord warfen“, zitiert das Blatt einen Überlebenden. Bei den Insassen des Bootes, die die italienische Insel Lampedusa zu erreichen suchten, habe es sich um 47 Äthiopier, 7 Nigerianer, 7 Eritreer, 6 Ghanaer und 5 Sudanesen gehandelt.
Die Passagiere hätten per Satellitentelefon einen Mittelsmann in Rom informiert, der wiederum die italienische Küstenwache benachrichtigt habe. Ein Hubschrauber sei dann über dem Boot angekommen: Die Besatzung habe Trinkwasser herabgelassen und Hilfe angekündigt. Diese sei nie angekommen. Später hätten die Flüchtlinge einen Flugzeugträger gesehen, von dem zwei Jets aufgestiegen und niedrig über die Schiffbrüchigen geflogen seien. Auch dann jedoch sei keine Hilfe gekommen.
Die Nato-Sprecherin sagte, zum fraglichen Zeitpunkt habe sich lediglich der italienische Flugzeugträger „Garibaldi“ im Mittelmeer befunden – allerdings etwa 100 Seemeilen von der Unfallstelle entfernt. Der „Guardian“ schrieb, dass der Flugzeugträger, von dem Überlebende berichteten, das französische Schiff „Charles de Gaulle“ gewesen sei. Französische Stellen hätten dies bestritten, auf spätere Vorhaltung jedoch nicht mehr reagiert.
Die Sprecherin des Bündnisses sagte, Nato-Soldaten hätten erst kurz vor dem berichteten Zwischenfall bei zwei Aktionen rund 500 Menschen auf offener See vor dem Ertrinken bewahrt.
Unterdessen wurden vor Lampedusa die Leichen von drei Flüchtlingen geborgen. Italienischen Medienberichten zufolge entdeckte die Küstenwache die Toten am Montag bei Bergungsarbeiten unter einem Boot, das am Vortag mit rund 500 Flüchtlingen aus Libyen an Bord vor dem Hafen der Insel auf Felsen aufgelaufen war. In einer Massenpanik hatten sich viele der verzweifelten Menschen ins Wasser gestürzt. Hunderte konnten gerettet werden.
Seit Beginn der nordafrikanischen Revolutionswelle im Januar landeten etwa 30 000 Menschen auf der 20 Quadratkilometer großen Mittelmeer-Insel, davon rund 25 000 allein aus Tunesien.
Flüchtlingsboot mit 600 Menschen an Bord soll gesunken sein
600 Menschen sollen am Freitag vor der Küste Libyens mit einem Flüchtlingsboot gesunken sein. Nach Berichten von Augenzeugen sei das Boot auf dem Meer auseinandergebrochen und untergegangen. Eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erklärte am Montag, man bemühe sich derzeit um eine Bestätigung der Angaben. Durch die anhaltenden Kämpfe in Libyen sei es allerdings schwierig, an verlässliche Informationen zu den Flüchtlingen zu kommen.
Augenzeugen, die wenig später an Bord eines anderen Schiffes in See stachen, sagten, sie hätten das Wrack und Leichen im Wasser gesehen. Dieses Schiff erreichte später Italien.
UNHCR-Sprecherin Laura Boldrini erklärte, in den vergangenen Monaten hätten mindestens drei Flüchtlingsschiffe Libyen verlassen und Italien nie erreicht. Bis zu 1.000 Menschen könnten dabei ums Leben gekommen sein.
Verantwortlich für die Schiffshavarien seien vor allem die größeren Boote, die Schlepper angesichts der Flüchtlingswelle aus Nordafrika verwenden und die sie nicht steuern könnten, sagte Boldrini.
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Menschenrechtler werfen Gaddafi Kriegsverbrechen vor
In Libyen verdichten sich nach Angaben der Menschenrechts-Organisation Amnesty International die Hinweise, dass die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi bei ihren Angriffen auf die Stadt Misrata Kriegsverbrechen begehen. Der wahllose Beschuss von Wohngebieten mit Granaten und Raketen, die Tötung von Zivilisten durch Heckenschützen und der Einsatz von international geächteten Streubomben im städtischen Umfeld stellten massive Verletzungen entsprechender Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung dar, stellt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht fest. „Bei den häufigen und oft wahllosen Angriffen der Truppen von Oberst Gaddafi auf Wohngebiete wurden zahllose Bewohner, die am bewaffneten Konflikt nicht teilnahmen, getötet und Hunderte verletzt“, heißt es in dem mehr als 40 Seiten starken Bericht „Misrata – Unter Belagerung und unter Feuer“.
Der Bericht dokumentiert ausführlich einige dieser auch militärisch fragwürdigen Attacken und ihre Opfer. „Auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungen glaubt Amnesty International, dass einige der von den Truppen von Oberst Gaddafi begangenen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Misrata und anderswo im Land Kriegsverbrechen darstellen könnten.“
Misrata, mit 300.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Libyens, ist die einzige Großstadt im westlichen Landesteil, die von den Regimegegnern kontrolliert wird. Die Gaddafi-Truppen belagern sie seit mehr als zwei Monaten. Nach Angaben der Regimegegner wurden bei den Angriffen bis zu 1000 Menschen getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte bereits im April berichtet, dass die Gaddafi-Truppen auch Streubomben gegen Wohngebiete einsetzen.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Luis Moreno-Ocampo, will in den kommenden Wochen offiziell Haftbefehl gegen drei Libyer wegen Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht beantragen. Die drei Regimegrößen, deren Namen er nicht nannte, sollen „umfassend und systematisch“ friedliche Demonstranten getötet haben, hatte Moreno-Ocampo am Mittwoch bei einer Sondersitzung des Uno-Sicherheitsrats in New York erklärt. Den bewaffneten Auseinandersetzungen in Libyen waren friedliche Bürgerproteste vorangegangen, die vom Gaddafi-Regime blutig unterdrückt wurden.
Auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa sind unterdessen erneut Hunderte Flüchtlinge aus Afrika gelandet. Wie die Polizei mitteilte, erreichten binnen 24 Stunden Boote mit insgesamt mehr als 700 Menschen die auf halber Strecke zwischen Tunesien und Sizilien gelegene Insel. Die Flüchtlingskrise hat zu Forderungen Frankreichs und Italiens geführt, wieder Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten zuzulassen. Seit den politischen Umbrüchen in Nordafrika sind etwa 25.000 Menschen, vornehmlich aus Tunesien, auf Lampedusa und auf Malta gelandet. Viele wollen nach Frankreich, wo bereits zahlreiche Tunesier leben. Italien hatte diesen Flüchtlingen Visa für den Schengen-Raum ausgestellt, was zu Verstimmungen mit Frankreich und auch mit Deutschland führte.
Spanische Behörden haben am Freitag mit der Suche nach 22 auf See vermissten afrikanischen Flüchtlingen begonnen. Die 19 Männer, eine Frau und zwei Kinder würden vermisst, seit das voll besetzte Flüchtlingsboot, mit dem sie unterwegs waren, am Donnerstag in Seenot geriet, sagte Polizeisprecher Juan Carlos Lopez. Die übrigen 23 Männer sowie zwei Frauen und ein Kind wurden demnach gerettet. Spanische Patrouillen hatten das mit afrikanischen Flüchtlingen besetzte Boot am Freitagmorgen rund 30 Seemeilen vor der südspanischen Stadt Motril entdeckt.
Der italienische Außenminister hält ein baldiges Ende der Nato-Mission in Libyen für realistisch. Es sei „realistisch ein Ende binnen drei bis vier Wochen anzunehmen“, sagte Franco Frattini. Doch müsse der Druck auf Machthaber Gaddafi erhöht werden, um eine politische Lösung zu ermöglichen. Dies sei auch ein Ergebnis des dritten Treffens der Libyen-Kontaktgruppe am Vortag in Rom.
Eine frühere Krankenschwester Gaddafis hat nach Presseberichten Asyl in Norwegen beantragt. US-Diplomaten hatten die gebürtige Ukrainerin Galyna Kolotnytska in geheimen Depeschen als „dralle Blondine“ beschrieben, wie die Internetplattform WikiLeaks Ende 2010 enthüllte. Gaddafi habe der 38-Jährigen, die seiner Entourage angehörte, absolut vertraut. Wie die Zeitung „Dagbladet“ und andere Medien berichteten, hielt sich die Frau zuletzt in einem Flüchtlingszentrum nahe der Hauptstadt Oslo auf. Ein Sprecher der norwegischen Einwanderungsbehörde UDI lehnte einen Kommentar mit dem Hinweis ab, dass Asylangelegenheiten vertraulich behandelt würden.
Frankreich hat unterdessen 14 libysche Diplomaten des Gaddafi-Regimes ausgewiesen. Die Diplomaten seien „unerwünschte Personen“ und müssten Frankreich spätestens in 48 Stunden verlassen, teilte das Außenministerium in Paris mit. Die französische Regierung hat als erstes europäisches Land den Übergangsrat der Aufständischen in Libyen anerkannt, daher betrachtet sie die Gaddafi-Diplomaten nicht mehr als legitime Vertreter ihres Landes. Nicht betroffen sind der Botschafter Libyens Salah Zaren und Unesco-Botschafter Abdul Salam al-Galali, die im Februar zu den Aufständischen übergetreten waren. (dpa/rtr/dapd/AFP)