“Die EU steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte“. Das sagte EU-Kommissionschef José Manuel Barroso in einer Rede zur Lage der Nation.
Berlin. Der EU-Kommissionschef José Manuel Barroso äußerte sich besorgt um die Situation von Europa. Die EU stehe vor der „größten Herausforderung ihrer Geschichte“. Schuldenkrise, Wirtschaftskrise und Vertrauenskrise haben sie an den Scheideweg getrieben. Mit diesem alarmierenden Befund eröffnete EU-Kommissionschef José Manuel Barroso am Mittwoch seine mit Spannung erwartete Rede zur Lage der Union.
Barroso gab sich kämpferisch wie selten. Vor allem stemmt er sich energisch gegen den Plan in Berlin und Paris, eine Wirtschaftsregierung der Eurostaaten zu gründen: Alleingänge der Hauptstädte könnten „zum Tod des geeinigten Europas führen, so wie wir es wollen“, sagte er unter dem tosenden Beifall der europäischen Abgeordneten.
Doch den großen Wurf, wie die Gemeinschaft ihre existenziellen Probleme überwinden kann, den blieb der Kommissionschef in Straßburg ein weiteres Mal schuldig. Seine Kampfansage an Merkels Euro-Regierung ist zwar Balsam für die Straßburger Abgeordneten, die um ihre Marginalisierung fürchten. Aber wie die EU und die Eurozone von den europäischen Institutionen gerettet werden können, dazu machte Barroso allenfalls Andeutungen.
„Griechenland ist und bleibt Mitglied der Währungsgemeinschaft“, beteuerte er. Wenn das Land seine Sparauflagen erfülle, müssten die Europartner auch neue Kredite geben. Er stellte vage einen „breiteren Garantiemechanismus“ aus dem EU-Haushalt in Aussicht, damit Athens Banken der Wirtschaft wieder Kredite gewähren können. Und die Kommission arbeite an einer Möglichkeit, um dem Rettungsfonds EFSF zu mehr Feuerkraft zu verhelfen.
Angesichts des Streites unter den Euroländern, wie die Garantien des Fonds als Hebel eingesetzt werden können, ist der Kommissionsvorschlag längst überfällig. Als obersten Löschmeister sieht der Portugiese weiterhin die Europäische Zentralbank: Sie müsse „tun, was auch immer notwendig ist, um die Finanzstabilität der Eurozone zu bewahren“. Über den deutschen Widerstand gegen eine noch stärkere Rolle der EZB setzte er sich hinweg.
Immerhin gab Barroso nach langem Widerstand dem Druck aus Berlin und Paris nach und legte einen Gesetzesvorschlag für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer vor. Und der ist durchaus mutig: Schon 2014 sollen sämtliche Aktien- Anleihen- und Derivategeschäfte mit Abgaben belegt werden, ausgenommen bleibt der private Handel. Und um das Abwandern der Branche zu verhindern, soll das Sitzlandprinzip gelten: Besteuert werden alle Geschäfte, bei denen ein Partner aus Europa beteiligt ist.
Nachdem der Finanzsektor seit drei Jahren mit knapp fünf Billionen Euro durch die Krise gepäppelt wurde, müsse er jetzt seinen Beitrag leisten, erhoffte 57 Milliarden Euro jährlich, sagte Barroso. Die Stunde der Wahrheit für die Initiative wird aber schon bald kommen. Denn wenn Großbritannien seine Blockade nicht aufgibt, könnte die Steuer nur von den 17 Euroländern eingeführt werden.
Genau das ist einer der neuralgischen Punkte der EU-Krise: Die wichtigen Entscheidungen der Gemeinschaft können nur einstimmig getroffen werden. Barroso ist das bewusst: „Das Tempo unseres gemeinsamen Unternehmens darf nicht ewig von den Langsamsten diktiert werden“, sagte er. Sein Fazit: Um das zu ändern, „könnten weitere Vertragsänderungen notwendig sein“. Nur ist dafür eben Einstimmigkeit notwendig. Dass sich Vertragsänderungen so schnell umsetzen lassen, um rechtzeitig auf die dramatische Schuldenkrise zu reagieren, bleibt ein frommer Wunsch.
Gerade deswegen bauen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine Wirtschaftsregierung der 17 Eurostaaten auf. Nach Lage der Dinge führt daran kein Weg vorbei, als Etappe auf dem Weg zu einem neuen gemeinschaftlichen Fundament. Das sagt selbst der ausgewiesene EU-Fan und luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Die EU müsse Vorschläge machen, aber sie könne nicht entscheiden. Barrosos Selbstüberschätzung, dass „die EU-Kommission die Wirtschaftsregierung der EU ist“, hatte Juncker schon am Dienstag vor den Volksvertretern in Straßburg kühl zurückgewiesen.
Barroso geißelt Absprachen unter den Regierungen als Versuch, die Integration Europas zurückzudrehen. In Straßburg beschwor er das „Risiko der Renationalisierung und der Desintegration“, warnte gar vor dem „Tod des geeinigten Europas“. Er geht auf Konfrontation zu den Hauptstädten, und droht sich dadurch weiter ins Abseits zu manövrieren.