Nach 100 Tagen Amtszeit des FDP-Chefs Philipp Rösler kann noch nicht viel bilanziert werden, was der 38-Jährige abgeliefert hat.
Berlin. Was für eine Woche für FDP-Chef Philipp Rösler: Erst war Rösler am Mittwoch im Kabinett für 33 Minuten Kanzler, da sich Budneskanzlerin Angela Merkel im Urlaub befindet. Dann schaute er sich im wasserdichten Überlebensanzug eine Gas-Bohrinsel in der Nordsee vor Norwegen an. "Minister Cool“, schrieb die "Bild“ über das Foto. Die Lage der von Rösler, Daniel Bahr (Gesundheitsminister) und Christian Lindner (Generalsekretär) neu aufgestellten FDP aber ist alles andere als cool. Die Partei dümpelt in Umfragen unverändert bei drei bis fünf Prozent. Ob Atomausstieg oder Steuersenkungen, die Durchschlagskraft der Liberalen ist derzeit überschaubar.
Wer weiß, ob Rösler seine großen Worte vom 13. Mai auf dem Rostocker Parteitag heute noch einmal sagen würde: "Ab heute wird geliefert!“ Über 600 FDP-Mitglieder feierten ihn fast wie einen Heilsbringer und gaben ihm bei der Wahl zum Nachfolger von Guido Westerwelle 95,1 Prozent.
Dem 38-Jährigen war es mit einer fulminanten Bewerbungsrede gelungen, der zum Ende der zehnjährigen Westerwelle-Ära fast gelähmt wirkenden Partei einen neuen Sound zu geben: kein erhobener Zeigefinger mehr, keine Stakkato-Sätze und keine Basta-Rufe.
Wer aber nun - zur 100-Tage-Bilanz (Stichtag: 21. August) - auf Röslers Lieferschein schaut, findet noch nicht allzu viel. Näher am Menschen wollte die neue FDP sein - für Bürgerrechte, Bildung und solide Staatsfinanzen kämpfen, statt sich auf die Steuerpolitik zu versteifen, kündigte der Neue an.
Ein Kurswechsel jedoch braucht Zeit. Rösler und seine Mitstreiter wollten den "lucky punch“, der im Boxen mit einem Schlag den K.O.-Sieg bringt. Das zentrale Wahlversprechen von 2009 musste erfüllt werden. Auf Biegen und Brechen sollte vor der Sommerpause eine Vorentscheidung für die steuerliche Entlastung der unteren Mittelschicht erzwungen werden. An sich ein Projekt, gegen das sich kein Arbeitnehmer wehren würde. Doch der Zeitgeist tickt schon länger anders. Europas Schuldenkrise ängstigt die Bürger, die um den Wert ihres Geldes fürchten.
Weil die Euro-Rettung für Deutschland wohl immer teurer wird, dürfte das von den Koalitionsspitzen verabredete Steuerpaket am Ende sehr klein oder gleich ganz ausfallen. "Wir gehen in diesem Punkt wahrscheinlich mit einem kleinen Minus heraus“, heißt es dazu leicht beschönigend aus der Parteispitze.
In der Europa-Frage wächst die Unruhe in der FDP. Rösler hat schon viele Stunden mit Übervater Hans-Dietrich Genscher kontrovers über den Kurs diskutiert. Als Anwalt der Steuerzahler wollen die Freidemokraten eine Transferunion verhindern. Einige würden dafür notfalls die Koalition platzen lassen. Sie argwöhnen, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ohnehin längst Zukunftspläne mit SPD oder Grünen schmiedet.
Die Parteispitze ist realistisch. Ein Ausstieg aus Schwarz-Gelb wäre aktuell ein Himmelfahrtskommando. Am Ende dürfte der FDP nichts anderes übrigbleiben, als der Merkel-Linie zu folgen. Andere Themen zur Profilierung fallen nicht vom Himmel. Datenschutz und Innere Sicherheit betreffen Millionen, sind aber schwer vermittelbar. Bei der Bildung mischen alle mit. Der Fachkräftemangel ist akut, aber nicht sexy.
Bei den Landtagswahlen im September in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern droht die FDP laut Umfragen die 5-Prozent-Hürde zu reißen. Als entscheidende Wegmarke für Rösler gilt Schleswig-Holstein im Mai 2012. In Kiel hat die Partei eine Regierungsbeteiligung zu verlieren. Fliegt man dort aus dem Landtag, könnte sich der Burgfrieden zwischen den Traditionalisten um Fraktionschef Rainer Brüderle und den Erneuerern um Rösler als äußerst brüchig erweisen.