Wiesbaden. Die Grünen wählen mit 96,5 Prozent Robert Habeck zum Kanzlerkandidaten. Doch wahrscheinlicher als das Kanzleramt ist eine andere Option.
Robert Habeck beginnt am ganz am Anfang. Als er am Sonntagmittag alleine auf der Bühne steht, um sich für die Kanzlerkandidatur seiner Partei zu bewerben, geht er zuerst noch einmal weit zurück. Ins Jahr 2018, als er und Annalena Baerbock die Grünen als Co-Chefs übernahmen und aus einer Partei, die seit Jahren um die 10-Prozent-Marke kreiste, eine der einflussreichsten der Republik machten. Die gleiche Energie, die gleiche Freude wie damals sei auch jetzt wieder zu spüren, sagt Habeck. „Es fühlt sich an wie 2018.“
Tatsächlich ist es fast sieben Jahre später. 2018 waren die Grünen in der Opposition, auf dem Sprung, bei der Europawahl im nächsten Jahr ein Rekordergebnis zu holen. Heute sind sie Regierungspartei, tragen die Narben von drei Jahren Kämpfen mit SPD und FDP. Und Robert Habeck macht sich auf den Weg, die Partei in einen harten, kurzen Wahlkampf zu führen – „wenn es uns ganz weit trägt, auch bis ins Kanzleramt“.
Auf Robert Habeck wartet ein schwieriger Spagat
In der Halle in Wiesbaden jubeln sie, als Habeck das sagt. Doch der Weg ins Kanzleramt ist weit. Die Grünen haben viel Wohlwollen verloren in den Ampel-Jahren, in zwei Schritten ging es abwärts in den Umfragen. Nachdem der verunglückte erste Entwurf des Heizungsgesetzes öffentlich wurde, sanken die Zustimmungswerte innerhalb weniger Monate von 20 auf 14 bis 15 Prozent. Und als in diesem Frühjahr mit Zustimmung grüner Minister ausgerechnet das Klimaschutzgesetz verwässert wurde, sackten sie noch einmal weiter ab, zu den 10 bis 12 Prozent, bei denen sie seither wie angenagelt stehen.
Habeck muss deshalb einen schwierigen Spagat schaffen: Diejenigen abzuholen, die sich von den Grünen in der Regierung mehr erhofft hatten – und ebenso diejenigen, denen die Partei zu schnell zu viel wollte. Selbst wenn das fehlerfrei gelingt, wird es schwierig für die Grünen, stärkste Kraft zu werden. Wahrscheinlicher wäre erneut die Rolle als Juniorpartner, wenn möglich in einem Zweierbündnis. Will die Partei weiterhin regieren, heißt ihre beste Chance deshalb voraussichtlich: schwarz-grün. Ohne an Profil einzubüßen, darf deshalb im Wahlkampf auch der Abstand zur Union nicht unüberbrückbar groß werden.
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In Richtung Friedrich Merz findet Habeck lobende Worte
In der Rede, die der Vizekanzler am Sonntag hält, sind diese widersprüchlichen Anforderungen gut ablesbar: Das Bekenntnis etwa, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht ins Strafrecht gehören, und die Forderung, Gas- und Ölkonzerne sollten für Klimaschäden aufkommen, sind Signale des Realo-Grünen Habeck an den linken Teil seiner Partei, dass auch dessen Inhalte im Wahlkampf eine Rolle spielen sollen. In Richtung von CDU und CSU betont Habeck, wie wichtig wirtschaftliches Wachstum und soziale Marktwirtschaft seien, und lobt die neue Offenheit von CDU-Chef Friedrich Merz für eine Reform der Schuldenbremse.
Und als Ursache grundlegender Probleme des Landes – der fatalen Abhängigkeit von russischem Gas, der maroden Infrastruktur, der fehlenden Digitalisierung – nennt er immer wieder: die große Koalition. „Sie ist der Grund für den Stillstand.“ Auf keinen Fall noch einmal schwarz-rot, das ist die erste von zwei Botschaften an das Land.
„Die Frage, ob ich noch der richtige bin, euch ein Angebot zu machen, Deutschland ein Angebot zu machen, war keine theoretische.“
Habeck erntet stürmischen Applaus der Delegierten
Die zweite ist eine persönliche, eine, die signalisieren soll, dass der Wirtschaftsminister, der wie wenige andere Politiker im Land polarisiert, mit der gebotenen Demut in den Wahlkampf geht. Habeck senkt die Stimme, im Saal wird es leise, als er berichtet, einen Rückzug erwogen zu haben. „Die Frage, ob ich noch der richtige bin, euch ein Angebot zu machen, Deutschland ein Angebot zu machen, war keine theoretische.“ Es sei offensichtlich gewesen, dass die verlorenen Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern auch an seiner Rolle in der Ampel-Koalition gelegen hätten. Die Antwort, sagt Habeck, die er anbieten könne, sei die: „Jetzt nicht zu kneifen.“
Bei den Delegierten jedenfalls kommt diese Antwort gut an, der Applaus im Saal ist stürmisch, an dieser Stelle und an vielen anderen. Der Antrag, der ihn als Kandidaten offiziell bestätigt, erhält am Ende 96,5 Prozent der Stimmen.
SPD und FDP streiten über Deutung des Ampel-Bruchs
Was Habeck und den Grünen auf dem Weg in eine mögliche neue Regierungsbeteiligung in die Hände spielen dürfte, ist die Situation der Konkurrenz. Recherchen von „Zeit“ und „Süddeutscher Zeitung“ hatten in den noch rauchenden Trümmern der Ampel-Koalition am Wochenende neue Auseinandersetzungen von FDP und SPD ausgelöst. Demnach soll die FDP den Koalitionsbruch gewollt und seit Monaten akribisch vorbereitet haben.
Die SPD reagierte darauf mit großer Härte, Parteichef Lars Klingbeil sprach von „Verhöhnung der Demokratie“. Liberalen-Chef Christian Lindner versuchte die Flucht nach vorn, in dem er den Vorgang als selbstverständlich darstellte: „Es ist Wahlkampf. Wo ist die Nachricht?“ Habeck dagegen ignorierte den Streit um die Deutungshoheit weitgehend. Nur einen Seitenhieb erlaubt er sich – es sei „ein Irrtum zu glauben, dass Liberalismus bedeutet, man denke nur an sich selbst“.
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Im Sozialen und beim Klimaschutz ist die Distanz der Grünen zur Union groß
Zwei Streithähne auf der einen Seite, die Grünen, die nicht nachtreten wollen, auf der anderen: Auch mit diesem Bild empfiehlt sich die Partei als Koalitionspartner. Ein Selbstläufer wäre ein Bündnis mit der Union allerdings nicht. Im Sozialen zum Beispiel oder beim Klimaschutz ist die inhaltliche Distanz an vielen Stellen groß. Und bei den Grünen haben sie nicht vergessen, wie hart aus CDU und CSU in den vergangenen Monaten gegen sie geschossen wurde. „Wenn es nach mir geht, müsste Friedrich Merz auf Knien kommen“, kommentiert jemand aus der Bundestagsfraktion die Aussicht auf eine solche Konstellation.
Und auch auf Unionsseite gibt es Hindernisse, das wahrscheinlich größte sitzt in München. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder war in den vergangenen Monaten nicht müde geworden, zu wiederholen, dass ein schwarz-grünes Bündnis für ihn nicht in Frage kommt. Eine Gelegenheit, das zu betonen, ließ er kürzlich allerdings aus: Ausgerechnet bei seiner Rede im Bundestag verzichtete Söder darauf, diese rote Linie nachzuziehen. Den Grünen ist es nicht entgangen.
Bei den Grünen setzen sie auf das Charisma von Robert Habeck
Damit eine schwarz-grüne Koalition in Frage kommt, müssen die Grünen allerdings erst einmal stark genug werden. In der Partei setzen sie darauf, dass da unter anderem der persönliche Vergleich mit den anderen Kanzlerkandidaten helfen könnte: Bei den persönlichen Werten Charisma und Glaubwürdigkeit sah eine repräsentative YouGov-Umfrage aus der vergangenen Woche Habeck deutlich vor Merz und Scholz.
Noch allerdings ist nicht final ausgemacht, dass das Bewerberfeld sein wird. Friedrich Merz als Kanzlerkandidat von CDU und CSU steht fest. Olaf Scholz steht dagegen unter Druck: Immer lauter wurden zuletzt in der SPD die Stimmen, die fordern, an seiner Stelle Boris Pistorius als Kanzlerkandidat der Sozialdemokratie ins Rennen zu schicken. Es ist eine Möglichkeit, die viele der Delegierten am Wochenende beschäftigt: Einen Plan, wie Habeck und die Grünen mit dem Verteidigungsminister als Konkurrenten umgehen würden, gibt es bislang nicht.
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