Berlin. Für Putin gibt es bei den Wahlen in Russland keine echte Konkurrenz. Berliner Aktivisten hoffen aber auf einen besonderen Protest.
Ivan Shishkin macht Anti-Wahlkampf. Der 20-Jährige beugt sich weit über seinen Laptop und spricht bemüht deutlich. Nach einigen Fehlversuchen hat er endlich eine potenzielle Wählerin in der Leitung, die bereit ist, ihm ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken. Er sei von einem russischen Institut und würde eine Umfrage durchführen, erzählt er ihr. Das ist gelogen. In Wahrheit ist Shishkin stellvertretender Koordinator der deutschen #freenavalny-Kampagne.
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Seine Mission: die Frau am anderen Ende der Leitung davon zu überzeugen, bei der anstehenden Wahl in Russland am Sonntag um 12 Uhr mittags in ihr Wahllokal zu gehen. Und nicht für den amtierenden Präsidenten Wladimir Putin zu stimmen, sondern eine ungültige Stimme abzugeben. Dieser Zeitpunkt soll ein Zeichen des Protests sein und zu einer Überfüllung der Wahllokale führen. Eine echte Alternative zu Putin gibt es bei der Wahl zwar nicht, eine Möglichkeit zu protestieren, ist es aber, ungültig zu wählen. Dadurch bleibt die Wahlbeteiligung hoch, doch der Stimmanteil Putins sinkt.
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Ob es Shishkin gelungen ist, die Russin davon zu überzeugen? Seine Kollegin Natalja, die das Gespräch mitgehört hat, ist skeptisch. Er habe versucht, einen Zusammenhang zwischen der verschlechterten medizinischen Versorgung und dem Krieg in der Ukraine herzustellen. Die Frau sei nicht darauf angesprungen.
Russland: Der russische Geheimdienst hört mit
In diesem Fall lässt sich nicht viel machen, sagt Natalja, die nicht will, dass ihr Nachname öffentlich genannt wird. „Der russische Geheimdienst hört Gespräche mit“, erklärt sie weiter. Um ihre eigene Sicherheit und auch die ihrer Gesprächspartner zu schützen, können sie nicht zu explizit werden und müssen die Tarnung als Umfrageinstitut wahren. Sie versuchen, in den Russinnen und Russen am anderen Ende der Leitung Zweifel am System Putin zu wecken, ohne dass es zu offensichtlich wird.
Es ist eine schwierige Aufgabe. Und oft kommt es nicht einmal zu einem richtigen Gespräch. Bei den fünf Telefonaten, die Shishkin an diesem Tag startet, wird einmal direkt aufgelegt, zweimal wird er auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet und einmal erwischt er ein automatisches Telefonbeantwortungssystem. Die Nummern, die Shishkin dabei wählt, sind nicht zufällig, sie werden ihm von dem Programm, das er nutzt, vorgegeben.
Alexej Nawalnys „Aufklärungsmaschine“ soll helfen
Das Onlinetool trägt den Namen „Aufklärungsmaschine“ und wurde von dem inzwischen verstorbenen Putin-Gegner Alexej Nawalny ins Leben gerufen. Nach welchen Maßgaben die Nummern ausgewählt werden, weiß Shishkin nicht. Nur, dass dort angerufen wird, wo in Russland gerade Tag ist. Das Land hat schließlich elf Zeitzonen. Jedes Gespräch folgt einem interaktiven Leitfaden, ebenfalls durch die „Aufklärungsmaschine“ bereitgestellt. Shishkin macht Eingaben, protokolliert seine Erfolge und Misserfolge.
Idealerweise kann er den Leitfaden komplett ausfüllen und am Ende den Protestaufruf platzieren. Im Februar sei es etwa 400 Mal gelungen, ein solches Gespräch erfolgreich zu führen, sagt Shishkin. Nicht durch ihn, sondern international durch alle Nutzer der „Aufklärungsmaschine“. Bei über 143 Millionen Russinnen und Russen ist das keine große Zahl.
Dennoch machen Ivan Shishkin und Natalja weiter. Seit Ende Februar steht ihnen dafür ein kleines Büro in einem Berliner Co-Working-Space zur Verfügung, gerade einmal zwei Schreibtische passen hinein. Hierhin können Menschen kommen, die mit der „Aufklärungsmaschine“ arbeiten wollen, aber zu Hause keine Möglichkeit dazu haben, erklärt Shishkin. Die Arbeit ist ehrenamtlich. An der Wand steht in großen kyrillischen Buchstaben „Russland ohne Putin.“
Ohne Wladimir Putin: Russland braucht eine demokratische Revolution
Für Natalja ist es der zweite richtige Tag als Teil der „Aufklärungsmaschine“. Sie habe Shishkin auf der Demonstration anlässlich des Todes von Alexej Nawalny in Berlin kennengelernt, erzählt die 19-Jährige, die aus Moskau stammt. Sie sei mit ihren Eltern, ebenfalls Oppositionelle, schon vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Mit Beginn des Ukraine-Krieges seien dann auch fast alle ihre russischen Freunde ausgewandert.
Dennoch fühlt sie sich ihrer Heimat verbunden: „Obwohl ich schon lange in Deutschland lebe, liegt es mir extrem am Herzen, was in Russland passiert, und ich wünsche mir natürlich für mein Land Frieden.“ Dafür sei es unbedingt nötig, dass Putin seine Macht verliert und es eine echte demokratische Revolution gibt.
Auch in Deutschland fühlen sich Putin-Gegner nicht immer sicher
Aktuell sei Russland mit der Welt aus George Orwells dystopischem Roman „1984“ zu vergleichen, sagt sie. Zurückkehren kann sie daher nicht, es ist nicht sicher. Und auch in Deutschland spürt sie manchmal die „langen Finger“ des Kremls. Etwa, wenn sie an den Mord im Berliner Tiergarten denkt, bei dem ein russischer Agent einen unliebsamen Tschetschenen ermordete, oder daran, wie sie bei einer Demonstration aus den Fenstern der russischen Botschaft gefilmt wurde.
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Dennoch empfindet sie eine Pflicht gegenüber ihrem Heimatland: „Wir sind hier in relativer Sicherheit und haben ein großes Privileg gegenüber den oppositionellen Russinnen und Russen in Russland und wir müssen hier tun, was wir können“, sagt sie. Wenn sie sich einmal unsicher fühle, denke sie daran, dass sie viele Mitstreiter hat: „Sie können uns nicht alle umbringen.“
Putin soll so hart sanktioniert werden, wie es nur geht
Von der Politik wünscht sie sich ein härteres Eingreifen. Europäische Politikerinnen und Politiker müssten Putin und das russische System „so hart sanktionieren, wie es nur geht“. Außerdem sollten die ukrainischen Streitkräfte die Waffenlieferungen bekommen, um die sie bitten, „weil die Ukraine gerade ganz Europa vor Russland schützt“.
Auch Shishkin stammt aus Moskau: „Die Aufklärungsmaschine hilft mir, die heutige Stimmung meines Heimatlandes besser zu verstehen“, erklärt er. Er vermisst sein Heimatland, eine Rückkehr kann er sich aber noch nicht vorstellen. Natalja geht es ähnlich. Ihre Zukunft planen die jungen Aktivisten in Deutschland, beide wollen in diesem Jahr ein Studium beginnen.
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